Unser Held machte sich auf den Weg nach der Stadt New York, um Mr. Zuckermann aufzusuchen. Er reiste zu Fuß, schlief hinter Hecken, lebte von Beeren und wilden Kräutern und brauchte sechzehn Tage, um die Metropole zu erreichen.
«Was für ein erstaunlicher Ort», rief er, als er an der Ecke der Siebenundfünfzigsten Straße und der Fifth Avenue Umschau hielt. «Nirgends Kühe, nirgends Hühner, und von all den vielen Frauen sieht keine wie Tante Glosspan aus.»
Was Mr. Zuckermann betraf, so ließ auch er sich mit nichts vergleichen, was Lexington je gesehen hatte.
Der Anwalt war ein schwammiger kleiner Mann mit fahlen Wangen und einer riesigen blauroten Nase, und wenn er lächelte, schossen aus seinem Mund herrliche goldene Blitze. In seinem vornehm eingerichteten Büro drückte er Lexington warm die Hand und gratulierte ihm zum Tod seiner Tante.
«Ich nehme an, Sie wissen, dass Ihre verehrte Pflegemutter eine sehr wohlhabende Frau war?», fragte er.
«Meinen Sie die Kühe und die Hühner?»
«Ich meine eine halbe Million Dollar», sagte Mr. Zuckermann.
«Wie viel?»
«Eine halbe Million, mein Junge. Und dieses Vermögen hat sie Ihnen vermacht.» Mr. Zuckermann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände über dem wabbeligen Bauch. Gleichzeitig schob er heimlich den rechten Zeigefinger durch die Weste und unter das Hemd, um sich in der Nabelgegend zu kratzen – eine Beschäftigung, die ihm besonderen Genuss bereitete. «Natürlich muss ich fünfzig Prozent für meine Bemühungen abziehen», fügte er hinzu, «aber zweihundertfünfzigtausend bleiben immerhin für Sie übrig.»
«Ich bin reich!», rief Lexington. «Wie herrlich! Wann kann ich das Geld haben?»
«Nun», sagte Mr. Zuckermann, «zum Glück stehe ich mit den Steuerbehörden hier in der Gegend auf ziemlich freundschaftlichem Fuß, und so werde ich sie wohl überreden können, dass sie auf alle Erbschaftssteuern und sonstigen Abgaben verzichten.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen», murmelte Lexington.
«Natürlich werde ich dem zuständigen Herrn ein kleines Honorar zahlen müssen.»
«Tun Sie, was Sie für richtig halten, Mr. Zuckermann.»
«Ich denke, hunderttausend werden genügen.»
«Du lieber Himmel, ist das nicht sehr viel?»
«Bei Steuerinspektoren und Polizisten darf man sich nie knauserig zeigen», erklärte Mr. Zuckermann. «Merken Sie sich das für die Zukunft.»
«Und was bleibt für mich übrig?», fragte der Jüngling in sanftem Ton.
«Einhundertfünfzigtausend. Aber davon gehen noch die Begräbniskosten ab.»
«Begräbniskosten?»
«Sie müssen das Bestattungsinstitut bezahlen. Ist Ihnen das nicht bekannt?»
«Ich habe sie doch selbst begraben, Mr. Zuckermann. Hinter dem Kuhstall.»
«Daran zweifle ich nicht», erwiderte der Rechtsanwalt. «Trotzdem …»
«Ich habe kein Bestattungsinstitut in Anspruch genommen.»
«Hören Sie», sagte Mr. Zuckermann geduldig. «Sie werden es vielleicht nicht wissen, aber wir haben in dieser Stadt ein Gesetz, demzufolge kein Testamentserbe einen Pfennig vom Nachlass bekommt, solange die Begräbniskosten nicht restlos beglichen sind.»
«Das ist ein Gesetz?»
«Allerdings, und zwar ein sehr gutes. Die Bestattungsinstitute gehören zu unseren großen nationalen Errungenschaften und müssen unter allen Umständen geschützt werden.»
Mit einer Gruppe auf das Gemeinwohl bedachter Ärzte leitete Mr. Zuckermann selbst ein Unternehmen dieser Art, das in der Stadt neun luxuriös eingerichtete Institute besaß, ganz zu schweigen von einer Sargfabrik in Brooklyn und einer Fortbildungsschule für Einbalsamierer in Washington Heights. Folglich waren feierliche Beisetzungen in Mr. Zuckermanns Augen eine durch und durch religiöse Angelegenheit. Ja, das alles bewegte ihn tief – fast so tief, möchte man sagen, wie die Geburt Jesu Christi den Krämer.
«Sie hatten kein Recht, Ihre Tante auf diese Weise zu beerdigen», erklärte er. «Absolut kein Recht.»
«Es tut mir sehr leid, Mr. Zuckermann.»
«Gerade umstürzlerisch ist das.»
«Ich will ja alles tun, was Sie sagen, Mr. Zuckermann. Aber ich möchte gern wissen, wie viel mir bleibt, wenn auch das erledigt ist.»
Eine Pause entstand. Mr. Zuckermann seufzte, runzelte die Stirn und fuhr insgeheim fort, mit der Fingerspitze den Rand seines Nabels zu bearbeiten.
«Wie wär’s mit fünfzehntausend?», schlug er vor und ließ ein breites goldenes Lächeln aufblitzen. «Das ist eine hübsche, runde Summe.»
«Kann ich das Geld gleich mitnehmen?»
«Bitte sehr, wie Sie wünschen.»
Mr. Zuckermann rief seinen Kassierer und wies ihn an, Lexington aus der Kleingeldkasse fünfzehntausend Dollar gegen Quittung zu verabfolgen. Der Jüngling, der mittlerweile froh war, überhaupt etwas zu bekommen, nahm das Geld dankbar an und steckte es in sein Ränzel. Dann schüttelte er Mr. Zuckermann die Hand, dankte ihm herzlich für seine Hilfe und verließ das Büro.
«Die Welt gehört mir!», rief unser Held, als er auf die Straße hinaustrat. «Jetzt habe ich fünfzehntausend Dollar, von denen ich leben kann, bis mein Buch erschienen ist. Und dann werde ich natürlich noch viel mehr haben.» Er stand vor Mr. Zuckermanns Haus und überlegte, in welche Richtung er gehen sollte. Schließlich wandte er sich nach links, schlenderte gemächlich die Straße hinunter und bewunderte die Sehenswürdigkeiten der Großstadt.
«Was für ein widerwärtiger Geruch», sagte er schnüffelnd. «Das ist ja nicht auszuhalten.» Für seine empfindlichen Geruchsnerven, die nur an die köstlichsten Küchendüfte gewöhnt waren, bedeutete der Gestank der aus den Omnibussen dringenden Auspuffgase eine wahre Folter.
«Nur fort von hier, bevor meine Nase völlig ruiniert ist», murmelte er. «Aber zuerst muss ich etwas zu essen haben. Ich sterbe vor Hunger.» Der arme Junge hatte in den letzten Wochen nur von Beeren und wilden Kräutern gelebt, und sein Magen schrie nach einer soliden Mahlzeit. Jetzt hätte ich gern ein hübsches Maiskotelett, dachte er, oder vielleicht ein paar saftige Schwarzwurzelpfannkuchen.
Er überquerte die Straße und trat in ein kleines Restaurant. Drinnen war es heiß, dunkel und still. Ein durchdringender Geruch nach Bratfett und Kohlwasser erfüllte die Luft. Der einzige Gast, ein Mann mit einem braunen Hut auf dem Kopf, saß hingegeben über sein Essen gebeugt und sah bei Lexingtons Eintritt nicht auf.
Unser Held nahm an einem Ecktisch Platz und hängte sein Ränzel über die Stuhllehne. Das wird höchst interessant, sagte er sich. Zeit meines Lebens, also siebzehn Jahre lang, habe ich nur Gerichte gegessen, die Tante Glosspan oder ich gekocht hatten – abgesehen natürlich von der Milch, die mir McPottle gewärmt haben muss, solange ich ihr anvertraut war. Jetzt aber habe ich Gelegenheit, die Kunst eines neuen Küchenchefs zu begutachten, und mit einigem Glück springen dabei vielleicht ein paar nützliche Anregungen für mein Buch heraus.
Ein Kellner löste sich aus dem Schatten des Hintergrundes und blieb neben dem Tisch stehen.
«Guten Tag», sagte Lexington. «Ich möchte, bitte, ein großes Maiskotelett haben. Braten Sie es in einer sehr heißen Pfanne fünfundzwanzig Sekunden auf jeder Seite, richten Sie es mit saurer Sahne an und streuen Sie vor dem Servieren eine Prise Liebstöckel darüber – es sei denn, dass Ihr Chef eine originellere Methode hat, die kennenzulernen ich natürlich entzückt wäre.»
Der Kellner legte den Kopf schräg und starrte seinen Gast misstrauisch an. «Schnitzel mit Kohl können Sie haben», erwiderte er. «Etwas anderes ist nicht mehr da.»
«Schnitzel? Was für ein Schnitzel?»
Der Kellner zog ein schmutziges Taschentuch heraus, das er an einem Zipfel fasste und wie eine Peitsche heftig durch die Luft schlug. Dann schnäuzte er sich laut und ausgiebig.
«Wollen Sie’s nehmen oder nicht?», fragte er, während er sich die Nase wischte.
«Ich habe keine Ahnung, woraus dieses Schnitzel besteht», antwortete Lexington, «aber ich würde es gern kosten. Wissen Sie, ich schreibe nämlich ein Kochbuch und …»
«Ein Schnitzel mit Kohl!», schrie der Kellner, und irgendwo in den hinteren Räumen des Restaurants wiederholte eine ferne Stimme die Bestellung.
Der Kellner verschwand. Lexington holte sein Messer und seine Gabel aus dem Ränzel. Tante Glosspan hatte ihm das Besteck aus schwerem Silber zu seinem sechsten Geburtstag geschenkt, und seither hatte er nie ein anderes benutzt. Während er auf das Essen wartete, polierte er Messer und Gabel sorgfältig mit einem Lappen aus weichem Musselin. Bald erschien der Kellner mit einem Teller, auf dem eine dicke goldbraune Scheibe dampfte. Lexington beugte sich vor und schnupperte neugierig an dem unbekannten Gericht. Seine Nasenflügel blähten sich zitternd, um den Geruch aufzunehmen.
«Aber das ist ja himmlisch!», rief er aus. «Dieses köstliche Aroma! Phantastisch!» Der Kellner trat einen Schritt zurück, ohne seinen Gast aus den Augen zu lassen.
«Nie im Leben habe ich etwas so herrlich Würziges gerochen», erklärte unser Held und griff nach seinem Besteck. «Woraus ist denn das nur gemacht?»
Der Mann mit dem braunen Hut drehte sich um, glotzte den Jüngling an und aß dann weiter. Der Kellner steuerte im Rückwärtsgang auf die Küche zu.
Lexington schnitt ein Stückchen von der dampfenden Scheibe ab, spießte es auf seine silberne Gabel und führte es an die Nase, um noch einmal daran zu riechen. Dann steckte er es in den Mund und begann langsam zu kauen, mit halbgeschlossenen Augen und gespanntem Körper.
«Wunderbar!», rief er. «Ein ganz neuer Geschmack! O Glosspan, geliebte Tante, wärst du doch bei mir und könntest dieses bemerkenswerte Gericht kosten! Kellner! Kommen Sie schnell her! Ich brauche Sie!»
Der eingeschüchterte Kellner beobachtete ihn vom anderen Ende des Raumes und schien nicht gewillt, dem Ruf zu folgen.
«Wenn Sie herkommen und mit mir reden, schenke ich Ihnen dies», sagte Lexington und schwenkte eine Hundertdollarnote. «Bitte, kommen Sie, ich muss Sie etwas fragen.» Vorsichtig schlich sich der Kellner an den Tisch heran, griff hastig nach dem Geldschein, hielt ihn dicht vor die Augen, betrachtete ihn von allen Seiten und ließ ihn dann in der Tasche verschwinden.
«Was kann ich für Sie tun, lieber Freund?», erkundigte er sich.
«Hören Sie zu», antwortete Lexington, «wenn Sie mir mitteilen, woraus dieses köstliche Gericht besteht und wie es zubereitet wird, dann gebe ich Ihnen noch einmal hundert Dollar.»
«Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt. Es ist Schnitzel.»
«Und was ist Schnitzel?»
«Haben Sie denn noch nie Schnitzel gegessen?» Der Kellner sah ihn verwundert an.
«Sagen Sie mir um Himmels willen, was es ist, und spannen Sie mich nicht so auf die Folter.»
«Schweinefleisch ist es», erwiderte der Kellner. «Man braucht’s nur in die Pfanne zu legen.»
«Schweinefleisch? Ist das wahr?»
«Dafür kann ich Ihnen garantieren.»
«Aber … aber … das ist unmöglich», stammelte der Jüngling. «Tante Glosspan, die mehr von solchen Dingen verstand als sonst jemand auf der Welt, hat immer behauptet, dass Fleisch jeder Art abscheulich sei, ekelerregend, schrecklich, widerwärtig, mit einem Wort ungenießbar. Und doch ist das Stück hier auf meinem Teller zweifellos das Leckerste, was ich je gekostet habe. Wie in aller Welt erklären Sie sich das? Tante Glosspan hätte mir gewiss nicht gesagt, es sei widerlich, wenn es nicht so wäre.»
«Vielleicht hat Ihre Tante das Fleisch nicht richtig zubereitet», meinte der Kellner.
«Ist das möglich?»
«Aber ja. Besonders bei Schwein, Schwein muss sehr sorgfältig zubereitet werden, sonst kann man’s nicht essen.»
«Heureka!», rief Lexington. «Ich wette, genauso war es! Sie hat es falsch gemacht!» Er drückte dem Mann einen zweiten Hundertdollarschein in die Hand. «Führen Sie mich in die Küche», bat er, «und stellen Sie mich dem Genie vor, das dieses Gericht zubereitet hat.»
Sofort wurde Lexington in die Küche geleitet, wo er den Koch kennenlernte, einen älteren Mann mit einem Hautausschlag auf einer Seite des Halses.
«Sie müssen aber noch einen Hunderter herausrücken», bemerkte der Kellner.
Lexington tat das mit größter Bereitwilligkeit, doch diesmal gab er das Geld dem Koch. «Hören Sie», sagte er, «ich muss gestehen, dass ich von dem, was mir der Kellner erzählt hat, ganz verwirrt bin. Sind Sie wirklich sicher, dass jenes köstliche Gericht, das ich soeben verzehrt habe, aus Schweinefleisch gemacht war?»
Der Koch hob die rechte Hand und kratzte sich an seinem Ausschlag.
«Nun», antwortete er und blinzelte dabei dem Kellner listig zu, «ich kann nur so viel sagen, dass ich glaube, es war Schweinefleisch.»
«Sie meinen, Sie wissen es nicht genau?»
«Genau weiß man so etwas nie.»
«Was könnte es denn sonst gewesen sein?», fragte Lexington interessiert.
«Hm …» Der Koch sprach sehr langsam und blickte den Kellner unverwandt an. «Sehen Sie, es besteht immerhin die Möglichkeit, dass es ein Stück Mensch war.»
«Von einem Mann?»
«Ja.»
«Du lieber Himmel.»
«Vielleicht auch von einer Frau. Der Geschmack ist in beiden Fällen der Gleiche.»
«Nun, das ist wirklich überraschend», meinte der Jüngling. «Man lernt nie aus.»
«Ja, das stimmt.»
«Erst kürzlich haben uns die Metzger große Mengen davon statt Schweinefleisch geliefert», sagte der Koch.
«Tatsächlich?»
«Das Schlimme ist, dass man nie weiß, welches welches ist. Gut ist beides.»
«Das Stück, das ich hatte, war einfach herrlich.»
«Freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat», erwiderte der Koch. «Aber um ehrlich zu sein, ich denke, es war vom Schwein. Ich bin sogar ziemlich sicher.»
«Ja?» – «Ja, wirklich.»
«Dann wollen wir also annehmen, dass Sie recht haben», sagte Lexington. «Würden Sie mir jetzt wohl erzählen – und hier sind nochmals hundert Dollar für Ihre Mühe –, würden Sie mir, bitte, genau erzählen, wie Sie es zubereitet haben?»
Nachdem der Koch das Geld eingesteckt hatte, erging er sich in einer anschaulichen Beschreibung, wie man ein Schweineschnitzel klopft, paniert und brät, während sich der Jüngling, um kein Wort von diesem großartigen Rezept zu verlieren, an den Küchentisch setzte und jede Einzelheit in seinem Notizbuch festhielt.
«Ist das alles?», fragte er, als der Koch seinen Vortrag beendet hatte.
«Das ist alles.»
«Aber gewiss gehört doch noch mehr dazu?»
«Vor allem brauchen Sie natürlich ein gutes Stück Fleisch», belehrte ihn der Koch. «Dann haben Sie schon halb gewonnen. Das Schwein muss erstens gesund und zweitens vorschriftsmäßig geschlachtet sein, sonst schmeckt es scheußlich, ganz gleich, wie Sie es zubereiten.»
«Machen Sie es mir vor», bat Lexington. «Schlachten Sie eins, damit ich es lerne.»
«In der Küche schlachten wir keine Schweine», erklärte der Koch. «Das Fleisch, von dem Sie gegessen haben, stammt aus dem Schlachthaus.»
«Dann geben Sie mir die Adresse.»
Der Koch gab sie ihm. Unser Held dankte den beiden vielmals für ihre Freundlichkeit, lief hinaus, sprang in ein Taxi und fuhr zum Schlachthaus.