Der Weg zum Himmel

Zeit ihres Lebens hatte Mrs. Foster an einer geradezu pathologischen Angst gelitten, einen Zug, ein Flugzeug, ein Schiff oder den Beginn einer Theatervorstellung zu verpassen. Im Allgemeinen war sie gar nicht besonders nervös, aber der bloße Gedanke, sie könnte sich bei solchen Anlässen verspäten, setzte ihr derart zu, dass sie Zuckungen bekam. Es war nicht schlimm – nur eine kleine Muskelreizung im Winkel des linken Auges, wie ein verstohlenes Blinzeln –, doch das Unangenehme war, dass dieser Tic noch mindestens eine Stunde lang anhielt, wenn sie den Zug, das Flugzeug, oder was es nun war, glücklich erreicht hatte.

Merkwürdig, wie sich bei gewissen Leuten eine einfache Besorgnis, zum Beispiel die, den Zug nicht mehr zu erreichen, zu einer Besessenheit auswachsen kann. Spätestens eine halbe Stunde bevor es Zeit war, zum Bahnhof zu fahren, pflegte Mrs. Foster reisefertig, angetan mit Hut, Mantel und Handschuhen, aus dem Aufzug zu treten. Unfähig, sich hinzusetzen, lief sie ziellos von einem Zimmer ins andere, bis ihr Mann, dem ihre Aufregung nicht entgangen sein konnte, endlich zum Vorschein kam und trocken bemerkte, man könne jetzt vielleicht aufbrechen, nicht wahr?

Mr. Foster war durchaus berechtigt, sich über das närrische Benehmen seiner Frau zu ärgern, nicht aber dazu, ihre Qualen zu vergrößern, indem er sie unnötig warten ließ. Dass er das tat, ist zwar durch nichts bewiesen, doch sooft sie zusammen irgendwohin wollten, erschien er unweigerlich im letzten oder vielmehr im allerletzten Moment und benahm sich dabei so betont freundlich, dass die Vermutung sehr nahe lag, er habe seiner unglückseligen Frau ganz bewusst eine boshafte kleine Privatqual auferlegt. Eines jedenfalls musste ihm klar sein: Sie hätte niemals gewagt, nach ihm zu rufen oder ihn zur Eile anzutreiben. Dazu hatte er sie zu gut erzogen. Und er wusste auch, dass er nur ein klein wenig zu lange zu zögern brauchte, um sie in einen Zustand zu versetzen, der hart an Hysterie grenzte. Bei ein oder zwei besonderen Gelegenheiten in ihren späteren Ehejahren sah es fast so aus, als hätte er den Zug verpassen wollen, um die Leiden der armen Frau zu verschlimmern.

Genau kann man es ja nicht wissen, aber nimmt man an, dass er schuldig war, so wird sein Verhalten doppelt verwerflich durch die Tatsache, dass ihm Mrs. Foster, abgesehen von dieser einen kleinen Schwäche, immer eine gute und liebevolle Gattin gewesen war. Dreißig Jahre und mehr hatte sie ihm treu und brav gedient. Daran war nicht zu zweifeln. Bei all ihrer Bescheidenheit wusste sie das selbst, und wenn sie sich auch jahrelang gegen den Argwohn gewehrt hatte, Mr. Foster wolle sie absichtlich quälen, so hatte sie sich doch in letzter Zeit mehrmals bei einem beginnenden Zweifel ertappt.

Der nahezu siebzigjährige Mr. Eugen Foster lebte mit seiner Frau in New York City, und zwar in einem großen sechsstöckigen Haus der Zweiundsechzigsten Straße Ost; sie hatten vier Dienstboten. Die Wohnung war ziemlich düster, und sie bekamen nicht viel Besuch. An diesem Januarmorgen aber herrschte im Hause reges Leben und Treiben. Ein Mädchen trug Stapel von Staubhüllen in alle Zimmer, während ein anderes die Tücher über die Möbel breitete. Der Butler brachte die Koffer hinunter und stellte sie in die Halle. Die Köchin kam immer wieder aus der Küche, um mit dem Butler zu reden, und Mrs. Foster selbst, in einem altmodischen Pelzmantel und mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf, eilte bald hierhin, bald dorthin, angeblich um alles zu überwachen. In Wirklichkeit dachte sie an nichts anderes als daran, dass sie ihr Flugzeug versäumen werde, wenn ihr Mann nicht bald aus seinem Arbeitszimmer käme und sich fertig machte.

«Wie spät ist es, Walker?», fragte sie den Butler.

«Zehn Minuten nach neun, Madam.»

«Ist der Wagen da?»

«Ja, Madam, er wartet. Ich will gerade das Gepäck hinausbringen.»

«Bis Idlewild brauchen wir eine Stunde», sagte sie. «Mein Flugzeug startet um elf, aber wegen der Formalitäten muss ich eine halbe Stunde früher dort sein. Ich werde zu spät kommen. Ich weiß, dass ich zu spät kommen werde.»

«Sie schaffen es bequem, Madam», antwortete der Butler beruhigend. «Ich habe Mr. Foster gesagt, dass Sie um neun Uhr fünfzehn hier wegmüssen. In fünf Minuten also.»

«Ja, Walker, ich weiß, ich weiß. Aber bitte, beeilen Sie sich mit dem Gepäck, ja?»

Sie ging in der Halle auf und ab, und sooft der Butler vorbeikam, fragte sie ihn, wie spät es sei. Dabei wiederholte sie sich immer von neuem, dass sie gerade dieses Flugzeug nicht versäumen dürfe. Monate hatte sie gebraucht, ihrem Mann die Erlaubnis zur Reise abzuringen. Kam sie zu spät, so verlangte er womöglich, sie solle ihr Vorhaben aufgeben. Das Schlimme war, dass er darauf bestand, sie zum Flugplatz zu begleiten.

«Guter Gott», sagte sie laut, «ich komme zu spät. Ich weiß, ich weiß, ich weiß, dass ich zu spät komme.» Der kleine Muskel am linken Auge zuckte bereits heftig. Die Augen selbst waren dicht am Weinen.

«Wie spät ist es, Walker?»

«Achtzehn Minuten nach, Madam.»

«Jetzt verpasse ich es ganz bestimmt!», rief sie. «Wenn er doch nur käme!»

Für Mrs. Foster war diese Reise sehr wichtig. Sie wollte allein nach Paris fliegen, um ihre Tochter, ihr einziges Kind, zu besuchen, die mit einem Franzosen verheiratet war. Für den Franzosen hatte Mrs. Foster nicht viel übrig, aber sie liebte ihre Tochter, und vor allem sehnte sie sich danach, endlich einmal ihre drei Enkel zu sehen. Sie kannte sie nur von den vielen Fotos, die sie erhalten hatte und die überall in der Wohnung aufgestellt waren. Entzückende Kinder. Mrs. Foster hing mit einer wahren Affenliebe an ihnen, und sooft ein neues Bild kam, zog sie sich damit zurück, betrachtete es lange und liebevoll und suchte in den kleinen Gesichtern nach den befriedigenden Kennzeichen der Blutsverwandtschaft, die so viel bedeutet. In letzter Zeit war ihr immer stärker zum Bewusstsein gekommen, dass sie keinen Wert darauf legte, den Rest ihres Lebens an einem Ort zu verbringen, wo sie diese Kinder nicht in ihrer Nähe haben, sie besuchen, auf Spaziergänge mitnehmen, beschenken, aufwachsen sehen konnte. Natürlich wusste sie, dass es falsch und gewissermaßen pflichtvergessen war, solche Gedanken zu hegen, solange ihr Mann lebte. Und ebenso wusste sie, dass Mr. Foster – obgleich er sich nicht mehr in seinen vielen Unternehmungen betätigte – niemals einwilligen würde, New York zu verlassen und nach Paris zu übersiedeln. Es war schon ein Wunder, dass er ihr gestattet hatte, für sechs Wochen hinüberzufliegen und ihre Lieben zu besuchen. Ach, wie sie wünschte, immer bei ihnen leben zu können!

«Wie spät, Walker?»

«Zweiundzwanzig Minuten nach, Madam.»

Der Butler hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Tür aufging und Mr. Foster in die Halle trat. Er blieb einen Moment stehen, den Blick auf seine Frau gerichtet, und auch sie sah ihn an, den kleinen, noch immer hübschen alten Mann, dessen Gesicht mit dem gewaltigen Bart den bekannten Fotografien von Andrew Carnegie verblüffend ähnelte.

«Nun», sagte er, «ich glaube, wir sollten wohl langsam aufbrechen, wenn du das Flugzeug noch erreichen willst.»

«Ja, Lieber – ja! Es ist alles bereit. Der Wagen wartet.»

«Gut.» Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte sie aufmerksam. Diese Angewohnheit, den Kopf schräg zu legen und ihn dann in kleinen, schnellen Rucken zu bewegen, war charakteristisch für ihn. Deswegen und weil er die Hände in Brusthöhe zu verschränken pflegte, erinnerte er, wenn er so dastand, an ein Eichhörnchen, ein nettes, lebhaftes Eichhörnchen aus dem Park.

«Hier ist Walker mit deinem Mantel, Lieber. Zieh ihn an.»

«Ich muss mir noch die Hände waschen», sagte er. «Bin gleich zurück.»

Sie wartete, während der Butler Hut und Mantel bereithielt.

«Meinen Sie, dass ich zu spät komme, Walker?»

«Nein, Madam», erwiderte der Butler, «Sie schaffen es bestimmt.»

Als Mr. Foster erschien, half ihm der Butler in den Mantel. Mrs. Foster eilte hinaus und stieg in den gemieteten Cadillac. Ihr Mann folgte ihr, ging aber die Stufen vor der Haustür sehr gemächlich hinunter und blieb auf halbem Wege stehen, um den Himmel zu betrachten und die kalte Morgenluft zu schnuppern.

«Sieht ein bisschen neblig aus», meinte er, als er sich im Wagen neben sie setzte. «Und draußen in Idlewild ist es meistens noch schlimmer. Ich würde mich nicht wundern, wenn gar keine Flugzeuge starten dürften.»

«Sag das nicht, Lieber – bitte

Sie schwiegen beide, bis der Wagen den Fluss überquert und Long Island erreicht hatte.

«Mit den Dienstboten habe ich alles geordnet», sagte Mr. Foster. «Sie gehen heute weg. Ich habe ihnen für sechs Wochen den halben Lohn gegeben und Walker gesagt, dass ich ihm telegraphieren werde, wenn wir sie wieder benötigen.»

«Ja», antwortete sie. «Er hat’s mir erzählt.»

«Ich ziehe heute Abend in den Club. Wird zur Abwechslung mal ganz nett sein, im Club zu wohnen.»

«Ja, Lieber, und ich werde dir schreiben.»

«Ab und zu schaue ich dann zu Hause nach, ob alles in Ordnung ist, und hole die Post.»

«Meinst du nicht, dass Walker doch lieber die ganze Zeit dableiben sollte, um nach dem Rechten zu sehen?», fragte sie zaghaft.

«Unsinn. Ganz überflüssig. Und ich müsste ihm dann den vollen Lohn zahlen.»

«Ach ja, natürlich.»

«Außerdem weiß man nie, was die Leute anstellen, wenn sie allein im Hause sind», verkündete Mr. Foster. Er zog eine Zigarre heraus, knipste die Spitze mit einem silbernen Zigarrenabschneider ab und ließ sein goldenes Feuerzeug aufflammen.

Seine Frau saß regungslos neben ihm, die Hände unter der Decke zusammengekrampft.

«Wirst du mir schreiben?», fragte sie.

«Mal sehen», antwortete er. «Ich glaub’s aber nicht. Du weißt, ich schreibe nicht gern Briefe, wenn nichts Besonderes mitzuteilen ist.»

«Ja, Lieber, ich weiß. Mach’s, wie du willst.»

Sie fuhren weiter, den Queens Boulevard entlang, und als sie sich dem flachen Marschland näherten, auf dem Idlewild erbaut ist, wurde der Nebel dichter, und der Wagen musste das Tempo verlangsamen.

«Oh!», rief Mrs. Foster. «Jetzt werde ich das Flugzeug bestimmt verpassen! Wie spät ist es?»

«Reg dich nicht auf», sagte der alte Mann. «Ob du zur Zeit kommst oder nicht, spielt gar keine Rolle. Das Flugzeug kann ohnehin nicht starten. Bei solchem Wetter fliegen sie nie. Ich begreife nicht, warum du überhaupt losgefahren bist.»

Täuschte sie sich, oder hatte seine Stimme plötzlich einen neuen Klang? Sie wandte sich ihm zu. Die vielen Haare machten es schwierig, eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Das wichtigste war der Mund. Wie schon so oft, wünschte sie sich, ihn deutlich sehen zu können. Seine Augen verrieten nie etwas, ausgenommen, wenn er zornig war.

«Natürlich», fuhr er fort, «falls das Flugzeug zufällig doch startet, kommst du zu spät – darin muss ich dir zustimmen. Wäre es nicht besser, gleich umzukehren?»

Sie antwortete nicht und schaute durch das Fenster nach dem Nebel. Je weiter sie kamen, desto dichter schien er zu werden; sie konnte gerade den Straßenrand erkennen und ein wenig Grasland. Sie spürte, dass ihr Mann sie noch immer beobachtete. Auch sie sah ihn nun an, und dabei stellte sie mit einer Art Entsetzen fest, dass er unverwandt auf die Stelle in ihrem linken Augenwinkel blickte, wo sie den Muskel zucken fühlte.

«Nun?», sagte er.

«Was denn?»

«Wenn das Flugzeug startet, erreichst du es bestimmt nicht mehr. Bei dem Nebel können wir nicht schnell fahren.»

Nach diesen Worten hüllte er sich in Schweigen. Der Wagen kroch dahin. Der Fahrer hielt eine gelbe Lampe auf den Straßenrand gerichtet, und das half ihm weiter. Andere Lichter, weiße oder gelbe, tauchten vor ihnen aus dem Nebel auf, und ein besonders helles folgte ihnen die ganze Zeit.

Plötzlich hielt der Fahrer an.

«So!», rief Mr. Foster. «Jetzt sitzen wir fest. Wundert mich gar nicht.»

Der Fahrer drehte sich um. «Nein, Sir, wir haben’s geschafft. Dies ist der Flughafen.»

Mrs. Foster sprang wortlos aus dem Wagen und eilte zum Haupteingang. In der Halle belagerten zahlreiche Menschen, meist verzweifelte Reisende, die Schalter. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und befragte den Angestellten. «Ja», sagte er, «der Abflug ist verschoben worden. Aber gehen Sie bitte nicht weg. Das Wetter kann sich jeden Augenblick aufklären.»

Sie kehrte zu ihrem Mann zurück, der noch immer im Wagen saß, und erzählte ihm die Neuigkeit. «Du brauchst wirklich nicht zu warten, Lieber», fügte sie hinzu. «Das hätte keinen Sinn.»

«Ich warte auch nicht», sagte er. «Vorausgesetzt, dass der Chauffeur mich zurückfahren kann. Wird das möglich sein, Chauffeur?»

«Ich denke, ja», meinte der Mann.

«Ist das Gepäck abgeladen?»

«Ja, Sir.»

«Leb wohl, Lieber.» Mrs. Foster beugte sich in den Wagen und gab ihrem Mann einen raschen Kuss auf den stachligen grauen Pelz seiner Wange.

«Leb wohl», antwortete er. «Gute Reise.»

Der Wagen verschwand im Nebel, und Mrs. Foster blieb allein zurück.

Der Rest des Tages war eine Art Albdruck für sie. Stunde um Stunde saß sie auf einer Bank, möglichst nahe bei dem Schalter der Fluggesellschaft, und etwa alle dreißig Minuten stand sie auf, um zu fragen, ob sich irgendetwas geändert habe. Immer erhielt sie die gleiche Antwort – sie müsse weiter warten, weil sich der Nebel jeden Augenblick lichten könne. Erst nach sechs Uhr abends gaben die Lautsprecher bekannt, der Abflug sei auf elf Uhr am nächsten Vormittag verlegt worden.

Als Mrs. Foster das hörte, wusste sie sich keinen Rat. Sie saß noch mindestens eine halbe Stunde auf ihrer Bank und dachte müde und verwirrt darüber nach, wo sie die Nacht verbringen sollte. Den Flugplatz zu verlassen, hatte sie keine Lust. Ihren Mann zu sehen auch nicht. Sie fürchtete, es werde ihm irgendwie gelingen, ihre Reise nach Frankreich zu hintertreiben. Am liebsten wäre sie geblieben, wo sie war: auf der Bank. Von allen Lösungen war dies die sicherste. Aber Mrs. Foster war erschöpft, und zudem wurde ihr klar, dass sie, eine ältere Dame, sich damit lächerlich machen würde. So ging sie denn schließlich in eine Telefonzelle und rief zu Hause an.

Ihr Mann, der gerade in den Club fahren wollte, meldete sich. Sie berichtete ihm, was geschehen war, und fragte, ob die Dienstboten noch dort seien.

«Die sind alle weg», antwortete er.

«Dann werde ich mir ein Hotelzimmer nehmen. Du brauchst dich keinesfalls um mich zu kümmern.»

«Das wäre verrückt», entgegnete er. «Hier hast du doch das ganze Haus zu deiner Verfügung.»

«Aber, mein Lieber, es ist leer

«Dann bleibe ich eben bei dir.»

«Wir haben auch nichts zu essen im Hause. Nichts.»

«Iss, bevor du kommst. Sei nicht so dumm. Du bist wirklich das unbeholfenste Geschöpf, das mir je begegnet ist.»

«Ja», sagte sie. «Es tut mir leid. Ich werde hier ein Sandwich essen und dann kommen.»

Draußen hatte sich der Nebel ein wenig gelichtet, aber sie musste trotzdem eine lange, langsame Taxifahrt überstehen und traf erst sehr spät in der Zweiundsechzigsten Straße ein.

Ihr Mann öffnete die Tür seines Arbeitszimmers, als er ihren Schritt hörte. «Nun?», fragte er von der Schwelle her. «Wie war’s in Paris?»

«Ich fliege morgen früh um elf», antwortete sie. «Endgültig.»

«Du meinst, wenn sich der Nebel verzieht.»

«Er verzieht sich jetzt schon. Es ist Wind aufgekommen.»

«Du siehst müde aus», sagte er. «Du hattest gewiss einen unruhigen Tag.»

«Sehr angenehm war’s nicht. Ich denke, ich gehe gleich zu Bett.»

«Ich habe für morgen um neun einen Wagen bestellt.»

«Ach, vielen Dank, Lieber. Und ich hoffe wirklich, du wirst dir nicht die Mühe machen, wieder mit hinauszufahren.»

«Nein», sagte er langsam. «Ich glaube nicht, dass ich mitkommen werde. Aber eigentlich könntest du mich unterwegs im Club absetzen.»

Sie schaute ihn an und hatte plötzlich das Gefühl, er stehe weit weg von ihr, jenseits irgendeiner Grenze. Er wirkte so klein, so entfernt, dass sie nicht recht wusste, was er tat, was er dachte oder auch nur, was er war.

«Der Club ist in der City», wandte sie ein. «Das ist nicht die Richtung zum Flugplatz.»

«Du hast reichlich Zeit, meine Liebe. Oder magst du mir den Gefallen nicht tun?»

«Doch, natürlich.»

«Dann ist ja alles in Ordnung. Wir sehen uns morgen früh um neun.»

Sie ging in ihr Zimmer im zweiten Stock und war so erschöpft von den Anstrengungen dieses Tages, dass sie sofort einschlief.

Am nächsten Morgen stand Mrs. Foster zeitig auf, und um halb neun war sie bereits reisefertig.

Kurz nach neun erschien ihr Mann. «Hast du Kaffee gemacht?», fragte er.

«Nein», antwortete sie. «Ich dachte, du würdest im Club ein gutes Frühstück bekommen. Der Wagen ist da. Er wartet schon eine ganze Weile.»

Sie standen in der Halle – neuerdings schienen sie sich immer in der Halle zu treffen –, sie in Hut und Mantel, die Handtasche über dem Arm, er in einem altmodischen Jackett mit breiten Aufschlägen.

«Dein Gepäck?»

«Das ist auf dem Flugplatz.»

«Ach ja», sagte er, «natürlich. Wenn du mich zuerst in den Club bringen willst, dann sollten wir wohl lieber gleich aufbrechen, wie?»

«Ja!», rief sie. «O ja – bitte

«Ich hole mir nur noch ein paar Zigarren. Geh ruhig schon vor, ich komme sofort nach.»

Sie drehte sich um und eilte hinaus. Der Chauffeur öffnete ihr die Wagentür.

«Wie spät ist es?», fragte sie ihn.

«Ungefähr neun Uhr fünfzehn.»

Fünf Minuten darauf kam Mr. Foster. Er stieg langsam die Stufen hinunter, und seine Frau stellte fest, dass er in den engen Röhrenhosen, die er trug, Beine wie ein Ziegenbock hatte. Wie tags zuvor blieb er auf halbem Wege stehen, schnupperte die Luft und betrachtete den Himmel. Wenn auch das Wetter noch nicht ganz klar war, so drangen doch ein paar Sonnenstrahlen durch den Dunst.

«Vielleicht hast du diesmal mehr Glück», meinte er und kletterte in den Wagen.

«Beeilen Sie sich, bitte», sagte sie zu dem Chauffeur. «Halten Sie sich nicht mit der Decke auf. Das mache ich schon. Bitte fahren Sie, wir haben uns ohnehin verspätet.»

Der Mann setzte sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. «Moment mal», meldete sich Mr. Foster plötzlich. «Warten Sie einen Augenblick, Chauffeur, ja?»

«Was ist denn, Lieber?» Sie sah ihn in seinen Manteltaschen wühlen.

«Ich hatte ein kleines Geschenk, das du Ellen mitbringen solltest», sagte er. «Herrje, wo ist es denn nur? Ich weiß genau, dass ich’s in der Hand hatte, als ich in die Halle kam.»

«Mir ist gar nicht aufgefallen, dass du etwas trugst. Was für ein Geschenk?»

«Eine kleine, in weißes Papier gewickelte Schachtel. Ich habe gestern vergessen, sie dir zu geben. Heute möchte ich es nicht wieder vergessen.»

«Eine kleine Schachtel!», rief Mrs. Foster. «Ich habe keine kleine Schachtel gesehen!» Sie suchte fieberhaft auf den Wagensitzen herum. Ihr Mann kramte weiter in seinen Taschen. Dann knöpfte er den Mantel auf und tastete sein Jackett ab. «Zu dumm», sagte er. «Ich muss es im Schlafzimmer gelassen haben. Warte, ich bin sofort wieder da.»

«Bitte!», flehte sie. «Wir haben keine Zeit! Bitte, lass es! Du kannst es schicken. Es ist ja doch nur ein alberner Kamm. Du schenkst ihr immer Kämme.»

«Und was hast du gegen Kämme, wenn ich fragen darf?» Er war wütend, weil sie sich so hatte gehenlassen.

«Gar nichts, mein Lieber. Gewiss nicht. Aber …»

«Warte hier», befahl er. «Ich hole die Schachtel.»

«Mach schnell, Lieber! Bitte, mach schnell!»

Sie saß im Wagen und wartete und wartete.

«Chauffeur, wie spät ist es?»

Der Mann schaute auf seine Armbanduhr. «Gleich halb zehn.»

«Schaffen wir’s in einer Stunde bis zum Flughafen?»

«Ja, mit knapper Not.»

In diesem Augenblick entdeckte Mrs. Foster plötzlich die Ecke von etwas Weißem, das zwischen Sitz und Lehne eingekeilt war, dort, wo ihr Mann gesessen hatte. Sie zog ein in Papier gewickeltes Päckchen heraus und stellte unwillkürlich fest, dass es so tief im Polster steckte, als hätte eine Hand nachgeholfen.

«Hier ist es!», rief sie. «Ich hab’s gefunden! Oje, und nun sucht er da oben alles durch! Chauffeur, rasch – laufen Sie hinein und rufen Sie ihn, wenn Sie so gut sein wollen!»

Dem Chauffeur, einem Mann mit einem trotzigen, schmallippigen irischen Mund, passte das alles nicht recht, aber er stieg aus und ging die Stufen zur Haustür hinauf. Gleich darauf kam er zurück: «Die Tür ist zu», sagte er. «Haben Sie den Schlüssel?»

«Ja, einen Moment …» Sie kramte wild in ihrer Handtasche. Ihr kleines Gesicht war vor Angst verzerrt, der Mund krampfhaft zusammengepresst.

«Hier! Nein – ich gehe selbst. Das ist besser. Ich weiß, wo er ist.»

Sie sprang aus dem Wagen und eilte die Stufen hinauf, den Schlüssel in der Hand. Schon hatte sie ihn ins Schlüsselloch gesteckt, war im Begriff, ihn zu drehen – da hielt sie inne. Sie hob den Kopf und stand vollständig regungslos, wie erstarrt inmitten all der Hast, die Tür zu öffnen und das Haus zu betreten. Sie wartete – fünf Sekunden, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Wie sie da stand, mit erhobenem Kopf und angespanntem Körper, schien sie zu lauschen, ob sich ein Laut wiederholen werde, den sie soeben aus dem Innern des Hauses gehört hatte.

Ja, sie lauschte – das war offensichtlich. Ihre ganze Haltung drückte Lauschen aus. Man sah förmlich, wie sie ihr Ohr immer näher an die Tür brachte. Nun lag es unmittelbar an dem Holz, und sekundenlang behielt sie diese Stellung bei: den Kopf erhoben, das Ohr an der Tür, den Schlüssel in der Hand, bereit einzutreten, aber doch nicht eintretend und stattdessen offenbar bemüht, die schwachen Laute zu analysieren, die aus dem Innern des Hauses drangen.

Auf einmal kam wieder Leben in Mrs. Foster. Sie zog den Schlüssel aus der Tür, machte kehrt und rannte zum Wagen zurück.

«Es ist zu spät!», rief sie dem Chauffeur zu. «Ich kann nicht auf ihn warten, ich kann einfach nicht, weil ich sonst das Flugzeug versäume. Fahren Sie, Chauffeur, rasch! Zum Flugplatz!»

Hätte der Mann sie genau betrachtet, so wäre ihm zweifellos aufgefallen, dass sie kreidebleich geworden war und dass sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich verändert hatte. Keine Spur mehr von ihrem sanften, ziemlich einfältigen Blick. Eine merkwürdige Härte hatte sich über ihre Züge verbreitet. Der kleine, sonst so schlaffe Mund war schmal und fest, die Augen blitzten, und als sie sprach, klang aus ihrer Stimme eine ungewohnte Autorität. «Schnell, Chauffeur, schnell!»

«Reist denn Ihr Mann nicht mit Ihnen?», fragte er erstaunt.

«O nein, ich wollte ihn nur im Club absetzen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Er wird’s schon einsehen und sich ein Taxi nehmen. Reden Sie nicht so lange. Fahren Sie! Ich muss die Maschine nach Paris erreichen!»

Unaufhörlich von Mrs. Foster angetrieben, fuhr der Mann wie die Feuerwehr, sodass er sie einige Minuten vor dem Start des Flugzeugs in Idlewild absetzen konnte. Bald war sie hoch über dem Atlantik, behaglich in ihren Sessel gelehnt, dem Motorengebrumm lauschend, in Gedanken schon in Paris. Noch immer befand sie sich in dieser neuen Stimmung. Sie fühlte sich ungemein kräftig und empfand ein eigenartiges Wohlbehagen. Wenn sie ein wenig atemlos war, so kam das mehr von der Verwunderung über das, was sie getan hatte, als von sonst etwas, und während sich das Flugzeug immer weiter von New York und der Zweiundsechzigsten Straße entfernte, senkte sich eine große Ruhe auf sie herab. Bei der Ankunft in Paris war sie so frisch, kühl und gelassen, wie sie es sich nur wünschen konnte.

Sie lernte ihre Enkelkinder kennen und fand sie in Fleisch und Blut noch viel schöner als auf den Fotos. Wie Engel, sagte sie sich, wie Engel sind sie! Und jeden Tag ging sie mit ihnen spazieren, fütterte sie mit Kuchen, kaufte ihnen Geschenke und erzählte ihnen wunderhübsche Geschichten.

Einmal in der Woche, am Dienstag, schrieb sie ihrem Mann einen netten Plauderbrief, voll von Neuigkeiten und Klatsch, den sie stets mit den Worten schloss: «Und bitte, achte darauf, dass Du regelmäßig isst, obgleich ich befürchte, Du wirst das nicht tun, solange ich weg bin.»

Als die sechs Wochen um waren, bedauerten alle, dass sie nach Amerika zurückkehren musste. Alle, nur sie nicht. Merkwürdigerweise schien ihr das nicht so viel auszumachen, wie man hätte erwarten können, und als sie ihre Lieben zum Abschied küsste, deutete irgendetwas in ihrem Verhalten und in ihren Worten auf die Möglichkeit hin, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft wiederkommen werde.

Pflichtgetreu, wie sie war, hielt sie sich streng an das vereinbarte Datum. Genau sechs Wochen nach ihrer Ankunft schickte sie ihrem Mann ein Kabel und bestieg die Maschine nach New York.

In Idlewild stellte Mrs. Foster mit Interesse fest, dass kein Wagen auf sie wartete. Vielleicht amüsierte sie das sogar ein wenig. Sie war jedoch sehr ruhig und gab dem Träger, der ihr Gepäck zum Taxi schaffte, kein übertrieben hohes Trinkgeld.

In New York war es kälter als in Paris, und an den Straßenrändern lagen schmutzige Schneehaufen. Das Taxi hielt vor dem Haus in der Zweiundsechzigsten Straße, und Mrs. Foster überredete den Chauffeur, ihre beiden großen Koffer bis zur Haustür zu tragen. Dann bezahlte sie ihn und läutete. Sie wartete, aber niemand kam. Sicherheitshalber drückte sie noch einmal auf den Knopf. Sie hörte die Glocke im hinteren Teil des Hauses schrillen, doch nichts rührte sich.

So nahm sie denn ihren eigenen Schlüssel und schloss auf.

Das Erste, was sie bei ihrem Eintritt erblickte, war ein Berg von Briefen, die auf dem Boden lagen, wie sie durch den Türschlitz gefallen waren. In der Halle war es dunkel und kalt. Über der alten Uhr hing eine Staubhülle. Trotz der Kälte war die Luft merkwürdig drückend, und Mrs. Foster spürte einen schwachen eigentümlichen Geruch, den sie nie zuvor wahrgenommen hatte.

Mit schnellen Schritten durchquerte sie die Halle und bog hinten links um die Ecke. In ihren Bewegungen war etwas Energisches und Zielbewusstes; sie wirkte wie eine Frau, die einer Sache auf den Grund gehen, die Bestätigung eines Verdachts suchen will. Und als sie nach ein paar Sekunden zurückkam, lag auf ihrem Gesicht ein kleiner Schimmer von Befriedigung.

Mitten in der Halle blieb sie stehen, als dächte sie darüber nach, was sie nun tun solle. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um und ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Auf dem Schreibtisch lag ein Notizbuch. Sie blätterte eine Weile darin, nahm dann den Telefonhörer ab und stellte eine Verbindung her.

«Hallo», sagte sie, «hören Sie – hier ist Nummer neun, Zweiundsechzigste Straße Ost … Ja, ganz recht. Könnten Sie wohl so bald wie möglich jemanden herüberschicken? Ja, er ist steckengeblieben, vermutlich zwischen der zweiten und der dritten Etage. Das ist jedenfalls der Stand, den der Anzeiger angibt … Sofort? Ach, das ist sehr freundlich von Ihnen. Wissen Sie, für meine Beine ist das viele Treppensteigen nichts mehr. Recht schönen Dank. Auf Wiederhören.»

Sie legte auf, blieb an dem Schreibtisch ihres Mannes sitzen und wartete geduldig auf den Monteur, der den Aufzug reparieren sollte.

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