Wir waren noch nicht lange oben, als ich schon wieder das Problem des Abstiegs in Betracht zog. Es war nicht mehr viel vom Tag übrig, und wir waren von jedem trauten Heim weit entfernt. »Was nun?«
»Ich glaube, wir steigen besser zum Südgipfel hinab und graben uns für die Nacht eine Schneehöhle. Weiter schaffen wir es nicht, und das haben Haston und Scott 1975 auch getan. Es hat bei ihnen geklappt, und auch bei ein paar anderen Gruppen.«
»Na schön«, sagte ich. »Dann mal los.«
Freds sagte etwas zu Kunga, und wir machten uns an den Abstieg. Augenblicklich stellte ich fest, daß die südöstliche Seite nicht so breit oder flach wie die westliche war. In der Tat stiegen wir eine Art schneebedeckten, messerscharfen Grat hinab, aus dem häßliche graue Felsen hinausstachen. Das also war die Yakroute! Wir brauchten eine verdammt harte Stunde, um auf den Südgipfel hinabzusteigen, und wir schafften es nur, weil wir ununterbrochen bergab kletterten.
Der Südgipfel ist ein großer Vorsprung im südöstlichen Grat, der aus einer Art Höcker — dem Nebengipfel — und einem flachen Stück besteht. Hier fanden wir einen breiten Hang aus sehr tiefem, festem Schnee — perfekte Bedingungen für eine Schneehöhle.
Freds holte seine kleine Aluminiumschaufel aus dem Rucksack und machte sich wie ein Hund, der einen Knochen sucht, ans Graben. Ich begnügte mich damit, mich zu setzen und ihm zuzusehen. Kunga Norbu stand da und betrachtete die schier unendliche Ausdehnung der Gipfel; er wirkte etwas benommen. Ein- oder zweimal brachte ich die Kraft auf, Freds abzulösen. Nachdem wir einen körpergroßen Einstieg gegraben hatten, gaben wir uns mit einer Höhle zufrieden, die gerade groß genug war, um uns drei aufzunehmen. Sie erinnerte mich etwas an einen Sarg für Drillinge.
Die Sonne ging unter, Sterne kamen hervor, das Zwielicht wurde mitternachtsblau; dann war Nacht. Und es wurde sehr, sehr kalt. Freds erklärte, die Höhle sei fertig, und ich kroch zu ihm und Kunga hinein und fühlte dabei, wie Schneekörner unter mir knirschten. Wir schlugen mit den Köpfen zusammen und ordneten unsere Schlafsäcke so an, daß wir in einem kleinen Kreis saßen, auf einem groben Sims über unserem Eingangstunnel, in einer fast kreisrunden Kammer. Wenn ich vornübergebeugt saß, blieben mir über dem Kopf noch drei Zentimeter Platz. »Na schön«, sagte Freds müde. »Machen wir eine Party.« Er nahm den Gaskocher aus seinem Rucksack, hielt ihn eine Weile in den Fäustlingen, um das Gas darin zu erwärmen, stellte ihn dann in der Mitte zwischen uns auf den Schnee und zündete ihn mit seinem Feuerzeug an. Der blaue Schimmer war blendendhell, das Zischen ohrenbetäubend. Wir zogen unsere Fäustlinge aus und legten unsere Hände darüber, so daß kaum noch Platz zwischen der Flamme und unserer Haut blieb. Allmählich erwärmte sich unsere Höhle etwas.
Ihnen kommt es vielleicht seltsam vor, daß sich eine Schneehöhle überhaupt erwärmen kann, doch vergessen Sie nicht, daß wir hier von relativen Temperaturen sprechen. Draußen war es etwa fünfundzwanzig Grad unter Null. Dazu der Wind und die Höhe, in der es so wenig Sauerstoff gibt, und man stirbt. In der Höhle jedoch gab es keinen Wind. Der Schnee selbst ist gar nicht so kalt, und er ist ein hervorragender Isolator: er erwärmt sich, wird an der Oberfläche sogar feucht, und auch das Wasser hält die Wärme hervorragend. Dazu noch einen auf Hochtouren laufenden Gaskocher und drei Körper, die ihre sechsunddreißig Grad Körpertemperatur abgeben, und selbst mit dem Loch nach draußen steigt die Temperatur leicht auf über null Grad. Das ist noch kälter als in einem Eisschrank, aber im Vergleich zu den fünfundzwanzig Grad minus draußen ist es das reinste Strandwetter.
Also waren wir zuerst richtig zufrieden in unserer kleinen Höhle. Freds scharrte etwas Schnee von den Wänden in seinen Topf und kochte heiße Zitrone. Er bot mir Mandeln an, doch ich hatte nicht den geringsten Appetit; und wenn ich Mandeln aß, hatte ich sowieso immer den Eindruck, einen Kaffeetisch zu verspeisen. Wir waren jedoch fürchterlich ausgetrocknet und tranken die heiße Zitrone, als sie kochte, was in dieser Höhe schon etwa bei Badetemperatur der Fall war. Sie schmeckte himmlisch.
Doch damit war für Freds die Party keineswegs erledigt. Sein Feuerzeug scharrte, und in dessen Licht sah ich, wie er ein Loch in die Wand grub und eine Kerze darin aufstellte. Er zündete sie an, und ihr Licht wurde von den glatten weißen Wänden unseres Heims reflektiert. Er unterhielt sich kurz mit Kunga Norbu.
»Na schön«, sagte er, als er fertig war; sein Atem breitete sich weiß in die Luft aus. »Kunga wird jetzt etwas Tumo machen.«
»Tumo?«
»Das ist die Kunst, sich ohne Feuer im Schnee selbst zu erwärmen.«
Das erregte mein Interesse. »Noch eine Lama-Fähigkeit?«
»Darauf kannst du dich verlassen. Sie kommt nackten Einsiedlern im Winter ganz gelegen.«
»Das sehe ich ein. Sag ihm, er soll es uns vorführen.«
Mit einigem Knirschen nahm Kunga die Lotusposition ein, mit den großen Schneestiefeln an seinen Füßen eine beeindruckende Leistung.
Er zog seine Fäustlinge aus, und wir folgten seinem Beispiel. Dann sah er ins Nichts und begann in einem regelmäßigen, tiefen Rhythmus zu atmen. Das ging fast eine halbe Stunde so weiter, und ich befürchtete schon, wir würden alle erfrieren, bevor ihm warm wurde, als er seine Hände zu Freds und mir ausstreckte. Wir nahmen sie in die unseren.
Sie waren so warm, als hätte er schreckliches Fieber. Ängstlich berührte ich sein Gesicht — es war warm, aber nichts im Vergleich zu den Händen. »Mein Gott«, sagte ich.
»Wir können ihm jetzt helfen«, sagte Freds leise. »Du mußt dich konzentrieren, die Energie nutzbar machen, die immer in dir ist. Mit jedem Atemzug stößt du Stolz, Ärger, Haß, Neid, Trädheit und Dummheit von dir. Mit jedem Atemzug nimmst du Buddhas Geist, die fünf Weisheiten und alles Gute in dich auf. Wenn du ganz klar und ruhig bist, stellst du dir einen goldenen Lotus in deiner Magengrube vor … Alles klar? In diesem Lotus stellst du dir die Silbe mm vor, die Feuer bedeutet. Dann mußt du sehen, wie eine kleine Flamme — etwa von der Größe eines Ziegenköttels — im ram entsteht. Jeder Atemzug danach ist wie ein Blasebalg, der diese Flamme auffächert, die durch die Tsas im Körper gleitet, die mystischen Nerven. Stell dir den Prozeß in fünf Stadien vor … Zuerst siehst du das Uma tsa als Feuer, das mehr oder weniger dein Rückgrat hinaufkriecht … Zweitens, der Nerv hat den Durchmesser deines kleinen Fingers … Drittens, er ist so groß wie ein Arm … Viertens, dein Körper ist das Tsa selbst und wird als Feuerröhre wahrgenommen … Fünftens, das Tsa verschlingt die Welt, und du bist nur eine Flamme in einem Feuermeer.«
»Mein Gott.«
Wir saßen da und hielten Kunga Norbus heiße Hände, und ich stellte mich als Feuerröhre vor; und die Wärme ergoß sich in mich, meine Arme hinauf, durch meinen Oberkörper — sie taute sogar meinen erfrorenen Hintern und meine Füße auf. Ich sah Kunga Norbu an, und er sah direkt durch die Wand unserer Höhle in die Ewigkeit, oder wohin auch immer, und seine Augen glühten schwach im Kerzenlicht. Es war unheimlich.
Ich weiß nicht, wie lange das anhielt — es schien endlos zu währen, obwohl es vermutlich nur etwa eine Stunde dauerte. Doch dann hörte es auf — Kungas Hände wurden kälter, und unsere Körper ebenfalls. Er blinzelte mehrere Male und schüttelte den Kopf. Dann sagte er etwas zu Freds.
»Tja«, sagte Freds. »Länger kann er es dieser Tage nicht durchhalten.«
»Was?«
»Tja …« Er biß sich bedauernd auf die Zunge. »Es ist ungefähr so. Tulkus neigen dazu, im Verlauf ihrer verschiedenen Inkarnationen ihre Kräfte zu verlieren. Anscheinend verlieren sie bei jedem Prozeß etwas, genauso, als ob man ein Band von einer Kopie zieht, oder so. Es gibt einen Namen dafür.«
»Übertragungsfehler«, sagte ich.
»Genau. Na ja, das erwischt sie auch. Man sieht in Tibet sogar jede Menge Tulkus, die völlige Trottel sind. Kunga ist besser dran, aber er erinnert mich etwas an Paul Revere. Ein kleines Licht im Glockenstuhl, du weißt schon. Ein großer Lama, und ein toller Bursche, aber bei den mystischen Disziplinen nicht mehr besonders mächtig.«
»Zu schade.«
»Finde ich auch.«
Ich erinnerte mich an Kungas heiße Hände und ihre Wärme, die in mich drang. »Also … ist er eigentlich gar kein Tulku, oder?«
»Oh, ja! Natürlich! Und jetzt hat er sich auch vom alten Dorjee Lama befreit und ist selbst ein Lama und niemandes Schüler mehr. Es muß ein tolles Gefühl sein.«
»Darauf gehe ich jede Wette ein. Aber wie genau funktioniert das überhaupt?«
»Wie man ein Tulku wird?«
»Ja.«
»Es kommt darauf an, seine geistigen Kräfte zu konzentrieren. Die Tibetaner glauben, daß es gar kein übersinnliches Phänomen ist, sondern nur eine Ausnutzung der natürlichen Kräfte, die wir alle haben. Tulkus haben ihre psychischen Energien unglaublich konzentriert, und wenn man diese Ebene erreicht hat, kann man seinen Körper verlassen, wann immer man will. Wenn Kunga wollte, könnte er in etwa zehn Sekunden sterben.«
»Sehr nützlich.«
»Ja. Und wenn sie sich also dazu entscheiden, springen sie ins Bardo. Das Bardo ist die andere Welt, die Welt des Geistes, und ein sehr verwirrender Ort — Halluzinationen sind nichts dagegen! Zuerst geht vor deinem Gesicht ein Licht an, wie das Blitzlicht von Gottes Kamera. Dann sind es nur ein Haufen farbiger Wege, Erscheinungen und so weiter. Wie Kunga es beschreibt, klingt es echt unheimlich. Wenn man nur ein ganz gewöhnlicher Geist ist, kann man leicht die Orientierung verlieren und wird als Schnecke oder als Showmaster einer dieser Spielshows im Vorabendprogramm oder als irgend etwas wiedergeboren. Doch wenn man konzentriert bleibt, wird man in dem Körper wiedergeboren, den man sich ausgesucht hat, und macht von da ausweiter.«
Ich nickte einfältig. Mir war müde und kalt, und der Sauerstoffmangel beschleunigte meine Gedankengänge nicht gerade; ich konnte Freds’ Ausführungen nicht den geringsten Sinn entnehmen, wenngleich das an allen anderen Orten vielleicht genauso gewesen wäre.
Wir saßen da. Kunga summte etwas vor sich hin. Es wurde kälter.
Die Kerze tropfte und erlosch.
Es war dunkel. Es wurde noch kälter.
Nach einer Weile war nur noch die Dunkelheit da, unser Atmen und die Kälte. Ich fühlte meinen Hintern und die Beine unterhalb der Knie nicht mehr. Ich wußte, daß ich auf etwas wartete, hatte jedoch vergessen, worauf. Freds bewegte sich und sprach auf Tibetanisch mit Kunga. Sie schienen weit, weit entfernt zu sein. Sie sprachen mit Menschen, die ich nicht sehen konnte. Eine Weile zappelte Freds hin und her und stieß gegen die Wände der Höhle. Kunga rief heiser Worte wie »Hak!« und »Phut!«
Schließlich raffte ich mich auf. »Was macht ihr da?« fragte ich.
»Wir wehren Dämonen ab«, erklärte Freds.
Ich war, als ich meine Gefährten beobachtete, schon zu der Schlußfolgerung bereit, daß der Sauerstoffmangel einen in den Wahnsinn treiben kann; aber als ich daran dachte, wer sie waren, stellte ich mein endgültiges Urteil noch etwas zurück. Vielleicht lag es doch nicht am Sauerstoff.
Eine unbestimmbare Weile später fing Freds an, Schnee aus dem Tunnel zu schaufeln. »Wirfst du die Dämonen raus?« fragte ich.
»Nein, ich will wieder warm werden. Versuch’s doch auch mal.«
Ich hatte nicht die Kraft, mich zu bewegen.
Dann schüttelte er mich von einer Seite zur anderen, wechselte ins Englische und erzählte mir Geschichten. Eine Geschichte nach der anderen, mit trockener, heiserer, tiefer Stimme. Ich verstand keine davon. Ich mußte mich darauf konzentrieren, gegen die Kälte anzukämpfen. Und auf das Atmen. Freds wurde ganz aufgeregt; er erzählte mir eine Geschichte von Kunga, etwas darüber, wie er mit einem Freund durch Tibet lief, irgendein Lung-gom-pa-Test, und der Freund schleppte Ketten mit sich, um nicht ganz davonzutreiben. Dann begegneten sie nachts einem frischgebackenen Ehemann, ließen die Ketten in ein Lagerfeuer fallen … »Die Träger wußten vom Lung-gom, und am nächsten Morgen müssen sie versucht haben, es den Engländern zu erklären. Kannst du dir das vorstellen? Träger, die erklären, wie diese Ketten aus dem Nichts kommen … daß Leute sie benutzen, die durch Tibet laufen, damit sie nicht in den Orbit abzischen? Mann, diese Engländer müssen gedacht haben, sie würden das Land Oz erforschen. Meinst du nicht auch? He, George? George? … George?«