Na schön. Wir hatten unsere Mission vollbracht, Mallory ruhte für alle Zeiten sicher auf dem Everest, wir hatten eine überraschend bewegende Andacht gehalten, und zumindest ich war sehr zufrieden. Doch als wir wieder im Lager waren, benahmen Freds und Kunga sich plötzlich sehr seltsam. Laure hatte das Zelt und unsere Rucksäcke ausgepackt und für uns zurückgelassen, und nun packten Freds und Kunga schnell alles wieder zusammen.
Ich sagte etwas dahingehend, daß man von Mallorys letzter Ruhestätte doch eine hervorragende Aussicht habe, und Freds sah mich an und meinte: »Na ja, es gibt noch eine Aussicht, die ein klein wenig besser ist.« Und er fuhr damit fort, fieberhaft zu packen. »Ich wollte sowieso mal mit dir darüber sprechen«, sagte er dabei. »Ich meine, nun sind wir schon mal hier, oder? Ich meine, hier sind wir nun.«
»Ja«, sagte ich. »Hier sind wir nun.«
»Ich will damit sagen, hier sind wir fast auf achteinhalbtausend Metern auf dem Everest. Und wir haben erst Mittag, und es ist ein parfekter Tag. Ja, wirklich, ein absolut perfekter Tag. Man könnte sich keinen schöneren Tag vorstellen.«
Ich begriff, worauf er hinauswollte. »Nichts da, Freds.«
»Na, komm schon! Jetzt sei nur nicht vorschnell, George! Wir haben alle schweren Teile hinter uns, und von hier aus bis zum Gipfel ist es nur noch ein Spaziergang!«
»Nein«, sagte ich entschlossen. »Wir haben keine Zeit. Und wir haben nicht genug Vorräte. Und wir können dem Wetter nicht vertrauen. Es ist zu gefährlich!«
»Zu gefährlich! Die ganze Bergsteigerei ist zu gefährlich, George, aber mir ist noch nie aufgefallen, daß dich das schon mal gestört hat. Denk doch mal nach, Mann! Das ist kein gewöhnlicher Berg, das ist kein Rainier oder Denali, das ist der Everest. Sagarmatha! Chomolungma! Der große E! War es nicht schon immer dein geheimer Wunsch, den Everest zu besteigen?«
»Naja … nein. Ist es nie gewesen.«
»Ich glaube dir nicht! Meiner ist es ganz bestimmt, das kann ich dir flüstern! Und deiner ist es auch.«
Die ganze Zeit über, während wir uns stritten, ignorierte Kunga Norbu uns, wühlte in seinem Rucksack und warf verschiedene überflüssige Gegenstände heraus.
Freds setzte sich neben mich und zeigte mir den Inhalt seines Rucksacks. »Ich habe unsere Schlafsäcke, den Gaskocher, einen Topf, Suppe, Zitronenkonzentrat, genug Vorräte, und hier ist meine Schneeschaufel; wir können also überall unser Zelt aufschlagen. Alles, was wir brauchen.«
»Nein.«
»Sieh her, George.« Freds nahm seine Schneebrille ab und sah mir in die Augen. »Es war ja ganz nett, Mallory zu begraben und so, aber ich muß dir sagen, daß Kunga Lama und mich ein … hm … tieferliegender Grund hierher geführt hat. Wir haben uns den Engländern bei ihrer Lingtren-Besteigung angeschlossen, weil ich von dieser Mallory-Expedition aus dem Norden gehört hatte. Ich hatte von Anfang an vor, ihnen davon zu erzählen, unser Foto zu zeigen, zu behaupten, daß Kunga der Bursche sei, der 1980 Mallorys Leiche gesehen habe, und vorzuschlagen, daß sie ihn verstecken.«
»Du meinst, Kunga hat Mallorys Leiche gar nicht gesehen?« fragte ich.
»Nein, hat er nicht. Das habe ich erfunden. Der chinesisehe Bergsteiger, der hier oben eine Leiche gesehen hat, starb ein paar Jahre später. Also ließ ich Kunga nur das grobe Gebiet einzeichnen, wo der Chinese ihn gesehen haben wollte. Deshalb war ich so überrascht, als wir den Burschen tatsächlich fanden! Obwohl es einem ja schon der gesunde Menschenverstand verraten müßte, wenn man sich die Nordwand ansieht — nur der Schwarze Ring hätte ihn aufhalten können.
Ich habe also gelogen und auch vorgeschlagen, wir sollten die Hornbein-Schlucht hinauf und die Leiche suchen, als Arnold sich an die Engländer hängte, weil ich hoffte, wir würden Zeit und Gelegenheit finden, zum Gipfel hinaufzusteigen, wenn das Wetter mitspielt. Wir beide haben einfach darauf gehofft, Mann, und hier sind wir nun. Wir haben alles geplant, Kunga und ich haben alles vorbereitet — wir haben alle Vorräte, die wir brauchen, und wenn wir nach der Gipfelbesteigung unser Zelt auf dem Südgipfel aufschlagen müssen, können wir über den Südöstlichen Sattel hinabsteigen, uns zum indischen Armeeteam durchschlagen und zum Basislager bringen lassen. Das ist die Yakroute, und die ist völlig problemlos.«
Er atmete ein paar Mal durch. »Und hör zu. Kunga Lama hat mystische Gründe, um dort hinaufzusteigen. Es hat mit seinem langjährigen Guru Dorjee Lama zu tun. Weißt du noch, daß ich dir in Chimoa erzählt habe, Dorjee Lama habe Kunga Norbu eine Aufgabe gestellt, die er lösen müsse, bevor das Kloster bei Kum-Bum wieder aufgebaut werde und Kunga endlich selbst ein Lama werden kann? Nun — die Aufgabe lautete, den Chomolungma zu besteigen! Dieser alte Mistkerl hat zu Kunga gesagt, besteige den Chomolungma, und alles kommt in Ordnung! Er hat sich wohl gedacht, daß er damit einen Schüler haben würde, der auf dieser Seite vom Nirwana noch mal soviele Reinkarnationen durchlaufen muß. Aber er hat nicht damit gerechnet, daß sich Kunga Norbu mit seinem alten Schüler Freds Fredericks und dessen Kumpel George Fergusson zusammentut!«
»Augenblick mal«, sagte ich. »Ich verstehe ja, daß es dir wirklich ernst damit ist, und das respektiere ich auch, aber ich komme nicht mit.«
»Wir brauchen dich, George! Außerdem steigen wir auf jeden Fall hinauf, und wir können dich wirklich nicht allein die Westseite hinabsteigen lassen — das wäre gefährlicher, als wenn du mit uns kommst! Und wir besteigen den Gipfel, also mußt du mitkommen, so einfach ist das!«
Freds hatte so schnell und nachdrücklich gesprochen, daß er völlig außer Atem war; er deutete mit der Hand auf Kunga Norbu. »Sprich du mit ihm«, sagte er zu Kunga und sagte dann etwas auf Tibetanisch, zweifellos eine Wiederholung seiner Bitte.
Kunga Norbu zog seine Schneebrille hoch und sah mich sehr ernst an. Er wirkte etwas traurig; es war jener Ausdruck, wie man ihn sieht, wenn man sich weigert, für die Heilsarmee zu spenden. Seine schwarzen Augen sahen wie immer direkt durch mich hindurch, und im strahlenden Sonnenlicht in dieser Höhe pulsierten seine Pupillen irgendwie, hin und her, hin und her, hin und her. Und ich will verdammt sein, wenn dieser alte Mistkerl mich nicht hypnotisiert hat. Doch, ich glaube schon.
Aber ich kämpfte dagegen an. Ich stellte plötzlich fest, daß ich meinen Rucksack packte und meine Steigeisen überprüfte, ob sie auch wirklich fest waren, und gleichzeitig rief ich Freds zu: »Freds, sei vernünftig! Niemand steigt ohne Unterstützung einfach so den Everest hinauf! Das ist zu gefährlich!«
»He, Messner hat’s getan. Messner kletterte in zwei Tagen vom Nordsattel hinauf, und nur seine Freundin wartete unten im Basislager auf ihn.«
»Du kannst Reinhold Messner nicht als Beispiel nehmen«, rief ich. »Messner ist verrückt.«
»Nee. Er ist nur zäh und schnell. Und das sind wir auch. Es wird kein Problem sein.«
»Freds, eine Everestbesteigung wird allgemein als Problem angesehen.« Aber Kunga Norbu hatte den Rucksack geschultert und ging den Hang über unserem Lager hinauf, und Freds folgte ihm, und ich folgte Freds. »Und ein ganz großes Problem ist«, rief ich, »daß wir keinen Sauerstoff haben.«
»Heutzutage wird er ständig ohne Sauerstoff bestiegen.«
»Ja, aber man muß teuer dafür bezahlen. Man bekommt da oben nicht genug Sauerstoff, und es sterben unglaublich viele Gehirnzellen ab! Wenn wir da raufgehen, werden wir bestimmt Millionen von Gehirnzellen verlieren!«
»Na und?« Er sah die Berechtigung des Einwandes nicht ein.
Ich stöhnte auf. Wir stiegen weiterhin den Hang hinauf.