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Also schickten wir vier uns am nächsten Tag an, den Lho La zu besteigen, und hatten es schnell mit einer der gefährlichsten Klettertouren zu tun, die ich je mitgemacht habe. Sie war nicht in technischer Hinsicht so schwierig — die Engländer hatten an den härtesten Stellen Leitseile zurückgelassen, was die Sache beträchtlich vereinfachte. Aber es war trotzdem gefährlich, denn wir stiegen einen Eisfall hinauf, das heißt, einen steil geneigten Gletscher.

Nun ist ein Gletscher ein Eisbach, wie Sie wissen, und fließt wie seine flüssigen Vettern immer abwärts. Er fließt wesentlich langsamer, aber vernachlässigen darf man diesen Faktor nicht, besonders nicht, wenn man auf einem steht. Dann hört man oft ein Krachen und Stöhnen, einen plötzlichen Knall oder ein Donnern, und man kommt sich vor, als stünde man auf dem Rücken eines Lebewesens.

Wenn so ein Gletscher einen Hügel hinabrollt, beschleunigt sich das alles noch; aus dem Lebewesen wird ein Drache. Das Eis des Gletschers bricht in gewaltige Blöcke und Scherben auf, die sich gleichmäßig bewegen, dann auf einem Kamm oder einer Klippe zu liegen kommen, hinabstürzen und zerbrechen oder aufreißen und tiefe Spalten enthüllen. Als wir uns den Weg durch das Labyrinth des Lho La-Eisfalls hinaufbahnten, bewegten wir uns ständig unter Eisblöcken, die schon ewig dort zu liegen schienen, in Wirklichkeit aber sehr unstabil waren — sie würden irgendwann im nächsten oder übernächsten Monat hinabstürzen. Ich bin kein Experte, was die Wahrscheinlichkeitstheorie betrifft, aber mir gefiel es trotzdem nicht.

»Freds«, beklagte ich mich, »du hast gesagt, das sei ein Kinderspiel.«

»Ist es auch«, sagte er. »Sieh doch, wie schnell wir vorankommen.«

»Aber nur, weil wir eine Todesangst haben.«

»Ach ja? He, das sind doch höchstens fünfundvierzig Grad oder so.«

Steiler kann ein Eisfall nicht werden, denn sonst würde das Eis sofort und geschlossen bergabwärts stürzen. Selbst der berühmte Khumbu-Eisfall, auf den wir nun zu unserer Rechten eine phantastische Aussicht hatten, ist nur etwa dreißig Grad steil. Der Khumbu-Eisfall ist ein unvermeidlicher Teil der Standardroute zum Everest und der bei weitem gefürchtetste Abschnitt; dort sind mehr Menschen gestorben als irgendwo sonst auf dem Berg. Und der Lho La ist schlimmer als der Khumbu!

Also fand ich ein paar angemessene Worte über unsere Lage, während wir in der Tat sehr schnell weiterkletterten, und mit den meisten davon wußte Laure nichts anzufangen. »Toll, Freds«, rief ich ihm zu. »Wirklich ein echtes Kinderspiel!«

»Auf jeden Fall jede Menge Zuckerguß«, sagte er und kicherte. Und das unter einer Wand, die ihn plattmachen würde wie Wile E. Coyote aus diesen Zeichentrickfilmen, falls sie fallen sollte. Ich schüttelte den Kopf.

»Was meinst du?« sagte ich zu Laure.

»Sehr schlecht«, sagte Laure. »Sehr schlecht, sehr gefährlich.«

»Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?«

»Was immer du wollen.«

Wir beeilten uns.

Nun mag ich das Bergsteigen fast so sehr wie alle anderen hier auch, aber ich will nicht behaupten, daß es eine besonders vernünftige Tätigkeit ist. Besonders an jenem Tage hätte ich diese Behauptung nicht erhoben. Nun ja, es gibt solche und solche Gefahren. In der Tat treffen Bergsteiger eine Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Gefahren. Objektive Gefahren sind zum Beispiel Lawinen, Steinschlag und Stürme, Ereignisse, an denen man nichts ändern kann. Subjektive Gefahren sind jene, denen man sich durch menschliche Fehler aussetzt — man schlägt ein schlechtes Loch, vergißt, ein Seil zu sichern, und so weiter. Sie verstehen — wenn man absolut vorsichtig vorgeht, kann man alle subjektiven Gefahren vermeiden. Und wenn man die subjektiven Gefahren eliminiert hat, hat man es nur noch mit den objektiven Gefahren zu tun. Sie sehen also, daß Bergsteigen eine sehr rationale Angelegenheit ist.

An diesem Tag befanden wir uns jedoch inmitten einer ganzen Wand objektiver Gefahren, und das machte mich nervös. Wir verfuhren wie üblich in solch einem Fall, was heißt, daß wir uns höllisch beeilten. Wir vier stürmten praktisch den Lho La hinauf. Freds, Kunga und Laure waren äußerst stark und schnell, und ich war auch einigermaßen in Form; außerdem verfügte ich über den Vorteil eines höheren Adrenalinausstoßes, als ihn weniger phantasievolle Menschen haben. Also stellten wir einen neuen Rekord auf.

Dann passierte es. Freds war neben mir, hing mit Kunga Norbu an einem Seil, und Kunga war die volle Länge des Seils entfernt — etwas zwanzig Meter — und führte uns um einen Quergang herum, der unter einer riesigen Eiszacke verlief, wie man die blauen Eisvorsprünge nennt, die, oft in Gruppen, aus einem Eisfall hervorragen. Kunga war direkt unter dieser Eiszacke, als sie ohne die geringste Warnung abbrach, hinabstürzte und in tausend Stücke zersplitterte.

Ich hatte instinktiv tief eingeatmet und wollte gerade schreien, als Kunga Norbu gegen meinen Ellbogen prallte und mich fast hinabgestoßen hätte. Er war zwischen Freds und mir eingekeilt, und das Seil, das sie zusammenhielt, schlug zwischen unseren Beinen hin und her.

Beim Versuch, meinen Schrei zu ersticken, würgte ich, rang nach Atem und würgte erneut. Freds schlug mir auf den Rücken, um mir zu helfen. Kunga war eindeutig da, stand vor uns, greifbar und körperlich. Und doch war er unter der Eiszacke gewesen! Die zerbrochenen Eisstücke lagen frisch und glänzend in der Nachmittagssonne vor uns verstreut. Der Block war ohne das geringste Zittern, ohne jede Warnung, abgebrochen und hinabgestürzt — Kunga war einfach keine Zeit geblieben, um noch unter ihm hervorzukommen.

Freds sah meinen Gesichtsausdruck und grinste schwach. »Der alte Kunga Norbu ist ziemlich schnell, wenn es sein muß.«

Aber das reichte mir nicht. »Ga gor nee«, sagte ich — und dann zogen Freds und Kunga mich hoch. Laure eilte zu uns hinauf, die Augen groß vor Besorgnis.

»Sehr schlecht«, sagte er.

»Gar«, versuchte ich und kam nicht weiter.

»Schon gut, schon gut«, sagte Freds und umfaßte mein Gesicht mit seinen Handschuhen. »He, George. Entspanne dich.«

»He«, bekam ich heraus, deutete auf die Überreste der Eiszacke und dann auf Kunga.

»Ich weiß«, sagte Freds stirnrunzelnd. Er wechselte einen Blick mit Kunga, der mich ungerührt beobachtete. Sie sprachen auf Tibetanisch miteinander. »Hör zu«, sagte Freds. »Steigen wir über den Paß, und dann erkläre ich es dir. Es wird eine Weile dauern, und es bleibt uns nicht mehr so viel Tageslicht. Außerdem müssen wir einen Weg um diese Eiswürfel finden, damit wir den Leitseilen folgen können. Komm schon, Kumpel.« Er gab mir einen Klaps auf den Arm. »Konzentriere dich. Bringen wir’s hinter uns.«

Also kletterten wir weiter, und Kunga führte so schnell wie zuvor. Ich stand jedoch noch immer unter Schock und sah ständig vor mir, wie die Eiszacke mit Kunga darunter zusammenbrach. Er konnte ihr einfach nicht entkommen sein! Und doch war er dort oben vor uns und kletterte die Leitseile hinauf wie ein Affe eine Palme.

Es war ein Wunder. Und ich hatte es gesehen. Ich hatte verdammte Schwierigkeiten, mich den Rest des Tages über auf das Klettern zu konzentrieren.

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