William und Mary

Viel Geld hinterließ William Pearl nicht, als er starb, und sein Testament war sehr unkompliziert. Mit Ausnahme einiger kleiner Legate an Verwandte hatte er alles, was er besaß, seiner Frau zugedacht.

Der Anwalt und Mrs. Pearl gingen zusammen im Anwaltsbüro das Testament durch, und als das Geschäftliche erledigt war, wollte sich die Witwe verabschieden. In diesem Moment nahm der Anwalt aus einem Aktendeckel einen versiegelten Umschlag und reichte ihn seiner Klientin. «Ich habe den Auftrag, Ihnen dies zu übergeben», sagte er. «Ihr Mann hat es uns kurz vor seinem Hinscheiden geschickt.» Der Anwalt war blass und steif, und da man einer Witwe Respekt schuldet, legte er beim Sprechen den Kopf schräg und blickte zu Boden. «Offenbar handelt es sich um etwas Persönliches, Mrs. Pearl. Sie werden das Schreiben wohl lieber zu Hause lesen wollen, wo Sie ungestört sind.»

Mrs. Pearl nahm den Brief und ging. Auf der Straße blieb sie stehen und betastete den Umschlag mit den Fingern.

Ein Abschiedsbrief von William? Wahrscheinlich. Ein formeller Brief? Ja, bestimmt war er formell – kühl und formell. Anders hätte William gar nicht schreiben können, denn er hatte zeit seines Lebens nichts Unformelles getan.

Meine liebe Mary, ich hoffe und wünsche, dass Dich mein Abschied von dieser Welt nicht zu sehr aufregen wird, und ich bitte Dich, auch weiterhin die Grundsätze zu beachten, von denen Du Dich während unserer Ehe so treulich hast leiten lassen. Sei und bleibe fleißig und wahre in jeder Beziehung Deine Würde. Geh sparsam mit dem Geld um. Sorge vor allem dafür, dass Du nicht … und so weiter und so weiter.

Ein typischer Brief von William.

Oder sollte er etwa in letzter Minute weich geworden sein und ihr etwas Schönes geschrieben haben? Vielleicht war dies eine zärtliche Botschaft, eine Art Liebeserklärung, ein inniger, warmer Dank für die dreißig Jahre ihres Lebens, die sie ihm geschenkt hatte, und für die ungezählten gebügelten Hemden, sorgsam zubereiteten Mahlzeiten und gemachten Betten – ein Brief, den sie wieder und wieder lesen könnte, täglich wenigstens einmal, und den sie für immer in dem Schmuckkasten auf ihrem Toilettentisch aufbewahren würde.

Wenn es ans Sterben geht, ist der Mensch zu allem fähig, sagte sich Mrs. Pearl, klemmte den Umschlag unter den Arm und eilte nach Hause.

Sie schloss die Tür auf, ging geradewegs ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa, ohne Hut und Mantel abzulegen. Dann öffnete sie den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Sie stellte fest, dass es sich um fünfzehn bis zwanzig linierte weiße Bogen handelte, die in der Mitte gefaltet waren und an der linken oberen Ecke von einer Heftklammer zusammengehalten wurden. Jedes Blatt war mit der kleinen, vorwärtsgeneigten Schrift bedeckt, die sie so gut kannte. Als sie jedoch sah, wie viel es war, wie geschäftsmäßig sauber sich Zeile an Zeile reihte und wie sachlich das Schreiben begann – ganz anders, als man es von einem solchen Brief erhofft –, da wurde sie misstrauisch.

Sie hob den Kopf, zündete sich eine Zigarette an, tat einen Zug und legte die Zigarette in den Aschbecher.

Wenn es in diesem Brief um das geht, was ich befürchte, sagte sie sich, dann möchte ich ihn lieber nicht lesen.

Kann man sich weigern, den Brief eines Verstorbenen zu lesen?

Ja.

Also …

Sie warf einen Blick auf Williams leeren Sessel vor dem Kamin. Es war ein großer brauner Ledersessel mit einer Einbuchtung, die von Williams Gesäß herrührte und die mit den Jahren immer tiefer geworden war. Oben an der Rückenlehne hatte Williams Kopf einen dunklen Fleck auf dem Leder hinterlassen. In diesem Stuhl hatte er es sich abends gern mit einem Buch bequem gemacht, während sie ihm gegenüber auf dem Sofa saß, Knöpfe annähte, Socken stopfte oder seine Jacken an den Ellbogen flickte. Hin und wieder hatten dann ein Paar Augen von dem Buch aufgeschaut und zu ihr hinübergeblickt, aufmerksam, aber merkwürdig unpersönlich, als berechneten sie irgendetwas. Diese Augen hatte sie nie gemocht. Sie waren eisblau, kalt, klein und standen ziemlich eng zusammen, durch zwei tiefe senkrechte Linien der Missbilligung getrennt. Dreißig Jahre lang hatten diese Augen sie beobachtet. Und selbst jetzt, nach einer Woche des Alleinseins, hatte sie manchmal das unbehagliche Gefühl, sie seien noch da, folgten ihr, starrten sie aus den Türen an, von leeren Stühlen oder nachts durch ein Fenster.

Langsam griff sie in die Handtasche, nahm ihre Brille heraus und setzte sie auf. Sie hielt die Blätter ziemlich hoch, damit das Licht des späten Nachmittags über ihre Schultern hinweg darauf fiel, und begann zu lesen:

Diese Aufzeichnungen, meine liebe Mary, sind nur für Dich bestimmt, und Du wirst sie bald nach meinem Ableben erhalten.

Erschrick nicht, wenn Du all dies Geschriebene siehst. Es ist nur ein Versuch, Dir genau zu erklären, was Landy mit mir vorhat, warum ich ihm die Erlaubnis dazu gegeben habe und worin seine Theorien und seine Hoffnungen bestehen. Du bist meine Frau und hast ein Recht, das alles zu erfahren. In den letzten Tagen habe ich mich immer wieder bemüht, mit Dir über Landy zu sprechen, aber Du hast Dich beharrlich geweigert, mich anzuhören. Wie ich Dir bereits sagte, ist das eine sehr törichte Einstellung, die mir obendrein nicht ganz frei von Selbstsucht zu sein scheint. Du wehrst Dich hauptsächlich aus Unwissenheit, und ich bin fest überzeugt, dass Du Deine Ansicht sofort ändern würdest, wenn Dir alle Tatsachen bekannt wären. Deswegen hoffe ich, dass Du bereit sein wirst, diesen Brief mit verständnisvoller Aufmerksamkeit zu lesen, wenn ich nicht mehr bei Dir bin und Du Dich innerlich ein wenig beruhigt hast. Dann, das schwöre ich Dir, wird sich Deine Antipathie verflüchtigen und heller Begeisterung Platz machen. Ich wage sogar zu hoffen, dass Du ein wenig stolz auf das sein wirst, was ich getan habe.

Bevor Du weiterliest, bitte ich Dich, die Kühle meines Stils zu verzeihen. Nur so, in dieser Form, wird es mir gelingen, Dir meine Botschaft klar und unmissverständlich zu übermitteln. Da meine Stunde naht, ist es nur natürlich, dass ich anfange, mich allen möglichen Sentimentalitäten hinzugeben. Ich werde von Tag zu Tag empfindsamer, vor allem in den Abendstunden, und ich muss mich streng kontrollieren, damit meine Gefühle diese Seiten nicht überfluten.

So möchte ich zum Beispiel etwas über Dich, liebe Mary, schreiben, Dir sagen, was für eine gute Frau Du mir all die Jahre hindurch gewesen bist, und ich nehme mir vor, das als Nächstes zu tun, wenn ich noch Zeit und Kraft dazu habe.

Es verlangt mich auch, von meinem Oxford zu sprechen, wo ich siebzehn Jahre lang gelebt und gelehrt habe. Wie gern würde ich etwas zum Ruhm dieses Ortes sagen und zu erklären suchen, was es für mich bedeutet hat, dass ich dort wirken durfte. Alles, was ich so sehr an Oxford geliebt habe, dringt unablässig in meinem düsteren Krankenzimmer auf mich ein. Schön sind diese Bilder, strahlend wie immer, und aus irgendeinem Grunde sehe ich sie heute klarer denn je. Der Weg um den See in den Gärten des Worcester College, den Lovelace zu gehen pflegte. Der Torweg in Pembroke. Der Blick westwärts über die Stadt vom Turm des Magdalen College. Die große Halle von Christchurch. Der kleine Steingarten in St. John’s, wo ich mehr als ein Dutzend Varietäten der Campanula gezählt habe, einschließlich der zierlichen und so seltenen C. Waldsteiniana.

Aber Du siehst, kaum habe ich begonnen, da lasse ich mich schon hinreißen. Genug davon, ich fange nun mit meinem Bericht an. Lies ihn langsam, meine Liebe, ohne jede Trauer oder Ablehnung, die Dir das Verständnis erschweren würden. Versprich mir, dass Du langsam lesen und Dich zuvor in eine kühle, geduldige Stimmung versetzen wirst.

Die Einzelheiten der Krankheit, die mich mitten in meinem Leben so unerwartet niedergeworfen hat, sind Dir bekannt. Daran brauche ich also keine Zeit zu verschwenden – es sei denn, dass ich zugeben muss, wie töricht es von mir war, nicht früher zum Arzt zu gehen. Krebs ist eines der wenigen Leiden, gegen die selbst unsere neuesten Medikamente nichts auszurichten vermögen. Ein rechtzeitig vorgenommener Eingriff kann erfolgreich sein; doch ich habe nicht nur zu lange gewartet, sondern das Ding hatte obendrein die Unverschämtheit, meine Bauchspeicheldrüse zu befallen, was Operation und Überleben in gleicher Weise unmöglich macht.

So lag ich denn da, mit der Aussicht, noch einen bis sechs Monate zu leben, und wurde stündlich melancholischer – als plötzlich Landy erschien.

Er kam vor sechs Wochen, an einem Dienstagmorgen, sehr früh, lange vor Deiner Besuchszeit, und schon als er eintrat, witterte ich irgendetwas ganz Ungewöhnliches. Er ging nicht auf den Zehenspitzen wie alle anderen Besucher, die immer blöde und verlegen dreinschauen und nicht wissen, was sie sagen sollen. Frisch und lächelnd kam er an mein Bett, blickte mich mit lebhaft glänzenden Augen an und sagte: «William, mein Junge, das ist ausgezeichnet. Sie sind genau der Mann, den ich brauche.»

Vielleicht ist es besser, Dir zu erklären, dass ich seit mehr als neun Jahren mit John Landy auf recht freundschaftlichem Fuße stehe, obgleich er nicht bei uns verkehrt hat, Du ihm also selten oder nie begegnet bist. Ich selbst beschäftige mich natürlich vorwiegend mit Philosophie, habe aber, wie Du weißt, in letzter Zeit auch ziemlich viel in die Psychologie hineingepfuscht, sodass Landys und meine Interessen sich gelegentlich überschnitten. Er ist ein hervorragender Neurochirurg, einer der besten, und war vor kurzem so liebenswürdig, mir einige seiner Forschungsergebnisse zugänglich zu machen, besonders über die Wirkungen der Präfrontal-Lobotomie auf verschiedene Typen von Psychopathen. Du siehst also, dass wir uns keineswegs fremd waren, als er an jenem Dienstagmorgen unerwartet bei mir auftauchte.

«Na, mein Lieber», sagte er, während er sich einen Stuhl ans Bett zog, «in ein paar Wochen werden Sie also tot sein. Stimmt’s?»

Aus Landys Mund klang die Bemerkung keineswegs unfreundlich. Im Grunde war es erfrischend, dass endlich einmal ein Besucher den Mut hatte, das verbotene Thema anzuschneiden.

«In diesem Zimmer», fuhr er fort, «werden Sie den letzten Atemzug tun, und dann wird man Sie hinausbringen und verbrennen.»

«Begraben», sagte ich.

«Noch schlimmer. Und dann? Glauben Sie, dass Sie in den Himmel kommen?»

«Das bezweifle ich», war meine Antwort, «so tröstlich dieser Gedanke auch wäre.»

«Oder vielleicht in die Hölle?»

«Womit sollte ich das wohl verdient haben?»

«Kann man nie wissen, mein lieber William.»

«Was soll das alles?», fragte ich.

«Nun», sagte er, und ich sah, dass er mich aufmerksam betrachtete, «ich persönlich glaube nicht, dass Sie nach Ihrem Tode jemals wieder von sich hören werden – es sei denn …» Er machte eine Pause, lächelte und beugte sich ein wenig vor, «… es sei denn, Sie wären so vernünftig, sich meinen Händen anzuvertrauen. Sind Sie bereit, einen Vorschlag zu erwägen?»

Er blickte mich unverwandt an, forschend, abschätzend, mit einem merkwürdigen Ausdruck der Begierde, als wäre ich ein besonders gutes Stück Fleisch auf dem Ladentisch, das er gekauft hatte und nun einpacken lassen wollte.

«Ganz im Ernst, William, sind Sie bereit, einen Vorschlag zu erwägen?»

«Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.»

«Sie werden es gleich erfahren. Wollen Sie mich anhören?»

«Meinetwegen, wenn Ihnen so viel daran liegt. Schaden wird’s mir ja wohl nicht.»

«Im Gegenteil, es kann Ihnen viel nützen – vor allem nach Ihrem Tode

Sicherlich hatte er erwartet, ich würde erschrecken, aber irgendwie war ich vorbereitet. Ich sah ihm ruhig ins Gesicht und beobachtete, wie sein freundliches Lächeln auf der linken Mundseite die goldene Klammer entblößte, die im Oberkiefer um den Eckzahn griff.

«Ja, William, es handelt sich um eine Sache, an der ich seit Jahren im Stillen arbeite. Ein oder zwei Kollegen haben mir hier im Hospital geholfen, vor allem Morrison, und wir können eine Anzahl recht erfolgreicher Versuche an Tieren verzeichnen. Nun bin ich so weit, dass ich mich an einen Menschen wagen kann. Es ist eine grandiose Idee, die Ihnen zuerst etwas ausgefallen erscheinen mag, doch vom Standpunkt des Chirurgen gibt es keinen Grund, warum sie nicht mehr oder weniger ausführbar sein sollte.»

Landy beugte sich noch weiter vor und stützte beide Hände auf meine Bettkante. Er ist ein gutaussehender Mann, einer von der knochigen Sorte, und er hat nicht den üblichen Arztblick. Du kennst diesen Blick, die meisten haben ihn. Aus ihren Augäpfeln schimmert einem so etwas wie ein melancholisches elektrisches Signal entgegen. Nur ich kann dich retten, bedeutet das. John Landys Augen aber waren groß und strahlend, und es tanzten kleine Begeisterungsfunken darin.

«Vor ziemlich langer Zeit», erzählte er, «habe ich einen kurzen medizinischen Film gesehen, der aus Russland stammte. Eine recht grausige, aber hochinteressante Angelegenheit. Man hat einen Hundekopf gänzlich vom Körper abgetrennt, jedoch den Blutkreislauf durch Arterien und Venen vermittels eines künstlichen Herzens aufrechterhalten. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Der Hundekopf, der ganz für sich auf einer Art Brett ruhte, lebte. Das Gehirn funktionierte, wie durch mehrere Versuche bewiesen wurde. Schmierte man zum Beispiel dem Hund Fressen ums Maul, so kam die Zunge heraus und leckte es ab. Ging jemand durchs Zimmer, so folgten ihm die Hundeaugen.

Dieses Experiment lässt ohne weiteres den Schluss zu, dass Kopf und Gehirn nicht unbedingt mit dem übrigen Körper verbunden sein müssen, um weiterzuleben – vorausgesetzt natürlich, dass für eine Zufuhr von genügend sauerstoffhaltigem Blut gesorgt wird.

Nun, als ich den Film sah, kam mir der Gedanke, nach dem Tode eines Menschen sein Gehirn aus dem Schädel herauszulösen und es als unabhängige Einheit für unbegrenzte Zeit am Leben und in Funktion zu erhalten. Zum Beispiel Ihr Gehirn nach Ihrem Tode.»

«Davon will ich nichts hören», sagte ich.

«Unterbrechen Sie mich nicht, William. Lassen Sie mich ausreden. Wie meine anschließenden Experimente ergeben haben, ist das Gehirn ein besonders selbstgenügsames Objekt. Es stellt seine eigene Hirnrückenmarkflüssigkeit her. Die magischen Prozesse des Denkens und Erinnerns, die in ihm vorgehen, werden offenbar nicht durch das Fehlen der Gliedmaßen, des Rumpfes oder sogar des Schädels beeinträchtigt, vorausgesetzt, wie ich bereits sagte, dass man die richtige Art sauerstoffhaltigen Blutes unter den entsprechenden Bedingungen hineinpumpt.

Und jetzt, mein lieber William, denken Sie einen Augenblick an Ihr eigenes Gehirn. Es ist in tadellosem Zustand. Und vollgestopft mit allem, was Sie in Ihrem Leben gelernt haben. Jahrelange Arbeit war erforderlich, es zu dem zu machen, was es ist. Es hat gerade angefangen, erstklassige eigene Ideen zu produzieren. Und nun soll es bald mit Ihrem übrigen Körper sterben, nur weil Ihre alberne kleine Bauchspeicheldrüse von Krebs zerfressen wird.»

«Nein», sagte ich, «danke. Sprechen Sie nicht weiter. Ich finde den Gedanken einfach widerlich, und selbst wenn Ihnen das Experiment gelänge, was ich bezweifle, hätte es gar keinen Sinn. Wozu sollte man denn mein Gehirn am Leben erhalten, wenn ich nicht mehr imstande wäre, zu sprechen, zu sehen, zu hören oder zu fühlen? Wirklich, ich könnte mir nichts Unangenehmeres vorstellen.»

«Ich glaube aber, es wäre möglich für Sie, mit Ihrer Umwelt in Verbindung zu bleiben», antwortete Landy. «Und wahrscheinlich bringen wir es sogar fertig, Ihnen eine gewisse Sehkraft zu bewahren. Aber gehen wir langsam vorwärts. Auf das alles komme ich später zurück. Fest steht jedenfalls, dass Sie bald sterben werden, und mein Plan geht nicht darauf aus, Sie vor Ihrem Tode auch nur anzurühren. Nehmen Sie doch Vernunft an, William. Kein wirklicher Philosoph kann etwas dagegen haben, seinen toten Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen.»

«Das ist nicht ganz korrekt ausgedrückt», erwiderte ich. «Zuerst müsste nämlich geklärt werden, ob ich nach Ihrem Eingriff tot oder lebendig wäre.»

«Schön», sagte er mit einem leichten Lächeln. «Da haben Sie wohl recht. Aber ich meine trotzdem, Sie sollten mich nicht so schnell abweisen. Lassen Sie mich doch erst mal einige Einzelheiten berichten.»

«Ich habe gesagt, dass ich nichts mehr hören will.»

«Möchten Sie rauchen?» Er hielt mir sein Etui hin.

«Wie Sie wissen, bin ich Nichtraucher.»

Er nahm eine Zigarette und zündete sie mit einem kleinen silbernen Feuerzeug an, das nicht größer als ein Shillingstück war. «Ein Geschenk von den Leuten, die meine Instrumente anfertigen», erklärte er. «Geschickt gemacht, wie?»

Ich besah das Feuerzeug und gab es zurück.

«Darf ich weitersprechen?», fragte er.

«Lieber nicht.»

«Liegen Sie still und hören Sie zu. Sie werden es bestimmt sehr interessant finden.»

Ich nahm einen Teller mit blauen Weintrauben vom Nachttisch, stellte ihn auf meine Brust und begann, von den Beeren zu essen.

«Ich müsste», fuhr Landy fort, «im Augenblick Ihres Todes bereitstehen, damit ich sofort eingreifen und versuchen könnte, Ihr Gehirn am Leben zu erhalten.»

«Sie haben die Absicht, es im Kopf zu lassen?»

«Anfangs muss ich das.»

«Und wohin wollen Sie es nachher tun?»

«Wenn Sie es wissen wollen, in eine Art Becken.»

«Ist das wirklich Ihr Ernst?»

«Aber gewiss.»

«Gut. Weiter.»

«Wenn das Herz stillsteht, bekommt das Gehirn kein frisches Blut und keinen Sauerstoff mehr, und dann sterben seine Gewebe bekanntlich sehr rasch ab. Ungefähr vier bis sechs Minuten, und das ganze Ding ist tot. Schon nach drei Minuten können gewisse Störungen auftreten. Deswegen muss ich sehr schnell arbeiten. Dank unserer Maschine wird es jedoch keine Schwierigkeiten geben.»

«Was ist das für eine Maschine?»

«Das künstliche Herz. Wir haben hier ein sehr gutes, genau nach dem von Alexis Carrel und Lindbergh erfundenen gearbeitet. Es versieht das Blut mit Sauerstoff, hält es in der richtigen Temperatur, pumpt es mit dem erforderlichen Druck weiter und leistet noch andere wertvolle Dienste. Es ist wirklich kein bisschen kompliziert.»

«Erzählen Sie mir, was Sie im Moment des Todes vorhaben», sagte ich. «Was würden Sie zuerst tun?»

«Wissen Sie ungefähr, wie die Gefäße und Adern im Gehirn angeordnet sind?»

«Nein.»

«Dann hören Sie zu. Die Sache ist gar nicht schwierig. Die Blutzufuhr zum Gehirn erfolgt aus zwei Quellen, aus den inneren Halsschlagadern und den vertebralen Arterien. Von beiden gibt es zwei, sodass wir insgesamt vier Arterien haben, die das Gehirn versorgen. Ist das klar?»

«Ja.»

«Die Rückleitung des Blutes ist noch einfacher. Dafür gibt es nur zwei große Venen, die inneren Jugularvenen. Wir haben also vier aufwärts führende Arterien, im Hals natürlich, und zwei abwärts führende Venen. Um das Gehirn herum verzweigen sie sich zwar in andere Kanäle, aber die gehen uns nichts an. Sie spielen bei dem Eingriff keine Rolle.»

«Gut», sagte ich. «Nehmen wir an, ich sei soeben gestorben. Was würden Sie tun?»

«Ich würde sofort Ihren Hals öffnen und die vier Arterien lokalisieren, die Halsschlagadern und die vertebralen Arterien. Ich würde Blut hineinleiten, indem ich in jede eine große Hohlnadel steche, die durch einen Schlauch mit dem künstlichen Herzen verbunden ist.

Dann würde ich rasch die linke und die rechte Jugularvene freilegen und auch diese an die Herzmaschine anschließen, um den Blutkreislauf zu ermöglichen. Nun braucht man nur noch die Maschine einzuschalten, die bereits mit dem geeigneten Blut versehen ist, und dann haben wir’s. Der Blutkreislauf durch Ihr Gehirn wird wieder funktionieren.»

«Dann wäre ich also wie dieser russische Hund.»

«Nein, mein Lieber. Vor allem würden Sie beim Sterben zweifellos das Bewusstsein verlieren und es wahrscheinlich erst nach geraumer Zeit wiedererlangen – wenn überhaupt jemals. Aber ob bei Bewusstsein oder nicht, Ihre Lage wäre sehr interessant, nicht wahr? Sie hätten einen kalten, toten Körper und ein lebendes Gehirn.»

Landy machte eine Pause, um diesen herrlichen Gedanken auszukosten. Der Mann war von seinem Plan derart entzückt, dass er offenbar gar nicht auf die Idee kam, ich könnte anderer Meinung sein.

«Und nun brauchen wir uns nicht mehr so sehr zu beeilen», fuhr er fort. «Das ist auch ganz gut. Wir würden Sie gleich in den Operationssaal fahren, natürlich mitsamt der Maschine, die ja nicht aufhören darf zu pumpen. Das nächste Problem …»

«Schon gut», unterbrach ich ihn. «Das genügt. Weitere Einzelheiten brauche ich nicht zu hören.»

«O doch», erwiderte er. «Ich muss Sie unbedingt bis ins Kleinste über die ganze Prozedur informieren. Denn, sehen Sie, wenn Sie nachher das Bewusstsein wiedererlangen, wird es für Sie doch viel angenehmer sein, genau zu wissen, wo Sie sich befinden, und wie Sie dorthin gekommen sind. Sie müssen mich anhören, und sei es auch nur zu Ihrer eigenen Beruhigung. Einverstanden?»

Ich schaute ihn an, ohne mich zu rühren.

«Das nächste Problem wäre also, Ihr Gehirn intakt und unbeschädigt von Ihrem toten Körper zu trennen. Den Körper brauchen wir nicht. Bei dem hat der Verfall nämlich schon eingesetzt. Schädel und Gesicht sind also nutzlos, ja hinderliche Dinge, die beseitigt werden müssen. Ich will nur das Gehirn haben, das schöne saubere Gehirn, lebend und unversehrt. Wenn Sie auf dem Operationstisch liegen, werde ich darangehen, mit Hilfe einer Säge, einer kleinen, biegsamen Säge, Ihre Schädelkapsel zu entfernen. Da Sie noch immer bewusstlos sind, brauche ich kein Betäubungsmittel anzuwenden.»

«Das kommt überhaupt nicht infrage», widersprach ich.

«Sie werden nichts spüren, William, ich schwöre es Ihnen. Vergessen Sie nicht, dass Sie kurz zuvor gestorben sind.»

«Ohne Betäubungsmittel darf niemand meinen Schädel aufsägen», erklärte ich. Landy zuckte die Achseln. «Mir ist das egal. Wenn Sie es wünschen, gebe ich Ihnen mit Vergnügen etwas Procain. Ich kann sogar Ihren ganzen Kopf, vom Hals aufwärts, in Procain tränken, falls Sie das glücklicher macht.»

«Herzlichen Dank», sagte ich.

«Wissen Sie», fuhr er fort, «manchmal passieren merkwürdige Sachen. Erst vorige Woche brachte man mir einen bewusstlosen Mann; ich öffnete seinen Kopf ohne jedes Betäubungsmittel und operierte ein Blutklümpchen heraus. Ich war noch bei der Arbeit, als er aufwachte und anfing zu reden.

‹Wo bin ich?›, fragte er.

‹Im Krankenhaus.›

‹Nanu›, rief er, ‹ist denn das die Möglichkeit?›

‹Sagen Sie›, fragte ich ihn, ‹belästigt Sie das, was ich da mache?›

‹Nein›, antwortete er. ‹Nicht im Geringsten. Was machen Sie denn überhaupt?›

‹Ich bin gerade dabei, ein Blutklümpchen aus Ihrem Gehirn zu nehmen.›

‹Ist das wahr?›

‹Liegen Sie still. Bewegen Sie sich nicht. Ich bin gleich fertig.›

‹Dann war’s wohl dieses Biest, das mir all die Kopfschmerzen gemacht hat›, sagte er.»

Landy schwieg einen Augenblick und dachte lächelnd an sein Erlebnis zurück.

«Ja, das hat der Mann wörtlich gesagt», begann er von neuem. «Am nächsten Tag aber konnte er sich nicht mehr an den Vorfall erinnern. Seltsames Ding, das Gehirn.»

«Ich will Procain haben», beharrte ich.

«Wie Sie wünschen, William. Kurz und gut, ich werde also eine kleine, biegsame Säge nehmen und sorgfältig Ihr Calvarium entfernen – das gesamte Schädeldach. Dadurch wird die obere Hälfte des Gehirns freigelegt, richtiger gesagt, seine Umhüllung. Sie wissen – oder auch nicht –, dass das Gehirn von drei einzelnen Häuten umgeben ist. Die äußere heißt Dura Mater oder Dura, die mittlere Arachnoidea und die innere Pia Mater oder Pia. Die meisten Laien bilden sich ein, das Gehirn sei ein nacktes Ding, das in einer Flüssigkeit im Kopf schwimmt. Dem ist nicht so. Es ist hübsch sauber in diese drei starken Hüllen verpackt, und die Hirnrückenmarkflüssigkeit befindet sich in dem kleinen Zwischenraum zwischen den beiden inneren Hüllen, dem sogenannten Subarachnoidalraum. Wie ich schon sagte, wird diese Flüssigkeit vom Gehirn hergestellt und durch Osmose in das venöse System geleitet.

Alle drei Hüllen – haben sie nicht hübsche Namen, die Dura, die Arachnoidea, die Pia? – lasse ich unberührt. Aus vielen Gründen, nicht zuletzt deshalb, weil sich in der Dura die venösen Kanäle befinden, die das Blut vom Gehirn in die Jugularvenen ableiten.

Nun haben wir also die Schädelkalotte entfernt, sodass der obere Teil des Gehirns mit den Hirnhäuten sichtbar wird. Der nächste, ziemlich schwierige Schritt ist, das ganze Paket loszulösen, damit man es unversehrt herausnehmen und die Stümpfe der vier Arterien und der beiden Venen sogleich wieder mit der Maschine verbinden kann. Dieses Ausschälen ist eine ungemein umständliche und komplizierte Prozedur, weil man mit aller Vorsicht eine Menge Knochen wegmeißeln, viele Nerven abtrennen sowie zahlreiche Blutgefäße durchschneiden und abbinden muss. Es gibt nur eine Möglichkeit, dies mit einiger Hoffnung auf Erfolg zu tun: Langsam den Rest des Schädels entfernen, indem man ihn wie die Schale einer Orange abpellt, bis auch unten und an den Seiten die Gehirnhülle freigelegt ist. Die Schwierigkeiten sind weitgehend technischer Natur, und darüber brauche ich mich hier nicht auszulassen. Auf jeden Fall traue ich mir zu, eine solche Operation durchzuführen. Es ist einfach eine Frage chirurgischer Geschicklichkeit und Geduld. Vergessen Sie außerdem nicht, dass ich reichlich Zeit hätte, so viel Zeit, wie ich wollte, weil ja das künstliche Herz fortwährend pumpen und das Gehirn am Leben erhalten würde.

Nehmen wir an, es sei mir geglückt, Ihren Schädel abzuheben und auch alles zu entfernen, was die Gehirnseiten umgibt. Ihr Gehirn ist also nur noch an der Basis mit dem Körper verbunden, hauptsächlich durch das Rückenmark und durch die beiden großen Venen und die vier Arterien, die es mit Blut versorgen.

Was kommt nun?

Ich trenne die Wirbelsäule dicht über dem ersten Nackenwirbel ab, wobei ich sehr darauf achte, nicht die beiden vertebralen Arterien zu verletzen, die dort verlaufen. Bedenken Sie aber, die Dura, also die äußere Hirnhaut, ist jetzt an der Stelle, wo das Rückenmark in das Gehirn übergeht, offen, sodass ich diese Öffnung mit einer Naht schließen muss. Kein Problem.

Und damit ist alles bereit für den letzten Schritt. Neben mir steht auf dem Tisch eine besonders geformte Schale, gefüllt mit der sogenannten Ringer-Lösung, einer Flüssigkeit, die wir in der Neurochirurgie zur Spülung benutzen. Nun löse ich das Gehirn vollends heraus, indem ich die Arterien und Venen durchtrenne. Ich hebe es dann einfach mit den Händen hoch und lege es in die Schale, und das ist bei dem ganzen Vorgang der einzige Augenblick, in dem die Blutzufuhr unterbrochen ist. Liegt Ihr Gehirn aber erst in der Schale, so brauche ich nur ein paar Sekunden, um die Stümpfe der Arterien und Venen wieder mit dem künstlichen Herzen zu verbinden.

So weit bin ich nun also mit Ihnen», fuhr Landy fort. «Ihr Gehirn liegt in der Schale, es lebt, und alles spricht dafür, dass es noch sehr lange am Leben bleiben wird, viele Jahre vielleicht, sofern wir die Maschine in Gang halten und für die Blutzufuhr sorgen.»

«Aber würde es funktionieren

«Mein lieber William, wie soll ich das wissen? Ich kann Ihnen ja nicht einmal versprechen, dass es je wieder zum Bewusstsein kommen wird.»

«Und wenn das der Fall wäre?»

«Ja, dann! Das wäre phantastisch!»

«Wirklich?» Ich muss zugeben, dass ich meine Zweifel hatte.

«Aber natürlich! Stellen Sie sich doch vor, wenn es da liegt, mit all Ihren tadellos funktionierenden Denkprozessen und mit Ihrem Gedächtnis …»

«Und ohne die Fähigkeit, zu sehen, zu fühlen, zu schmecken, zu hören oder zu reden», sagte ich.

«Oh!», rief er. «Mir war doch gleich so, als hätte ich etwas vergessen. Das Auge – davon habe ich noch nicht gesprochen. Hören Sie zu. Ich will versuchen, einen Ihrer Sehnerven sowie das Auge selbst intakt zu lassen. Der Sehnerv, ein kleines Ding, nicht dicker als ein Bleistift, erstreckt sich vom Gehirn zum Auge, ist also ungefähr zwei Zoll lang. Das Schöne daran ist, dass er eigentlich gar kein Nerv ist, sondern eine Ausstülpung des Gehirns. Die Dura begleitet ihn und ist mit dem Augapfel verbunden. Die Rückseite des Auges steht daher in sehr engem Kontakt mit dem Gehirn und wird von der Hirnrückenmarkflüssigkeit erreicht.

Das alles kommt mir sehr zustatten, und ich halte es für durchaus möglich, dass ich eines Ihrer Augen retten kann. Ich habe sogar schon eine kleine Plastikschachtel für den Augapfel konstruiert. Sie soll die Augenhöhle ersetzen, und wenn Ihr Gehirn in der mit Ringer-Lösung gefüllten Schale liegt, wird Ihr Auge in seiner Schachtel auf der Flüssigkeit schwimmen.»

«Und die Decke anstarren», fügte ich hinzu.

«Ja, das ist anzunehmen. Ich fürchte, es werden keine Muskeln mehr da sein, die es bewegen können. Vielleicht ist es aber ganz amüsant, so ruhig und bequem in einer Schale zu liegen und in die Welt zu gucken.»

«Sehr lustig», sagte ich. «Wie wäre es, wenn Sie mir auch ein Ohr ließen?»

«Mit einem Ohr möchte ich es diesmal lieber noch nicht versuchen.»

«Ich wünsche ein Ohr», erwiderte ich. «Ich bestehe auf einem Ohr.»

«Nein.»

«Ich will Bach hören.»

«Sie ahnen nicht, wie schwierig das wäre», sagte Landy freundlich. «Das innere Gehörorgan – die sogenannte Schnecke – ist ein viel empfindlicherer Mechanismus als das Auge. Überdies ist es in Knochen eingeschlossen, und das Gleiche gilt für einen Teil des Gehörnervs, der das Ohr mit dem Gehirn verbindet. Ich kann unmöglich das ganze Ding heil herausmeißeln.»

«Und wenn Sie es nun mitsamt dem Knochengehäuse in die Schale legen?»

«Nein», antwortete er energisch. «Die Geschichte ist ohnehin kompliziert genug. Die Hauptsache, Ihr Auge funktioniert, auf das Gehör kommt es nicht so sehr an. Wir können Ihnen ja schriftliche Mitteilungen zum Lesen hinhalten. Die Entscheidung darüber, was möglich ist und was nicht, müssen Sie schon mir überlassen.»

«Bis jetzt habe ich mich noch gar nicht einverstanden erklärt.»

«Weiß ich, William, weiß ich.»

«Ich glaube nicht, dass mir die Idee sehr zusagt.»

«Möchten Sie lieber ein für alle Mal tot sein?»

«Vielleicht ja. Ich bin nicht ganz sicher … Würde ich sprechen können?»

«Natürlich nicht.»

«Wie sollten wir uns dann verständigen? Woher wollt ihr wissen, dass ich bei Bewusstsein bin?»

«Oh, das lässt sich mit Leichtigkeit feststellen», sagte Landy. «Der gewöhnliche Elektroenzephalograph würde es uns sofort anzeigen. Wir brauchen nur die Elektroden an die vorderen Lippen Ihres Gehirns in der Schale anzuschließen.»

«Sie könnten das wirklich feststellen?»

«Einwandfrei. Das kann man in jedem Krankenhaus.»

«Aber ich wäre nicht fähig, mich mit Ihnen zu verständigen.»

«Wahrscheinlich doch», meinte Landy. «In London gibt es einen Mann namens Wertheimer, der interessante Versuche auf dem Gebiet der Gedankenübertragung durchführt. Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt. Sie wissen vermutlich, dass das denkende Gehirn aufgrund chemischer Vorgänge elektrische Entladungen produziert, nicht wahr? Und dass es sich dabei um wellenförmige Entladungen handelt, etwa wie beim Radio?»

«Ein wenig weiß ich davon», erwiderte ich.

«Gut. Wertheimer hat einen Apparat konstruiert, der ähnlich arbeitet wie der Enzephalograph, jedoch sehr viel empfindlicher ist. Er behauptet, dieser Apparat könne ihm innerhalb gewisser enger Grenzen helfen, die Gedanken eines Gehirns zu verdolmetschen. Und zwar vermittels graphischer Aufzeichnungen, die sich anscheinend in Worte oder Gedanken übertragen lassen. Wäre es Ihnen recht, wenn ich Wertheimer bäte, Sie zu besuchen?»

«Nein», sagte ich. Landy hielt es bereits für sicher, dass ich mitmachen wollte, und das verübelte ich ihm. «Gehen Sie jetzt und lassen Sie mich in Ruhe», fuhr ich fort. «Sie erreichen nicht das Geringste, wenn Sie so über mich herfallen.»

Er stand auf und ging zur Tür.

«Eine Frage noch», sagte ich.

Er blieb stehen, die Hand auf dem Türknopf. «Ja, William?»

«Nur dies. Glauben Sie ehrlich, dass mein Gehirn, wenn es in der Schale liegt, genauso funktionieren wird wie in diesem Augenblick? Glauben Sie, ich werde denken und überlegen können wie jetzt? Und wird mir das Gedächtnis erhalten bleiben?»

«Davon bin ich überzeugt», antwortete er. «Das Gehirn bleibt ja unverändert. Es lebt. Es ist unbeschädigt, unangetastet. Wir haben nicht einmal die Dura geöffnet. Einen großen Unterschied würde es allerdings geben: Da wir jeden zum Gehirn führenden Nerv abgetrennt haben – mit Ausnahme des einen Sehnervs –, wäre Ihr Denken nicht mehr durch Ihre Sinne beeinflusst. Sie würden in einer außerordentlich reinen, von allem Irdischen losgelösten Welt leben. Nichts könnte Sie plagen, nicht einmal Schmerzen, denn Sie hätten keine Nerven, also auch keine Möglichkeit, etwas zu empfinden. In gewisser Weise wäre Ihre Lage geradezu beneidenswert. Kein Kummer, keine Sorgen, keine Schmerzen, weder Hunger noch Durst. Nicht einmal Wünsche. Nur Ihre Erinnerungen und Ihre Gedanken. Und falls die Sache mit dem Auge klappt, könnten Sie sogar Bücher lesen. Mir erscheint das alles sehr schön.»

«Im Ernst?»

«Ja, William, im Ernst. Besonders für einen Doktor der Philosophie müsste es ein ungeheures Erlebnis sein. Sie wären in der Lage, mit bisher nie erreichter Objektivität und Gelassenheit über das Weltgeschehen nachzudenken. Und wer weiß, was noch alles geschehen könnte! Vielleicht würden Sie auf große Gedanken und Lösungen von Problemen kommen, auf Ideen, die imstande wären, unser ganzes Leben zu revolutionieren. Versuchen Sie, wenn Sie können, sich den Grad von Konzentration vorzustellen, den zu erreichen Ihnen möglich wäre!»

«Und die Entsagungen?», warf ich ein.

«Unsinn. Entsagungen gäbe es nicht. Ohne Wünsche keine Entsagung, und was für Wünsche sollten Sie denn haben? Körperliche jedenfalls nicht.»

«Ich wäre doch gewiss fähig, mich meines bisherigen Lebens zu erinnern, und vielleicht würde ich wünschen, in die Welt zurückzukehren.»

«Wie, in dieses Durcheinander? Aus Ihrer behaglichen Schale in dieses Tollhaus?»

«Beantworten Sie mir noch eine Frage», sagte ich. «Wie lange werden Sie es wohl am Leben erhalten können?»

«Das Gehirn? Ja, wer weiß das? Unter so idealen Bedingungen möglicherweise Jahre und Jahre. Die meisten gefährlichen Faktoren wären dank dem künstlichen Herzen ausgeschaltet. Der Blutdruck würde, was im wirklichen Leben unmöglich ist, immer gleich bleiben. Ebenso die Temperatur. Die chemische Zusammensetzung des Blutes wäre nahezu vollkommen. Keine Unreinheiten, keine Viren, keine Bakterien, nichts. Natürlich ist es verrückt, überhaupt eine Zahl zu nennen, aber ich nehme an, dass ein Gehirn unter solchen Umständen zwei- bis dreihundert Jahre leben kann. Und nun muss ich gehen. Morgen sehen wir uns wieder.» Damit verschwand er und ließ mich, wie Du Dir denken kannst, in ziemlicher Verwirrung zurück.

Meine unmittelbare Reaktion war, dass ich Landys Vorschlag rundweg ablehnte. Diese ganze Angelegenheit behagte mir gar nicht. Es lag etwas überaus Abstoßendes in dem Gedanken, dass ich mit all meinen unverminderten geistigen Fähigkeiten auf ein schleimiges Klümpchen in einer Schüssel mit Wasser reduziert werden sollte. Das war monströs, schmutzig, gottlos. Und noch etwas anderes quälte mich: Der Gedanke an das Gefühl der Hilflosigkeit, das ich zweifellos empfinden würde, wenn Landy mich erst einmal in der Schale hatte. Dann gab es kein Zurück mehr, keine Möglichkeit, zu protestieren oder zu diskutieren. Dann war ich ihnen ausgeliefert, solange sie mich am Leben erhalten konnten.

Und was, wenn ich es nicht zu ertragen vermochte? Wenn ich furchtbare Seelenqualen erdulden müsste! Wenn ich hysterisch würde?

Keine Beine zum Davonlaufen. Keine Stimme zum Schreien. Nichts. Für die nächsten beiden Jahrhunderte müsste ich die Zähne zusammenbeißen und gute Miene zum bösen Spiel machen.

Die Zähne zusammenbeißen? Ja, wie denn?

Hier kam mir ein merkwürdiger Gedanke, und zwar dieser: Leidet nicht ein Mann, dem ein Bein amputiert worden ist, oft unter der Täuschung, das Bein noch zu haben? Sagt er nicht zu der Krankenschwester, dass ihm die Zehen – die er nicht mehr hat – wahnsinnig jucken und so weiter. Mir war, als hätte ich erst vor kurzem so etwas gehört.

Sehr gut. War es dann nicht denkbar, dass mein Gehirn, wenn es allein in der Schale läge, unter einer ähnlichen Täuschung hinsichtlich meines Körpers leiden würde? In diesem Fall konnten mich all die vertrauten Schmerzen und Qualen überschwemmen, ohne dass ich auch nur die Möglichkeit hätte, sie durch Aspirin zu vertreiben. Vielleicht würde ich mir einbilden, einen entsetzlichen Krampf im Bein zu haben oder eine heftige Verdauungsstörung, und ein paar Minuten später hätte ich das Gefühl, meine arme Blase – Du kennst mich ja – sei so voll, dass sie platzen werde, wenn ich sie nicht bald entleeren dürfte.

Gott behüte.

Lange schlug ich mich mit diesen schrecklichen Gedanken herum. Dann, gegen Mittag, änderte sich auf einmal meine Stimmung. Die unangenehme Seite der Angelegenheit machte mir jetzt weniger zu schaffen, und ich war imstande, Landys Vorhaben in einem günstigeren Licht zu sehen. War nicht doch etwas Tröstliches an dem Gedanken, dass mein Gehirn nicht unbedingt in wenigen Wochen sterben und verschwinden musste? Ja, so war es. Ich bin stolz auf mein Gehirn. Es ist ein empfindungsreiches, lichtvolles, fruchtbares Organ. Es enthält einen gewaltigen Vorrat an Wissen und ist noch immer fähig, schöpferisch zu sein und selbständige Theorien zu produzieren. Wie Gehirne so sind, ist es ein verdammt gutes, das muss ich bei aller Bescheidenheit sagen. Mein Körper dagegen, mein armer alter Körper, den Landy wegwerfen will – nun, sogar Du, meine liebe Mary, wirst zugeben, dass wirklich nichts an ihm ist, was wert wäre, erhalten zu bleiben.

Ich lag auf dem Rücken und aß eine Weinbeere. Sie schmeckte herrlich, und ich nahm drei kleine Kerne aus dem Mund und legte sie auf den Tellerrand.

«Ich will es tun», sagte ich ruhig. «Ja, bei Gott, ich will es tun. Wenn Landy mich morgen besucht, werde ich ihm sofort mitteilen, dass ich es tun will.» Mein Entschluss war gefasst. Und von diesem Augenblick an fühlte ich mich viel besser. Ich überraschte alle dadurch, dass ich einen üppigen Lunch verzehrte, und bald darauf kamst Du zu Deinem üblichen Besuch.

Wie gut ich aussähe, sagtest Du. Wie frisch und munter und vergnügt. Ob sich etwas ereignet hätte? Ob es eine gute Nachricht gäbe?

Ja, antwortete ich, so sei es. Und dann, wenn Du Dich entsinnst, sagte ich, Du solltest Dich setzen und es Dir bequem machen, worauf ich sofort anfing, Dir möglichst behutsam zu erklären, worum es ging.

Leider wolltest Du nichts davon wissen. Kaum hatte ich die ersten Andeutungen gemacht, da wurdest Du wütend und nanntest Landys Plan empörend, widerlich, entsetzlich, undenkbar. Als ich trotzdem weitersprach, standest Du auf und verließest das Zimmer.

Wie Du weißt, Mary, habe ich seither oft versucht, mit Dir darüber zu sprechen, doch Du hast Dich standhaft geweigert, mich anzuhören. Daher dieser Brief. Ich kann nur hoffen, Du wirst vernünftig sein und Dir gestatten, ihn zu lesen. Ich habe viel Zeit zum Schreiben gebraucht. Zwei Wochen ist es her, dass ich die ersten Sätze kritzelte, und heute bin ich viel schwächer als damals. Ich werde wohl kaum die Kraft haben, noch viel mehr hinzuzufügen. Lebewohl möchte ich Dir nicht sagen, denn es besteht die Möglichkeit, die schwache Möglichkeit, dass Landys Vorhaben glückt und dass ich Dich tatsächlich später wiedersehe, wenigstens sehe, falls Du es über Dich bringst, mich zu besuchen.

Ich werde anordnen, dass man Dir diese Blätter erst eine Woche nach meinem Tode übergibt. Also sind jetzt, wenn Du sie liest, bereits sieben Tage vergangen, seit Landy es getan hat. Vielleicht weißt Du sogar schon, was dabei herausgekommen ist. Wenn das nicht der Fall ist, wenn Du Dich absichtlich ferngehalten und jeden Kontakt mit Landy abgelehnt hast – was ich für möglich halte –, so nimm, bitte, Vernunft an und erkundige Dich bei ihm, wie es mit mir geworden ist. Das ist das Mindeste, was Du tun kannst. Ich habe ihm mitgeteilt, dass er am siebenten Tag mit Deinem Anruf rechnen kann.

Dein treuer Mann

William

PS. Wenn ich nicht mehr bin, achte auf Dich, und vergiss nie, dass es schwerer ist, eine Witwe zu sein als eine Ehefrau. Trinke keine Cocktails. Verschwende kein Geld. Rauche keine Zigaretten. Iss keinen Kuchen. Benutze keinen Lippenstift. Kaufe keinen Fernsehapparat. Jäte im Sommer meine Rosenbeete und meinen Steingarten. Und vielleicht solltest Du das Telefon abbestellen, da ich es nicht mehr benötige.

Langsam legte Mrs. Pearl die letzte Seite des Schreibens neben sich auf das Sofa. Ihr kleiner Mund war fest zusammengepresst, und sie war ziemlich weiß um die Nase.

Also wirklich! Nach all den Jahren hätte eine Witwe doch wohl etwas Ruhe verdient.

Die ganze Sache war zu scheußlich, auch nur daran zu denken. Brutal und scheußlich. Ihr schauderte.

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm noch eine Zigarette heraus, zündete sie an, atmete den Rauch tief ein und blies ihn in Wolken von sich. Durch den Rauch hindurch blinkte ihr schöner neuer Fernsehapparat, der prächtig, riesig, herausfordernd und doch ein wenig schuldbewusst auf Williams früherem Arbeitstisch thronte.

Was würde er sagen, wenn er das sähe?

Sie dachte daran, wie er sie zum letzten Mal beim Zigarettenrauchen erwischt hatte. Ungefähr ein Jahr war das her. Sie hatte in der Küche am offenen Fenster gesessen und schnell noch ein paar Züge getan, bevor er von der Arbeit nach Hause kam. Das Radio spielte laute Tanzmusik, und als sie sich umdrehte und nach der Kaffeekanne greifen wollte, da stand er in der Tür, riesengroß und finster, und starrte sie an mit diesen schrecklichen Augen, aus deren schwarzen Pupillen der Zorn sprühte.

Danach hatte er vier Wochen lang die Haushaltsrechnungen selbst bezahlt und ihr gar kein Geld gegeben. Aber natürlich wusste er nichts von den sechs Pfund, die sie in einem Seifenflockenkarton im Schränkchen unter dem Ausguss versteckt hatte.

«Warum das alles?», fragte sie ihn einmal bei Tisch. «Fürchtest du, ich könnte Lungenkrebs bekommen?»

«Nein», antwortete er.

«Warum soll ich dann nicht rauchen?»

«Weil ich es missbillige. Deswegen.»

Er hatte auch Kinder missbilligt, und folglich hatten sie nie eines gehabt.

Wo war er jetzt, ihr William, der große Missbilliger?

Landy erwartete ihren Anruf. Musste sie ihn anrufen? – Nun, eigentlich nicht.

Als sie mit der Zigarette fertig war, zündete sie sich an dem Stummel eine neue an. Sie schaute zum Telefon hinüber, das neben dem Fernsehapparat auf dem Arbeitstisch stand. William wünschte, dass sie Landy anrief. Er hatte sie ausdrücklich gebeten, mit dem Arzt zu telefonieren, sobald ihr der Inhalt des Briefes bekannt war. Sie zögerte, wehrte sich heftig gegen das tief eingewurzelte Pflichtgefühl, das sie noch nicht abzuschütteln wagte. Dann aber erhob sie sich langsam, ging zum Telefon, schlug die Nummer nach, wählte und wartete.

«Bitte, ich möchte Herrn Dr. Landy sprechen.»

«Wer ist am Apparat?»

«Mrs. Pearl. Mrs. William Pearl.»

«Einen Moment bitte.»

Landy meldete sich fast augenblicklich.

«Mrs. Pearl?»

«Hier ist Mrs. Pearl.» – Kleine Pause.

«Ich freue mich sehr, dass Sie anrufen, Mrs. Pearl. Hoffentlich sind Sie wohlauf.» Die Stimme war ruhig und höflich. «Hätten Sie nicht Lust, mich im Krankenhaus zu besuchen? Wir könnten ein wenig plaudern. Ich denke mir, Sie möchten gern wissen, wie alles geworden ist.»

Sie schwieg.

«Ich kann Ihnen sagen, dass die Sache in jeder Beziehung glattgegangen ist. Viel besser sogar, als ich zu hoffen wagte. Es lebt nicht nur, Mrs. Pearl, es ist bei Bewusstsein. Schon am zweiten Tag hat es das Bewusstsein wiedererlangt. Ist das nicht interessant?»

Sie wartete, dass er weiterspräche.

«Und das Auge sieht. Wir wissen das mit Sicherheit, weil der Enzephalograph sofort reagiert, wenn wir dem Auge irgendetwas vorhalten. Wir geben ihm jetzt jeden Tag die Zeitung zu lesen.»

«Welche Zeitung?», fragte Mrs. Pearl scharf.

«Den Daily Mirror. Der hat die größten Schlagzeilen.»

«Er hasst den Mirror. Geben Sie ihm die Times

Nach kurzem Schweigen sagte der Doktor: «Also gut, Mrs. Pearl, wir werden ihm die Times geben. Wir wollen natürlich alles tun, um es bei guter Laune zu erhalten.»

«Ihn«, verbesserte sie. «Nicht es. Ihn

«Ihn», wiederholte der Doktor. «Ja, verzeihen Sie, bitte. Um ihn bei guter Laune zu erhalten. Deswegen habe ich Sie auch gebeten, recht bald herzukommen. Ich glaube, es würde ihm Freude machen, Sie zu sehen. Sie könnten ihm zeigen, wie froh Sie sind, wieder bei ihm zu sein – ihm zulächeln, ihm eine Kusshand zuwerfen und Ähnliches mehr. Es muss angenehm für ihn sein, Sie in seiner Nähe zu wissen.»

Eine lange Pause trat ein.

«Gut», sagte Mrs. Pearl schließlich, und ihre Stimme klang auf einmal sehr sanft, sehr milde. «Dann werde ich also kommen und nach ihm sehen.»

«Schön, ich wusste ja, dass Sie es tun würden. Sie finden mich in meinem Dienstzimmer im zweiten Stock. Ich warte auf Sie. Auf Wiedersehen.»

Eine halbe Stunde später war Mrs. Pearl im Krankenhaus. «Erschrecken Sie nicht über sein Aussehen», sagte Landy, als er neben ihr einen Korridor entlangging.

«Nein, gewiss nicht.»

«Zweifellos wird es zuerst ein Schock für Sie sein. Ich fürchte, er ist in seinem gegenwärtigen Zustand nicht sehr attraktiv.»

«Ich habe ihn nicht wegen seiner Schönheit geheiratet, Doktor.»

Landy wandte den Kopf und blickte sie an. Ein sonderbares Geschöpf war diese kleine Frau mit den großen Augen und der grämlichen, fast beleidigten Miene. Ihre Gesichtszüge, die einmal recht hübsch gewesen sein mussten, waren gänzlich verfallen. Der Mund war schlaff, das Fleisch der Wangen lose und welk; Jahre und Jahre eines freudlosen Ehelebens schienen Mrs. Pearl langsam, aber sicher zermürbt zu haben. Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinanderher.

«Lassen Sie sich Zeit, wenn Sie hineinkommen», sagte Landy. «Er wird erst wissen, dass Sie da sind, wenn Sie Ihr Gesicht direkt über sein Auge halten. Das Auge ist immer offen, aber bewegen kann er es nicht, sodass sein Blickfeld sehr begrenzt ist. Im Moment lassen wir ihn zur Decke hinaufschauen. Hören kann er natürlich nichts. Wir brauchen also bei unseren Gesprächen keinerlei Rücksicht zu nehmen. Bitte, hier hinein.» Landy öffnete eine Tür, und sie traten in ein kleines, quadratisches Zimmer.

«Nicht gleich zu dicht heran», mahnte er und legte ihr die Hand auf den Arm. «Warten Sie einen Moment, bis Sie sich an das alles gewöhnt haben.»

Auf einem hohen weißen Tisch in der Mitte des Raumes stand eine weiße Emailleschale, etwa von der Größe einer Waschschüssel. Die sechs dünnen Plastikschläuche, die aus ihr herausragten, waren mit einer gläsernen Apparatur verbunden, in der man das Blut zum künstlichen Herzen und von ihm fortfließen sah. Die Maschine gab ein sanftes, rhythmisch pulsierendes Geräusch von sich.

«Da ist er drin», sagte Landy, auf die Schale weisend, die so hoch stand, dass Mrs. Pearl nicht hineinblicken konnte. «Kommen Sie etwas näher. Nicht zu nah.»

Er führte sie zwei Schritte vorwärts.

Als sie den Hals reckte, sah sie die Flüssigkeit in der Schale. Auf der klaren, unbewegten Oberfläche schwamm eine ovale Kapsel, ungefähr so groß wie ein Taubenei.

«Das ist das Auge», erklärte Landy. «Können Sie es sehen?»

«Ja.»

«Soweit wir wissen, ist es in ausgezeichnetem Zustand. Es ist sein rechtes Auge, und der Plastikbehälter trägt eine Linse, die genauso geschliffen ist wie seine Brillengläser. Vermutlich sieht er ebenso gut wie früher.»

«An der Zimmerdecke ist nicht viel zu sehen», meinte Mrs. Pearl.

«Darüber machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind im Begriff, eine Art Unterhaltungsprogramm für ihn auszuarbeiten, aber wir möchten nichts übereilen.»

«Geben Sie ihm ein gutes Buch.»

«Gewiss, gewiss. Wie fühlen Sie sich, Mrs. Pearl?»

«Gut.»

«Dann wollen wir ein wenig dichter herangehen, damit Sie alles sehen können.»

Er führte sie vorwärts, bis sie nur noch ein paar Schritte vom Tisch entfernt waren, und nun konnte sie auf den Grund der Schale blicken.

«So», sagte Landy, «das ist William.»

Er war viel größer, als sie erwartet hatte, und dunkler in der Farbe. Mit all den Furchen und Falten, die über seine Oberfläche liefen, erinnerte er an eine riesige eingemachte Walnuss. Sie sah die Stümpfe der vier großen Arterien und der beiden Venen, die sich an seiner Unterseite befanden und säuberlich mit den Plastikschläuchen verbunden waren; bei jedem Schlag des künstlichen Herzens gab es im Takt des hindurchgepumpten Blutes einen kleinen Ruck in sämtlichen Schläuchen.

«Lehnen Sie sich über die Schale», riet Landy, «und halten Sie Ihr hübsches Gesicht unmittelbar über das Auge. Er wird Sie sehen, und Sie können ihm zulächeln oder ihm eine Kusshand zuwerfen. An Ihrer Stelle würde ich ihm auch ein paar nette Worte sagen. Hören kann er sie zwar nicht, aber ich bin sicher, dass er den Sinn begreifen wird.»

«Er hasst Leute, die ihm Kusshände zuwerfen», erwiderte Mrs. Pearl. «Ich will es auf meine Weise versuchen, wenn Sie nichts dagegen haben.»

Sie trat dicht an den Tisch heran, beugte sich vor, bis ihr Gesicht direkt über der Schale war, und blickte in Williams Auge. «Hallo, Lieber», flüsterte sie. «Ich bin’s – Mary.»

Klar wie immer starrte das Auge sie unverwandt mit absonderlicher Intensität an.

«Wie geht es dir, Lieber?», fragte sie.

Die Plastikkapsel war rundherum durchsichtig, sodass man den ganzen Augapfel sah. Der mit dem Gehirn verbundene Sehnerv glich einem Stückchen grauen Spaghettis.

«Fühlst du dich wohl, William?»

Es war ein sonderbares Gefühl, ihrem Mann ins Auge und doch nicht ins Gesicht zu schauen. Alles, was sie vor sich hatte, war das Auge, und sie fuhr fort, es anzustarren. Nach und nach wurde es immer größer, bis sie schließlich nichts anderes mehr sah – es war zu einer Art Gesicht geworden. Ein Netzwerk dünner roter Äderchen zog sich über das Weiße des Augapfels, und in der eisblauen Iris waren drei oder vier hübsche dunkle Streifen, die von der Pupille ausstrahlten. Die eine Seite der großen schwarzen Pupille reflektierte einen kleinen Lichtfunken.

«Lieber, ich habe deinen Brief erhalten und bin gleich hergekommen, um zu sehen, wie es dir geht. Dr. Landy sagt, dass alles in bester Ordnung ist. Wenn ich langsam spreche, kannst du vielleicht etwas verstehen, indem du mir die Worte von den Lippen abliest.»

Zweifellos, das Auge beobachtete sie.

«Man tut hier alles für dich, was nur möglich ist, Lieber. Die wunderbare Maschine pumpt ununterbrochen, und sie arbeitet bestimmt viel besser als die dummen alten Herzen, die wir anderen haben. Unsere können jeden Moment versagen, aber deines wird niemals stillstehen.»

Sie betrachtete das Auge genau und versuchte herauszufinden, weshalb es ihr so verändert vorkam.

«Du siehst gut aus, Lieber, wirklich sehr gut. Ja, tatsächlich.»

Zu Williams Lebzeiten waren ihr seine Augen längst nicht so hübsch erschienen wie dieses hier. Es war etwas Weiches darin, etwas Ruhiges, Freundliches, das sie noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Vielleicht lag das an dem Punkt in der Mitte, an der Pupille. Williams Pupillen waren immer wie kleine schwarze Nadelköpfe gewesen. Wenn sie einen anblickten, bohrten sie sich einem förmlich ins Gehirn, sie durchschauten einen, wussten immer sofort, was man vorhatte und sogar, was man dachte. Dieses Auge dagegen war groß, sanft und mild, fast wie ein Kuhauge.

«Sind Sie sicher, dass er bei Bewusstsein ist?», fragte sie, ohne aufzublicken.

«Ja, durchaus», antwortete Landy.

«Und er kann mich sehen?»

«Ausgezeichnet.»

«Ist das nicht fabelhaft? Ich nehme an, er überlegt, was mit ihm geschehen ist.»

«Keineswegs, Mrs. Pearl. Er weiß ganz genau, wo er ist und was sich zugetragen hat. Das kann er unmöglich vergessen haben.»

«Sie glauben, er weiß, dass er in der Schale ist?»

«Natürlich. Und wenn er sprechen könnte, wäre er vermutlich imstande, ein ganz normales Gespräch mit Ihnen zu führen. Geistig besteht meines Erachtens überhaupt kein Unterschied zwischen diesem William und dem, den Sie zu Hause gekannt haben.»

«Du lieber Himmel», murmelte Mrs. Pearl und versank in Schweigen, um diese aufregende Mitteilung zu verarbeiten. Wenn ich’s recht bedenke, sagte sie sich und blickte an dem Auge vorbei auf die große, graue, weiche Walnuss, die so friedlich unter Wasser lag, dann glaube ich fast, dass ich ihn so, wie er jetzt ist, viel lieber mag. Mit dieser Art William könnte ich wahrscheinlich gut zusammenleben. Mit ihm würde ich fertig werden.

«Er ist doch ganz ruhig?», fragte sie.

«O ja, selbstverständlich.»

Keine Auseinandersetzungen und Verweise, dachte sie, keine fortwährenden Ermahnungen, keine Vorschriften, kein Rauchverbot, kein kaltes, missbilligendes Augenpaar, das mich abends über das Buch hinweg beobachtet, keine Hemden zu waschen und zu bügeln, kein Essen zu kochen – nichts als das Pochen des künstlichen Herzens, das eher ein beruhigendes Geräusch ist und gewiss nicht laut genug, um beim Fernsehen zu stören.

«Doktor», sagte sie, «mir scheint, ich empfinde plötzlich eine unendliche Zuneigung zu ihm. Klingt das merkwürdig?»

«Ich finde es sehr verständlich.»

«Er sieht so hilflos und schweigsam aus, wie er da in seiner Schale unter Wasser liegt.»

«Ja, ich weiß.»

«Er ist wie ein Baby, finden Sie nicht? Genau wie ein winziges Baby.»

Landy stand noch immer hinter ihr.

«So», sagte sie sanft, über die Schale gebeugt, «von nun an wird Mary ganz allein für dich sorgen, und du brauchst dich um nichts mehr zu kümmern. Wann kann ich ihn mitnehmen, Doktor?»

«Wie bitte?»

«Ich möchte wissen, wann ich ihn mitnehmen kann – zu mir nach Hause.»

«Sie scherzen», sagte Landy.

Mrs. Pearl drehte sich langsam um und blickte ihm fest ins Gesicht.

«Warum sollte ich scherzen?», fragte sie mit strahlender Miene, und ihre großen, runden Augen blitzten wie zwei Diamanten.

«Er ist keinesfalls transportfähig.»

«Weshalb eigentlich nicht?»

«Dies ist ein Experiment, Mrs. Pearl.»

«Er ist mein Mann, Dr. Landy.»

Ein nervöses kleines Lächeln spielte um Landys Mundwinkel. «Nun …», sagte er.

«Sie können nicht leugnen, dass er mein Mann ist.» Ihre Stimme klang nicht erregt. Sie sprach so ruhig, als wollte sie ihm nur eine Tatsache ins Gedächtnis zurückrufen.

«Das ist ein ziemlich heikler Punkt», erwiderte Landy und feuchtete seine Lippen an. «Sie sind jetzt Witwe, Mrs. Pearl. Ich glaube, damit müssen Sie sich abfinden.»

Sie machte plötzlich kehrt und ging zum Fenster. «Ich meine es ernst», sagte sie, während sie in ihrer Handtasche nach einer Zigarette suchte. «Ich will ihn wiederhaben.»

Landy sah zu, wie sie die Zigarette zwischen die Lippen steckte und sie anzündete. Wenn mich nicht alles täuscht, dachte er, dann ist diese Frau ein bisschen verrückt. Sie scheint recht froh zu sein, dass ihr Mann in der Schale liegt.

Er versuchte sich vorzustellen, was er empfinden würde, wenn das Gehirn seiner Frau dort läge und ihr Auge aus der Kapsel zu ihm aufstarrte.

Ihm hätte das nicht gefallen.

«Wollen wir in mein Zimmer gehen?», schlug er vor.

Sie stand am Fenster, rauchte ihre Zigarette und war anscheinend ganz ruhig und heiter.

«Ja, gern.»

Auf ihrem Weg zur Tür machte sie am Tisch halt und beugte sich noch einmal über die Schale. «Mary geht jetzt, mein Herzchen», sagte sie. «Und rege dich über nichts auf, verstehst du? Wir werden dich so bald wie möglich nach Hause bringen, wo wir gut für dich sorgen können. Und höre, Lieber …» Sie unterbrach sich, um an der Zigarette zu ziehen.

Sofort blitzte das Auge auf.

Sie blickte es scharf an. Genau im Zentrum des Auges glomm ein kleines, aber helles Fünkchen, und die Pupille verengte sich in jäher Wut zu einem winzigen schwarzen Punkt.

Regungslos über die Schale gebeugt, die Zigarette an den Lippen, beobachtete sie das Auge.

Nach einer Weile nahm sie sehr langsam und bedächtig die Zigarette in den Mund, tat einen langen Zug und inhalierte tief. Der Rauch blieb drei oder vier Sekunden in den Lungen, und dann, plötzlich, kam er in zwei dünnen Streifen aus den Nasenlöchern, strich über die Flüssigkeit in der Schale, ballte sich zu einer dicken blauen Wolke und hüllte das Auge ein.

Landy, mit dem Rücken zu ihr, stand an der Tür und wartete. «Kommen Sie, Mrs. Pearl», rief er.

«Sieh mich nicht so verdrießlich an, William», sagte sie leise. «Das hat gar keinen Zweck.»

Landy wandte den Kopf, um zu sehen, was sie machte.

«Überhaupt keinen Zweck», flüsterte sie. «Denn von jetzt an, mein Liebling, wirst du genau das tun, was Mary will. Hast du verstanden?»

«Mrs. Pearl», mahnte Landy, auf sie zugehend.

«Sei also nie wieder so ein unartiger Junge, mein Schatz», sagte sie und sog von neuem an ihrer Zigarette. «Unartige Jungen werden heutzutage sehr streng bestraft, musst du wissen.»

Landy nahm sie beim Arm und drängte sie sanft, aber energisch zur Tür.

«Leb wohl, Liebling», rief sie. «Bald komme ich wieder.»

«Genug, Mrs. Pearl.»

«Ist er nicht süß?» Sie schaute mit großen, leuchtenden Augen zu Landy auf. «Ist er nicht entzückend? Ich kann es gar nicht erwarten, bis ich ihn mitnehmen darf.»

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