Und so kam es, daß ich mit einem tibetanischen Tulku und einem Verrückten aus Arkansas den Mount Everest bestieg. Ein vernünftiger Mensch hätte bei so einem Unternehmen niemals mitgemacht, und als ich hinter Freds und Kunga hertrottete, konnte ich in der Tat kaum glauben, daß es geschah. Aber ein jeder qualvolle Atemzug überzeugte mich vom Gegenteil. Und da es sich nun einmal nicht ändern ließ, kam ich zum Schluß, daß es angebracht sei, mich in den richtige Geisteszustand dafür zu bringen; sonst würde es nur um so gefährlicher sein. »Ich wollte das schon immer tun«, sagte ich und verbannte den übermächtigen Eindruck, dazu hypnotisiert worden zu sein, aus meinen Gedanken. »Wir besteigen den Everest, und das wollte ich schon immer mal.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Freds.
Ich ignorierte ihn und dachte weiterhin bei jedem zweiten Schritt: »Das wollte ich schon immer.« Nach ein paar hundert Schritten mußte ich mir eingestehen, daß ich mich halbwegs überzeugt hatte. Ich meine, der Everest! Denken Sie doch mal drüber nach! Wie jeder andere auch hatte ich wohl schon immer insgeheim diesen Wunsch verspürt.
Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten unserer Route langweilen; wenn es Sie interessiert, können Sie sie in meinem anonymen Artikel im American Alpine Journal, Ausgabe 1987, nachlesen. In der Tat ging es ziemlich glatt; wir stiegen von der Hornbein-Schlucht quer zum oberen Westsattel auf und nahmen von dort aus den Gipfel in Angriff.
Ich tat dies in jeweils zehn Schritten auf einmal; die Höhe machte mir nun endgültig zu schaffen. Ich akklimatisiere mich so gut wie kaum ein anderer, den ich kenne, doch niemand akklimatisiert sich noch bei über achteinhalbtausend Metern Höhe. Es kommt schließlich nur noch darauf an, wie schnell man erschöpft ist.
»Versuche, so langsam wie nötig zu gehen, und vermeide Ruhepausen«, riet mir Freds.
»Ich gehe schon so langsam, wie ich kann.«
»Nein, tust du nicht. Versuche einfach, bergaufwärts zu schleichen. Leg wirklich den ersten Gang ein. Dann fällst du in einen ganz bestimmten Rhythmus.«
»Na schön. Ich versuch’s.«
Wir hatten uns gerade gesetzt, um unsere Steigeisen abzunehmen, die nun überflüssig waren. Freds behielt recht, was den Schwierigkeitsgrad unserer Klettertour betraf. Der Grat war breit, nicht sehr steil und ziemlich aufgerissen, so daß überall unregelmäßige Felstreppen darauf lagen. Hätte er sich auf Meereshöhe befunden, hätte man ihn buchstäblich hinauf laufen können. Es war so einfach, daß ich Freds Vorschlag ausprobieren konnte, und ich folgte ihm und Kunga mit Zeitlupenbewegungen hinauf. Bei dieser Geschwindigkeit konnte ich etwa zehn oder fünfzehn Minuten gehen, bevor ich mich ausruhen mußte — wie lange genau, ließ sich nur schwer sagen, da mir jedes Intervall wie ein Nachmittag vorkam.
Doch bei jeder Rast waren wir ein Stück höher. Es ließ sich nicht abstreiten, daß man vom Westgrat eine erstklassige Aussicht hatte: zu unserer Rechten alle Berge Nepals, zu unserer Linken alle Berge Tibets, und Sikkim und Bhutan waren zur Abwechslung auch noch da. Das einzige, was sich noch über uns befand, war die Pyramide des letzten Gipfels des Everest, der sich strahlendweiß vor einem schwarzblauen Himmel erhob.
Bei jeder Rast stellte ich fest, daß Kunga Norbu ein seltsames buddhistisches Lied summte; er sah auf unterschwellige Art und Weise immer glücklicher aus, während Freds’ Grinsen immer breiter wurde. »Kannst du glauben, daß wir einen so perfekten Tag erwischt haben? Wunderschön, was?«
»Hmm.« Der Tag war wirklich schön, doch ich war zu müde, um ihn zu genießen. Doch bei jeder Rast floß ein Teil ihrer Energie in mich hinein, und das war nur gut so, denn sie gingen wirklich schnell voran, und ich brauchte ihre Hilfe.
Schließlich lag wieder Schnee auf dem Grat, und wir mußten uns setzen und die Steigeisen wieder anlegen. Mir fiel dieser überaus einfache Vorgang so schwer, daß ich es fast nicht schaffte. Meine Hände hinterließen rosafarbene Nachbilder in der Luft, und ich zischte und stöhnte bei jedem Zug an den Riemen. Als ich fertig war und aufstand, wäre ich beinahe umgekippt. Die Felsen verschwammen vor mir, und selbst mit der Brille war der Schnee schmerzhaft weiß.
»Das letzte Stück«, sagte Freds, als wir den Berg hinaufsahen. Wir machten uns auf den Weg, und die Steigeisen drangen tief in festen Schnee ein. Kunga legte ein unglaubliches Tempo vor. Freds und ich marschierten Seite an Seite im Gleichschritt, um besser mit der geistigen Anstrengung fertig zu werden.
Freds wollte sprechen, obwohl er keine Atemluft zu verschwenden hatte. »Der alte Dorjee Lama. Wird ziemlich. Überrascht sein. Wenn sie Kum-Bum. Wieder aufbauen. Ha!«
Ich nickte, als glaubte ich die ganze Geschichte. Das war eine Übertreibung, doch es spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle, abgesehen davon, in blendend weißem Schnee einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Ich habe gelesen, daß sich der Everest genau an der Grenze des Machbaren befindet, was das Bergsteigen ohne Sauerstoffflaschen betrifft. Das wissenschaftliche Team, das nach einer Besteigung, bei der Luft- und Atemproben genommen wurde, zu dieser Schlußfolgerung gelangte, hat sogar erklärt, theoretisch sei es überhaupt nicht möglich. Aber theoretisch kann eine Hummel auch nicht fliegen. Ein Wissenschaftler stellte die Theorie auf, daß es wirklich nicht möglich sei, wenn der Everest auch nur hundert Meter höher wäre.
Ich glaube ihr. Mit Sicherheit waren die letzten paar Schritte diese Schneepyramide hinauf die schwersten, die ich jemals getan habe. Meine Brust hob und senkte sich mit sinnlosen Atemzügen, und ich konnte hören, wie die Gehirnzellen zu Tausenden zersprangen, knack, knister, plop. Wir näherten uns dem Gipfel, einer dreieckigen Kuppel aus reinem Schnee; doch ich mußte langsamer gehen.
Kunga war uns vorausgeeilt und hatte auf den letzten Metern noch an Geschwindigkeit zugelegt. Als ich auf den Schnee hinabblickte, verlor ich ihn aus den Augen. Dann kamen seine Stiefel in mein Blickfeld, und ich begriff, daß wir es fast geschafft hatten, nur noch ein paar Schritte unter dem höchsten Punkt waren.
Der eigentliche Gipfel war eine zerklüftete Schneekuppe von etwa zweieinhalb Metern Länge und einem Meter Breite. Es war keine Berg, aber auch keine breite Hügelspitze; man hätte darauf kein kleines Tänzchen abhalten wollen.
»Tja«, sagte ich. »Da sind wir.« Irgendwie konnte ich mich nicht darüber begeistern. »Zu schade, daß ich keine Kamera mitgenommen habe.« In Wirklichkeit empfand ich gar nichts.
Neben mir rührte sich Freds. Er schlug mir auf den Arm und deutete zu Kunga Norbu hinauf. Wir waren noch unter ihm; unsere Köpfe befanden sich etwa auf gleicher Höhe wie seine Stiefel. Er summte und hatte die Arme ausgestreckt und gehoben, als dirigiere er im Osten ein Symphonieorchester. Ich sah in diese Richtung. Mittlerweile war es Spätnachmittag, und der Schatten des Everest dehnte sich bis zum Horizont und sogar darüber hinaus aus. Im Osten müssen Eispartikel in der Luft gehangen haben, denn plötzlich sah ich über dem Dunkel des Everest-Schattens einen großen Eisbogen. Es war fast ein vollständiger Farbkreis, viel durchsichtiger als ein Regenbogen und am unteren Ende vom dreieckigen Schatten des Berges abgeschnitten.
In diesem schwach gefärbten runden Bogen, über der dunklen Luft des Schattengipfels, befand sich ein von Licht umgebenes Schattenkreuz. Es war ein Brockengespenst-Phänomen, verursacht durch niedrigstehendes Sonnenlicht, das die Schatten von Gipfeln und Bergsteigern auf feuchte Luft wirft und ein helles Halo um sie herum entstehen läßt. Ich hatte schon mal eins gesehen.
Dann breitete Kunga Norbu ruckartig die Hände aus, und die ganze Vision verschwand augenblicklich.
»Mann«, sagte ich.
»Allerdings«, murmelte Freds und führte mich die letzten qualvollen Schritte auf den Gipfel selbst hinauf, so daß wir neben Kunga Norbu standen. Er hatte den Kopf zurückgelegt, und auf seinem Gesicht stand ein Lächeln aus reiner, kindlicher Freude.
Ich weiß nicht mehr, was wirklich dort oben geschah. Vielleicht wurde ich ohnmächtig und sah eine Sekunde lang Farben, dachte, es sei ein Eisbogen gewesen, und dann blinzelte ich und sah wieder klar. Aber ich weiß, daß ich in diesem Augenblick, als ich Kunga Norbus entrücktes Gesicht betrachtete, sicher war, daß er seine Freiheit gewonnen und sich dies oben im Himmel abgezeichnet hatte. Die Aufgabe war vollbracht, er hatte die Arme vor Freude ausgebreitet … Ich glaubte es auf einmal. Ich schluckte und hatte einen Kloß im Hals.
Nun fühlte ich es auch; ich fühlte, wo wir waren. Wir hatten Chomolungma erstiegen. Wir standen auf dem Dach der Welt.
Freds atmete ein paar Mal ein und aus. »Tja«, sagte er und schüttelte Kunga und mir die Hand. »Wir haben es geschafft!« Und dann schlugen wir uns gegenseitig auf den Rücken, bis wir bald vom Berg gefallen wären.