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Um zu verstehen, wieso die Vorstellung sie dermaßen aufbrachte, muß man wissen, welche Bedeutung die Geschichte von Mallory und Irvine für die englische Seele hat. Das Bergsteigen war dort immer viel wichtiger als in Amerika — man könnte sagen, daß die Engländer diesen Sport in viktorianischen Zeiten erfunden und seitdem immer wieder hervorragende Leistungen darin gebracht haben, sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als bei ihnen ziemlich viel auseinanderfiel. Man könnte sagen, daß Bergsteigen der Rolls Royce des britischen Sports ist. Whymper, Hillary, das brillante Team, das in den siebziger Jahren mit Bonington kletterte: das alles sind Volkshelden.

Aber Mallory und Irvine sind die größten überhaupt. Damals in den zwanziger und dreißiger Jahren hatten die Engländer einen Alleinanspruch auf den Everest, da Nepal für Ausländer verschlossen war und Tibet für alle bis auf die Briten, die sich 1904 mit Younghusbands Feldzug ins Land gedrängt hatten. Also war der Berg ihr privater Spielplatz, und während jener Jahre machten sie vier oder fünf Versuche, die alle scheiterten, was durchaus verständlich ist: sie waren ausgerüstet wie die Pfadfinder, mußten sich an Ort und Stelle die Höhentechnik aneignen und hatten schreckliches Pech mit dem Wetter.

Der Versuch, der einem Erfolg am nächsten kam, fand 1924 statt. Mallory, schon berühmt von zwei vorherigen Versuchen, war der Expeditionsleiter. Wie Sie vielleicht wissen, war er der Bursche, der antwortete: »Weil er da ist!«, als man ihn fragte, warum jemand das Ding besteigen wollte. Das ist entweder eine sehr tiefgründige oder eine sehr dumme Antwort, je nachdem, was man von Mallory hält. Sie können sich die Ihnen genehme Interpretation aussuchen: Der Bursche ist in Grund und Boden psychoanalysiert worden. Auf jeden Fall wurden er und sein Partner Irvine zuletzt gesehen, als sie sich kaum vierhundert Meter unter dem Gipfel befanden — und um ein Uhr mittags an einem Tag, an dem abgesehen von einem kurzen Sturm und Nebel, der den Gipfel vor den Blicken der Beobachter unten verbarg, gutes Wetter herrschte. Also haben sie es entweder geschafft oder auch nicht; aber irgend etwas ging irgendwo auf dem Weg schief, und sie wurden nie wieder gesehen.

Eine glorreiche Niederlage, ein unergründliches Geheimnis: das ist die Art von Geschichte, die die Engländer einfach lieben, wie wir alle anderen auch. Die ganzen Internatstugenden in eine heroische Erzählung eingehüllt — kein Schriftsteller könnte sie sich besser ersinnen. Bis zum heutigen Tag findet diese Geschichte in England ungebrochenes Interesse, und das gilt erst recht für die Bergsteigergemeinschaft, die mit ihr aufwuchs und noch immer in Zeitschriftenartikeln, Stammtischgesprächen und so weiter zahlreiche Spekulationen über das Schicksal der beiden Männer betreibt. Sie lieben diese Geschichte einfach.

Dort hinaufzuklettern, die Leichen zu suchen, dem Geheimnis ein Ende zu bereiten und die Leichen nach England zu schaffen… Jetzt wissen Sie, warum das meinen Trinkgenossen an diesem Abend wie ein Sakrileg vorkam. Es war wieder so ein moderner Werbegag, ein von einer Werbeagentur ersonnener Plan, Geld zu scheffeln — eine Entweihung des Großen Geheimnisses. Es erinnerte mich in der Tat ein wenig an Videotrekking. Nur noch schlimmer. Also fühlte ich in gewisser Weise mit ihnen.

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