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Doch ich machte trotzdem mit. Am nächsten Morgen brachen wir das Lager ab und erweckten alle Anstalten, wieder umzukehren. Die Engländer gingen zum Westgrat und warfen Arnold düstere Drohungen zu, als sie an ihm vorbeizogen. Arnold und seine Sherpas hatten bereits gepackt; sie ließen den Engländern einen kurzen Vorsprung und folgten ihnen dann. Arnold war an ihrem Führer Ang Rita angeseilt und konnte es, die Kamera in einer Tasche auf der Brust, gar nicht abwarten, ihnen nachzugehen. Eins mußte ich ihm lassen — er war ein verdammt hartnäckiger Voyeur.

Wir winkten zum Abschied und blieben auf dem Sattel, bis sie über uns und kurzzeitig außer Sicht waren. Dann eilten wir ihnen nach und bogen nach links in den sogenannten Diagonalgraben ab, der zur Nordseite führt.

Wir folgten nun der Strecke, die zum ersten Mal im Jahre 1963 Tom Hornbein und Willi Unsöld genommen hatten. Ein wirklicher Bergsteiger-Klassiker, der durch die Hornbein- Schlucht führt, wie man sie nun nennt. Besorgen Sie sich ein gutes Foto der Nordseite des Everest, und Sie sehen sie — eine große vertikale Spalte auf der rechten Seite. Es ist eine steile Rinne, doch man kommt etwas schneller hinauf als an der Westseite.

Also kletterten wir. Es war eine schwierige Strecke, aber keineswegs so furchteinflößend wie der Lho La. Mein größtes Problem an diesem Tag war eine das Wetter betreffende Paranoia. Auf dem Everest nimmt man das Wetter nicht auf die leichte Schulter. Man sagte nicht einfach: »Wenn es jetzt schneit, ist der ganze Tag im Eimer.« Ziemlich viele Leute sind auf dem Everest von Stürmen überrascht worden und darin umgekommen, darunter auch die Burschen, nach denen wir suchen wollten. Wann immer ich also Wolkenstreifen über den Gipfel treiben sah, drehte ich beinahe durch. Und der Wind peitscht fast ständig ein Wolkenband vom Gipfel des Everest hinüber. Ich schaute immer wieder nach oben, sah die Wolken und stöhnte. Freds hörte mich.

»He, George, du klingst ja ganz danach, als war’ dir auf dieser Höhe nicht ganz wohl zumute.«

»Beeil’ dich, ja?«

»Du willst schneller gehen? Na schön, aber ich muß dir sagen, daß ich schon so schnell gehe, wie ich kann.«

Das glaubte ich ihm unbesehen. Kunga Norbu trieb mit seinem Eispickel in der Mitte der Schlucht Steigeisen in den hohen Schnee, und Freds war dicht hinter ihm; sie sahen aus wie zwei Dachdecker auf einer Leiter. Ich tat mein Bestes, um ihnen zu folgen, und Laure bildete die Nachhut. Sowohl Freds als auch Laure grinsten ununterbrochen so breit, daß man glauben konnte, sie wären auf einem Trip. Es gefiel ihnen so sehr, daß sie sich noch einen Sonnenbrand an den Zähnen holen würden. Mittlerweile schnappte ich nach Luft und zerbrach mir den Kopf über diese Gipfelfahne.

Es war einer der schönsten Klettertage meines Lebens.

Warum, fragen Sie jetzt? Na ja … es ist nicht leicht zu erklären. Aber es verhält sich in etwa so: Wenn man sich an einer Felswand befindet und ein paar hundert Meter Luft unter sich hat, nimmt das schon die Aufmerksamkeit in Anspruch. Natürlich sagt ein Teil von einem: Oh, mein Gott, jetzt ist alles aus. Warum habe ich das bloß getan? Aber ein anderer Teil sieht ein, daß man die Ruhe bewahren muß, wenn man nicht sterben will, und verstrickt einen in halbtheoretische Gymnastikübungen, die einen den Berg hinaufbringen sollen. Man achtet auf die Übungen, wie man noch nie zuvor auf etwas geachtet hat. Schließlich findet man sich auf irgendeinem flachen Fleckchen wieder — achtzig mal hundertzwanzig Zentimeter tun’s schon. Man sieht sich um und begreift, daß man nicht gestorben ist, daß man noch lebt. Und zu diesem Zeitpunkt wird diese Tatsache ziemlich anregend. Man schätzt es wirklich, noch zu leben. Es ist eine gewisse Macht, oder ein Privileg, das einem gewährt wurde; auf jeden Fall fühlt man sich ganz hervorragend, als habe man kurzzeitig eine höhere Bewußtseinsstufe erreicht. Einfach, weil man noch lebt! Und in der Rückschau hält man auch dieses Achten auf die Übungen für eine höhere Bewußtseinsstufe.

Man kann von solchen Gefühlen ganz schön abhängig werden; sie stellen die ultimate Bewußtseinsveränderung dar. Drogen kommen nicht an sie heran. Ich will nicht behaupten, daß das ein vernünftiges Verhalten ist; ich sage nur, daß es passiert.

Zum Beispiel am Ende dieses besonders eindringlichen Tages in der Hornbein-Schlucht, als wir vier nach einer Blitztour im alpinen Stil, die wir hauptsächlich Kunga Norbus inspirierter Führung verdankten, oben angelangten. Wir schlugen das Lager auf einem kleinen flachen Buckel auf, der kaum groß genug für unser Zelt war. Und sahen uns dann um — was für ein Gefühl! Es war wirklich unbeschreiblich. Es gibt nur vier oder fünf Berge auf der Erde, die höher sind als diese Lagerstätte, und das sah man auch. Es hatte den Anschein, daß wir bis nach Tibet sehen konnten. Nun sieht Tibet hauptsächlich aus wie ein gefriergetrocknetes Nevada, doch von unserer Höhe aus bestand es aus einer schneebedeckten Gipfelkette nach der anderen, auf ewig Weiß auf Schwarz, alles von der Nachmittagssonne rötlich gefärbt. Die Welt schien nur noch aus Bergen zu bestehen.

Freds ließ sich, noch immer mit einem iditotischen Grinsen auf dem Gesicht, neben mir auf den Boden fallen. Er hielt einen dampfenden Becher mit heißer Zitrone in der einen Hand, seine Haschpfeife in der anderen, und sang »›What a looong, stränge trip it’s been.‹« Er nahm einen Zug aus der Pfeife und gab sie mir.

»Bist du sicher, daß wir hier oben rauchen sollten?«

»Klar, das hilft dir beim Atmen.«

»Jetzt hör’ aber auf.«

»Nein, wirklich. Das Nervenzentrum, das deine unwillkürliche Atmung regelt, arbeitet nicht mehr, wenn es kein Kohlendioxyd gibt. Und hier oben gibt es kaum welches, aber der Rauch verschafft es dir.«

Ich kam zum Schluß, seinem Beispiel aus medizinischen Gründen lieber zu folgen. Wir reichten die Pfeife hin und her. Hinter uns saß Laure im Zelt, summte etwas vor sich hin und holte seinen Schlafsack hervor. Kunga Norbu saß im Lotussitz auf der anderen Seite des Zeltes und befaßte sich mit seinen eigenen Reichen. Die Welt, alle Berge, gingen unter der Sonne unter.

Freds atmete glücklich aus. »Das muß der schönste Ort auf Erden sein, meinst du nicht auch?«

Das ist das Gefühl, von dem ich gesprochen habe.

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