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Ich sah Freds und Kunga Norbu in Namche Bazaar nicht mehr und vermutete, daß sie schon mit Freds’ englischen Freunden aufgebrochen waren; wahrscheinlich würde ich sie erst in der Nähe ihres Basislagers wiedersehen, denn ich wollte mit meiner Gruppe ein paar Tage in Namche bleiben, damit sie sich akklimatisieren und die Stadt genießen konnte. Namche ist die Hauptstadt der Sherpas, und eine dramatisch gelegenere Stadt kann man sich kaum vorstellen; sie kauert auf einem Vorgebirge über dem Zusammenfluß des Dudh Kosi und des Bhote Kosi, und die Flüsse liegen etwa anderthalb Kilometer tiefer in steilen grünen Schluchten, während weiße Gipfel sich überall um sie herum fast zwei Kilometer hoch auftürmen. Die Stadt selbst ist ein hufeisenförmiger Ring aus steinernen Gebäuden und steinernen Straßen, auf denen sich Sherpas, Trekker, Bergsteiger und Händler drängen, die zum wöchentlichen Markt kommen.

Hier kann man einiges erleben, und ich war vollauf beschäftigt; ich vergaß Freds und die Engländer völlig und war daher ziemlich überrascht, als ich ihnen in Pheriche über den Weg lief, einem Hochgebirgsdorf der Sherpas.

Die meisten dieser hochgelegenen Dörfer sind nur im Sommer bewohnt; die Einheimischen pflanzen dort Kartoffeln an und weiden Yaks. Pheriche jedoch liegt an der Trekkingroute zum Everest, und so ist es fast das ganze Jahr über bewohnt, und man hat dort ein paar Lodges errichtet und die einzige Hilfsstation der Himalayan Rescue Association. Es sieht noch immer wie ein Sommerdorf aus: niedrige Felswände trennen Kartoffelfelder voneinander ab, und ein paar Steinhäuser mit Schindeldächern sowie die Lodges und Baracke der Hilfsstation mit ihrem Blechdach. Das alles drängt sich am Ende eines flachen Gletschertals zusammen, auf einer einhundertundfünfzig Meter hohen Seitenmoräne. Ein Fluß schlängelt sich daran vorbei, und der Boden ist mit Gräsern und dem hellen Herbstrot der Berberitzensträucher bedeckt. Auf allen Seiten türmen sich die phantastischen weißen Spitzen einiger der eindrucksvollsten Gipfel der Erde auf — Ama Dablam, Taboche, Tramserku, Kang Taiga; und alles in allem ist es schon ein toller Ort. Meine Kunden überschlugen sich, um alles zu filmen.

Wir errichteten unser Zeltdorf auf einem unbenutzten Kartoffelfeld, und nach dem Abendessen taten Laure und ich uns dadurch, um im Himalaya Hotel ein paar Chang zu trinken. Ich betrat die kleine Küche der Lodge und hörte Freds »He, George!« rufen. Er saß mit Kunga Norbu und vier Touristen zusammen; wir gesellten uns zu ihnen und drängten uns um einen kleinen Tisch. »Das sind die Freunde, mit denen wir klettern.«

Er stellte sie vor, und wir schüttelten uns die Hände. Trevor war ein großer, schlanker Bursche mit einer Brille mit runden Gläsern und einem ziemlich irren Grinsen. »Mad Tom«, wie Freds ihn nannte, war klein, hatte einen Lockenkopf und sah ganz und gar nicht verrückt aus, obwohl etwas an seiner ruhigen Art einen schon glauben machen konnte, daß er es war. John war klein und kompakt, mit einem schon angegrauten Bart und einem kräftigen Händedruck. Und Marion war eine große und ziemlich attraktive Frau, obwohl sie wahrscheinlich errötet wäre oder einen freundlich geknufft hätte, wenn man es ihr gesagt hätte — attraktiv auf eine grobe, ungestüme Art, mit einem starken, strengen Gesicht und dichtem braunem, zurückgekämmtem und geflochtenem Haar. Sie waren Engländer, was man auch sofort an ihrem Akzent merkte: Marion und Trevor ziemlich elegant — Privatschule —, und John und Mad Tom sehr breit und aus Nordengland.

Wir bestellten Chang, und sie erzählten mir von ihrer Kletterpartie. Der Lingtren, ein steiler Gipfel zwischen dem Pumori und dem westlichen Ausläufer des Himalaja, ist ein ziemliches Stück Arbeit, von welcher Seite man ihn auch angeht, und sie waren auf ihre eigene Art ganz aus dem Häuschen: »War schon ein ganz schöner Brocken, um die Wahrheit zu sagen«, meinte Trevor fröhlich.

Wenn englische Bergsteiger über das Bergsteigen sprechen, muß man wissen, wie man ihre Worte zu übersetzen hat. »Ein ganz schöner Brocken« bedeutet: meidet den Berg.

»Ich meine, wir sollten statt dessen den Pumori ersteigen«, sagte Marion. »Der Lingtren ist ein perfekter Hügel.«

»Also wirklich, Marion.«

»Kommt sowieso nicht gegen den Preis für den Lingtren an«, sagte John.

Er bezog sich auf die Gebühr, die die nepalesische Regierung von den Bergsteigern für das Recht erhebt, den Gipfel zu besteigen. Diese Gebühren richten sich nach der Höhe des zu besteigenden Gipfels — die wirklich hohen Berge sind überaus kostspielig. Sie berechnet einem für den Everest zum Beispiel über fünftausend Dollar, und trotzdem wetteifern jede Menge Leute darum, auf die lange Warteliste zu kommen. Aber einige der schwierigsten Gipfel in Nepal sind im Vergleich zu den Riesen nicht besonders hoch und kommen ziemlich billig. Anscheinend gehörte der Lingtren dazu.

Wir beobachteten die Sherpani, die in der Küche der Lodge Abendessen für fünfzig Personen kochte, und zwar unter den starren Blicken der Gäste, die hungrig jede ihrer Bewegungen verfolgten. Dazu hatte sie einen kleinen Holzofen zur Verfügung (mit Kamin, Gott sei dank), einen Berg Kartoffeln, Nudeln, Reis, ein paar Eier und Kohlköpfe und mehrere changtrunkene Träger als Helfer, die abwechselnd Geschirr spülten oder große Brocken Yakmist für das Feuer zerbrachen. Auf den ersten Blick eine schwierige Aufgabe, doch die Sherpani war ganz gelassen: sie kochte die ganze Liste der Bestellungen aus dem Gedächtnis, schnitt Kartoffeln in Scheiben und warf sie in eine Pfanne, legte Holz nach, warf zwanzig Pfund Nudeln durch die Luft, als seien sie nur ein Pfannkuchen — und das alles mit der Sicherheit und Großtuerei eines erfahrenen Jongleurs. Sie hatte eine geniale Begabung.

Als zwei Stunden später die Gäste, die die Gerichte bestellt hatten, die in ihrer strengen Reihenfolge zum Schluß kamen, ihre Kohlomelettes auf Pommes frites bekamen, leerte sich die Küche bereits; die ersten Gäste gingen zu Bett. Wir anderen machten es uns bei mehr Chang und Geplauder gemütlich.

Dann kam ein Trekker in die Küche zurück, damit er sein Kurzwellenradio hören konnte, ohne die Schläfer im einzigen Schlafsaal der Lodge zu stören. Er sagte, er müsse die Nachrichten hören. Wir alle starrten ihn ungläubig an. »Ich muß wissen, was der Dollar macht«, erklärte er. »Habt ihr gewußt, daß er letzte Woche um acht Prozent gefallen ist?«

Man trifft alle möglichen Leute in Nepal.

In der Tat ist es im Himalaja sehr interessant, die Kurzwelle zu hören, denn je nachdem, wie es um die Ionosphäre steht, bekommt man fast alle Sender herein. An diesem Abend hörten wir zum Beispiel die Stimme des Syrischen Volkes und ein paar Popsängerinnen aus Bombay, die die Träger wirklich anmachten. Dann schaltete der Radiobesitzer die BBC-Weltnachrichten ein, was nicht ungewöhnlich war — sie kamen vielleicht aus Hongkong, Singapur, Kairo oder sogar London selbst.

Im statischen Rauschen war die gebildete Stimme des Sprechers kaum verständlich. »… britische Everest-Expedition von 1986 ist jetzt auf dem Rongbuk-Gletscher in Tibet und wird im Verlauf der beiden nächsten Monate der historischen Route folgen, die die Expeditionen der zwanziger und dreißiger Jahre eingeschlagen haben. Unser Korrespondent der Expedition berichtet …« Und dann war die Stimme kaum noch verständlich und ertrank im Rauschen: «… wichtigstes Ziel der Expedition, die Leichen von Mallory und Irvine, die 1924 zum letzten Mal in der Nähe des Gipfels gesehen wurden … knister, summ … Chancen beträchtlich verbessert durch Gespräche mit einem Teilnehmer der chinesischen Expedition, die angeblich 1980 auf der Nordwand eine Leiche gesehen hat … bzzzzkrkrkr! … Beschreibung des Fundortes sssssssss … Schneegrenze dieses Jahr sehr tief, und alle Betroffenen halten die Erfolgsaussichten für sssskrkssss.« Die Stimme ging in einem ohrenbetäubenden Rauschen unter.

Trevor musterte uns mit gerunzelter Stirn. »Habe ich richtig gehört, daß sie nach Mallorys und Irvines Leichen suchen wollen?«

Ein Ausdruck tiefen Schreckens legte sich auf Mad Toms Gesicht. Marion rümpfte die Nase, als ob das Chang sich in tibetanischen Tee verwandelt hätte. »Ich kann es nicht glauben.«

Ich wußte es damals noch nicht, aber das erwies sich für Freds als unerwartete Gelegenheit, seinen Plan vorzeitig in die Tat umzusetzen. »Habt ihr nicht davon gehört?« sagte er. »Kunga Norbu ist genau wegen der Besteigung hier, von der sie gesprochen haben, wegen der, die 1980 auf der Nordwand eine Leiche gesehen hat.«

»Ach ja?« sagten wir alle.

»Ja, ehrlich. Kunga hat an der chinesischen Expedition 1980 zum Nordsattel teilgenommen und suchte nach einem direkten Weg zur Nordwand, als er eine Leiche sah.« Freds sprach auf Tibetanisch mit Kunga Norbu, und Kunga nickte und antwortete ausführlich. Freds übersetzte für ihn: »Er sagt, es sei ein Abendländer gewesen, und er hätte eindeutig schon lange dort gelegen. Hier, er sagt, er kann es auch auf einem Foto zeigen …« Freds holte seine Brieftasche hervor und zog ein Papierknäuel hervor. Auseinandergefaltet erwies es sich als mitgenommenes Schwarzweiß-Foto des Everest, von der tibetanischen Seite aus gesehen. Kunga Norbu betrachtete es lange, sprach mit Freds darüber, ließ sich — dann von Freds einen Kugelschreiber geben und malte sorgfältig einen Kreis auf das Foto.

»Warum hat er die halbe Nordwand eingekreist?« fragte John. »Das ist doch völlig sinnlos.«

»Nee«, sagte Freds. »Sieh doch, es ist ein ganz kleiner Kreis.«

»Es ist auch ein kleines Foto, oder?«

»Na ja, er kann die Stelle genau beschreiben — sie ist da oben auf der Spitze des Schwarzen Rings. Auf jeden Fall ist es jemandem gelungen, eine Expedition zusammenzustellen, die nach den Leichen suchen soll. Nun ist Kunga letztes Jahr nach Nepal geflohen, so daß diese Expedition mit Informationen aus zweiter Hand von seinen Kletterfreunden auskommen muß. Aber das könnte reichen.«

»Und wenn sie die Leichen finden?«

»Ich glaube, sie haben vor, sie mit runterzunehmen, nach London zu verschiffen und in der Winchester Cathedral zu begraben.«

Die Engländer starrten ihn an. »Du meinst, Westminster Abbey?« fragte Trevor.

»Ach ja, richtig, die beiden verwechsle ich immer. Auf jeden Fall haben sie das vor, und sie wollen einen Film daraus machen.«

Ich stöhnte bei dem Gedanken auf. Noch mehr Video.

Die vier Engländer stöhnten lauter als ich. »Das ist wirklich abscheulich«, sagte Marion.

»Widerlich«, pflichteten John und Mad Tom ihr bei.

»Eine Travestie, nicht wahr?« sagte Trevor. »Ich meine, wenn überhaupt jemand dort oben hingehört, dann diese beiden. Das ist nichts anderes als Grabschändung!«

Und seine drei Gefährten nickten. Auf einer Ebene scherzten sie und täuschten ihren Zorn nur vor; doch darunter meinten sie es todernst. Sie meinten, was sie sagten.

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