Flaggschiff Einheit (Diskanisches Hoheitsgebiet) + 300 Kilosekunden

Raul Nakamore, Hand der Harmonie, legte sich zurück in die gepolsterte Beschleunigungscouch, schwerelos, gehalten von Gurten. Er schob den leichten Drahtkopfhörer in ein Fach an der Instrumentenkonsole. Vorbei der Funkkontakt, vorbei die Streitereien mit seinem Halbbruder Djem. So verschwendete er die Ressourcen der Großen Harmonie… riskierte sein Leben… riskierte die Mannschaften dreier Schiffe auf der Jagd nach einem Phantom. So ließ er Schnee-der-Errettung ungeschützt vor einer Attacke des Demarchy, um ein Schiff zu suchen, das die Schiffe der Großen Harmonie weit hinter sich zurückließ, selbst dieses überragende, deltaförmige Kriegsschiff. Ein Schiff von außerhalb… ein beschädigtes Sternenschiff, ein Schiff, das eine winzige Menge Spuren seines Schubs und Anzeichen menschlicher Überbleibsel hinterlassen hatte. Ein Schiff, dem es einmal gelungen war, ihrem Griff zu entkommen, was ihm aber kein zweites Mal gelingen würde. Es war diesen hohen Einsatz wert. Aber, armer Djem; er konnte niemals über das Ende seiner eigenen Nase hinaussehen. Raul lächelte fast.

Irgendwo, fünftausend Kilometer unter ihm, eine schwache Silhouette gegen die silberne Pracht der diskanischen Ringe befand sich Schnee-der-Errettung, das die Hauptdestille der Großen Harmonie barg. Es war unter Mithilfe des Demarchy erbaut worden und unentbehrlich für das Überleben der Harmonie wie auch des Demarchy. Sein Bruder hatte die Verantwortung für Schnee-der-Errettung und würde alles tun, um dessen Sicherheit zu gewährleisten. Aber wenn das Demarchy sich zu einem Angriff hier in den Ringen entschloß, konnte selbst seine „Geheimwaffe“ es nicht daran hindern, fatale Verwüstungen anzurichten. Doch entgegen dem Glauben vieler Offiziere der Streitkräfte würde das Demarchy einen solchen Angriff niemals riskieren. Djem würde niemals in der Lage sein, das zu erkennen, doch Raul würde seine Karriere dafür aufs Spiel setzen — hatte seine Karriere dafür aufs Spiel gesetzt. Das Demarchy würde sie niemals angreifen… es sei denn, es hätte das Schiff. Wenn die Große Harmonie es aber zuerst in die Hände bekam…

„Sir.“ Sandoval, der kahle Schiffskapitän, unterbrach seine Gedankengänge schüchtern. „Alles ist bereit für die Zündung. Auf Ihren Befehl…“

Raul nickte. Angesichts der außergewöhnlichen Wärme im Kontrollraum knöpfte er seine dicke Jacke auf. Schon zu lange unter Tage gewesen… Er seufzte. „Also los.“

Sandoval sank in seinen eigenen Sitz zurück und sprach Befehle, die von den beiden anderen Schiffen koordiniert wurden, in sein Kehlkopfmikrofon. Es fand keine Videokommunikation statt; diese wurde nur verwendet, um den Feind zu beeindrucken. Raul studierte die Komplexität des Kontrollraums. Gewaltige Instrumentenblöcke zogen sich an den Wänden um ihn herum hoch. Das meiste davon waren Computerartefakte aus der Zeit vor dem Krieg, installiert, um diesen Schiffen im Fall eines Kampfes eine größere Manövrierbarkeit zu verleihen. Sie bildeten einen Teil der außerordentlichen Verteidigungskraft der Großen Harmonie, speziell entworfen, speziell ausgestattet mit einem Treibstoff-zu-Masse-Verhältnis von tausend zu eins. Obwohl Raul Nakamore sich in den höchsten Ebenen der Streitkräfte bewegte, hatte er ihre Existenz doch immer als sinnlose Vergeudung lebenswichtiger Rohstoffe angesehen; aus diesem Grund war er auch bis zum heutigen Tag noch niemals an Bord eines dieser Schiffe gewesen. Aber nun hatte dieses Sternenschiff seine Einstellung verändert, wie es die gesamte Zukunft verändern konnte.

Er wurde heftig in die Polster des Sessels gepreßt, als die Flüssigtreibstoffraketen zündeten und die Schwerkraft auf konstante zwei Grav anstieg, mehr als nur ein wenig schmerzhaft für sein Knochengerüst. Er überprüfte das Chronometer auf dem Pult. Der Druck würde dreizehnhundert Sekunden lang anhalten, während sie mit einer Geschwindigkeit von sechzehn Kilometern pro Sekunde dahinschossen… und in dieser Zeitspanne siebentausend Tonnen Treibstoff verbrauchten, für die Hauptantriebe der drei Schiffe selbst, dazu für sieben Fernlenkraketen. Und trotzdem würden sie mehr als zwei Megasekunden benötigen, um Lansing zu erreichen und vielleicht befand sich ihre Beute gar nicht dort. Raul machte es sich so bequem wie möglich und wartete. Er versuchte, nicht an das Schlimmste zu denken, sondern sich zu erinnern, was ihn so sicher gemacht hatte, daß ihre Bemühungen sich auszahlen würden…


Er hatte in seinem Büro gesessen und endlose Schiffstabellen studiert, als der vertrauliche Bericht ihn erreichte. Ein unbekanntes Schiff von unbekannter Herkunft hatte die Bahn einer Flottenpatrouille gekreuzt… und eines ihrer Schiffe zerstört, ehe es entkommen konnte. Lange Zeit hatte er den Bericht gelesen, die Wärme des Methanofens hinter ihm hatte ihn liebkost, vor ihm ausgebreitet lag die kalte Stille von Himmels Zukunft. Und dann hatte er gemerkt, daß ein Treffen einberufen worden war, seine Anwesenheit wurde erbeten.

Er verließ sein Büro und ging durch die endlosen, naßkalten, leicht rauchverhangenen Korridore des Flügels der Handelsmarine. Der Regierungskomplex machte den größten Teil des Tunnel- und Vakuolenkomplexes aus, der das Innere des Asteroiden Harmonie durchzog, welcher in der Zeit vor dem Bürgerkrieg der Asteroid Perth gewesen war, vor der Gründung der Großen Harmonie. Die Kälte begann sich einen Weg durch den dicken Stoff seiner braunen Uniformjacke zu fressen; er steckte eine Hand in die Tasche, mit der anderen stieß er sich von den Wänden ab. Er war ein kleiner Mann, kaum einen Meter neunzig groß, und ziemlich stämmig für einen Gürtelbewohner. Ein Hauch der Unverwundbarkeit umgab ihn, und es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er die Kälte besser als die meisten anderen ertragen. Doch er war ein Berufssoldat und hatte den größten Teil seines Lebens als Erwachsener in Raumschiffen im All zugebracht, wo eine adäquate Wärme nur das kleinste Problem darstellte. In den vergangenen sechzig Megasekunden seit seiner Beförderung war er ein Administrator gewesen und hatte gelernt, daß das einzige spezielle Privileg, das ein Administrator wirklich hatte, eine doppelte Arbeitslast war.

Er ging durch gewaltige Zimmer, in denen Regierungsangestellte tätig waren, in weitere Hallen und Gänge, identisch mit denen, die er gerade verlassen hatte, schließlich in noch mehr Zimmer und Säle — wie immer beschlich ihn das Gefühl, er gehe im Kreis. Unbewußt wählte er einen Kurs, der ihn durch das Computerzentrum führte, geleitet von den Gewohnheiten der Vergangenheit, während er über die Zukunft nachdachte. Vergangenheit und Gegenwart überraschten ihn, als er sich seiner Umgebung bewußt wurde: dichtgedrängte Reihen junger Gesichter, die mit Berechnungen beschäftigt waren und manchmal aufsahen, wenn er vorüberging.

Er sah hinüber zum fernen Ende des Zimmers. Fast erwartete er, sein eigenes Gesicht zu sehen, das sich über einen mit verdrehten Buchstaben gefüllten Papierstoß beugte. Er hatte vor etwa zwölfhundert Megasekunden in diesem Raum gearbeitet, noch ein Junge, hatte seine Karriere als ein Computer vierter Klasse begonnen. Ein Computer im ältesten Sinn, denn die komplizierte Maschinerie, die den Diskanern die Bürde der endlosen Datenspeicherung abgenommen hatte, ging während des Krieges verloren. Nach dem Bürgerkrieg hatte die Große Harmonie die bittere Erkenntnis schlucken müssen, daß sie ohne präzise Daten über die sich fortwährend ändernden internen Beziehungen zwischen den größeren Planetoiden nicht überleben konnten. Und so war man zurückgesunken auf menschliche Computer; man verwendete das Unvollkommene, aber Vorhandene, um das Vollkommene, aber Nichtexistente zu ersetzen, wie man das in so vielen Fällen tun mußte.

Ein intelligentes Kind konnte lernen, einfachere Berechnungen durchzuführen, und so verwendete man auch solche Kinder, was die anderen soweit entlastete, daß sie sich komplizierterer Arbeit zuwenden konnten. Raul erinnerte sich, wie er auf einer Bank gesessen hatte, dicht zusammengedrängt mit einem anderen Jungen und einem Mädchen, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten. Seine Nase hatte getropft, seine Lippen waren rissig und aufgesprungen, er hatte neidisch auf den Rücken seines Halbbruders Djem gestarrt, der einhundertfünfzig Megasekunden älter als er selbst und ein Computer zweiter Klasse war. Je höher man stieg, desto näher durfte man am Ofen in der Mitte des Raumes sitzen… Zu der Zeit, als Djem zur ersten Klasse gestoßen war, hatte Raul ihn erreicht und war mit Wärme und einem der wenigen Rechner, die noch funktionierten, belohnt worden.

Ihr Großvater hatte die Richtigkeit der Riemannschen Hypothesen bewiesen und wurde damit zum bekanntesten Mathematiker und vielleicht zum bekanntesten menschlichen Wesen, das jemals von Himmels Gürtel kam; dann war der Krieg ausgebrochen und hatte aus ihm einen unter zahllosen Flüchtlingen gemacht. Als der Krieg begann, hatte er gerade Ferien in den diskanischen Ringen gemacht, und seine Loyalität war fragwürdig. Doch sein mathematisches Können war unbestreitbar — und nun, zwei Generationen später, hatte das Erbe seines Genies seine Enkel in einem anderen Regime auf dieselben Pfade geführt.

„Nur durch Gehorsam erwerben wir uns das Recht zu befehlen…“ Raul ließ den Computerraum und seine Jugend hinter sich; die ständig gleich klingenden moralisierenden Ermahnungen der unsichtbaren Wandlautsprecher drangen wieder in sein Bewußtsein, zusammen mit der Kälte. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Nachricht von dem fremden Raumschiff sich einen Weg ins Netz des öffentlichen Rundfunks gebahnt haben würde, zwischen den Gedanken des Herzens und den Vorträgen über die Dekadenz des Demarchy plaziert, und welche Form sie bis dahin wohl hatte. Er machte sich nichts aus der ständigen Einmischung in sein Leben. Er war daran gewöhnt. Es war so sehr Teil des Lebens, das er kannte, wie die Kälte. Er erkannte auch, daß ein bestimmtes Ziel in der Medienberichterstattung lag, nämlich, die Leute abzulenken von der Kälte und dem endlosen Einerlei ihrer täglichen Arbeit, ihres täglichen Lebens, ihr Gefühl für die Einheit und die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zu stärken.

Doch er fühlte keinen Groll gegen die Rundfunkanstalten, noch nahm er sie weiterhin ernst. Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, daß sie ebenso Propaganda waren wie die grellen und unharmonischen Vorführungen des Demarchy… Des Demarchy, das noch immer in Wärme und Komfort lebte, dank den Destillen der Großen Harmonie, das jedoch verhinderte, daß die Große Harmonie an diesem Komfort teilhatte. Sie lehnten es ab, die Kernspaltungsbatterien zu verkaufen, die immer noch die Hauptenergiequelle des Demarchy für Wärme, für Licht, für den Schiffverkehr, für die neuen Fabriken, die immer noch arbeiteten, bildeten. Keine der noch existierenden Fabriken arbeitete in der Großen Harmonie mit mehr als einem Prozent Effizienz — ausgenommen die Destillen —, und die einzige Quelle für Licht und Wärme war das ineffiziente Verbrennen von Methan (da die Ringe einen Überschuß an organischen Stoffen hatten, was aber auch alles war, worüber sie verfügten).

Raul schob den Gedanken beiseite, wie er auch den Gedanken beiseite schob, daß alle Menschen seines Volkes, alle Menschen von Himmels Gürtel, dem Untergang geweiht waren. Bedauern war nutzlos. Haß war vergeblich. Raul sah der Wahrheit ins Antlitz — und tiefer. Er konnte die Straße deutlich vor sich sehen, sah, wie das Vorwärtskommen schwieriger und anstrengender wurde, bis es schließlich unmöglich wurde. Doch er bewegte sich vorwärts, wenn auch nur von Zeit zu Zeit, schrittweise, gestärkt durch das Wissen, alles menschenmögliche getan zu haben.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er jedes Wort der Medien absorbiert und jedes Wort geglaubt. Da hatte er das Demarchy mit dem blinden Eifer der Jugend gehaßt, und da er jung und kompetent und entbehrlich war, hatte man ihn mit einem Sabotageauftrag in das Hoheitsgebiet des Demarchy geschickt. Er war gescheitert. Doch zu seiner grenzenlosen Demütigung hatte die Perversion der medienregierten demarchistischen Pöbelherrschaft einen Helden aus ihm gemacht, der sich die leidenschaftliche letzte Denunziation ihrer eigenen Aggression zu Herzen nahm… und das Demarchy hatte ihn nach Hause geschickt, einen beschämten Botschafter des guten Willens, damit er Verhandlungen über die Konstruktion einer Destille eröffnete, die sich sowohl für das Demarchy als auch für die Große Harmonie auszahlen würde.

Doch die Beziehungen zwischen dem Demarchy und der Großen Harmonie waren nie über diesen Akt der Kooperation hinausgegangen, dessen einziger Zweck in gemeinsamen Notwendigkeiten lag. Unabhängige Demarchy-Gesellschaften verletzten immer noch diskanisches Hoheitsgebiet, und nur ihre allgemeine ökonomische Schwäche verhinderte ein ungesetzliches Ausbeuten der Ressourcen der Großen Harmonie ihrerseits. Die Große Harmonie selbst denunzierte das Demarchy unaufhörlich und beschuldigte es wegen der eigenen kärglichen Existenz.

Doch aufgrund seiner Erfahrungen im Demarchy hatte er den Glauben für immer verloren, Gut und Böse seien einfach schwarz und weiß gezeichnet und jede Frage habe eine simple Antwort. Und nachdem er erkannt hatte, daß das Demarchy nicht durch und durch böse war, hatte er auch erkannt, daß man es nicht allein verantwortlich machen konnte für das elende Leben der Harmonie. Er hatte jenes größere, indifferente und unvermeidbare Schicksal gesehen, das die Große Harmonie ebenso wie auch das Demarchy die Straße ohne Rückkehr hinabzog.

Und als er zu der Erkenntnis gelangte, daß es kein Zurück gab, keinen Ausweg, war er von der Verteidigungs- zur Handelsmarine übergewechselt, um dort zu arbeiten, weil er glaubte, dort am effektivsten arbeiten zu können und somit der Großen Harmonie ihren Weg auf der Straße des Untergangs so leicht wie möglich zu machen.

Endlich erreichte Raul die Nabe des Regierungskomplexes, fühlte, wie die Finger alter Macht nach ihm griffen, als er plötzlich in die Unmittelbarkeit des offenen Raumes hinaustrat. Über ihm war die Decke amorph und dunkel, doch er wußte, die Oberfläche bestand aus durchsichtigem Kunststoff, nicht aus solidem Stein. Einst hatte sie sich zu den Sternen und zu der Majestät von Diskus geöffnet — als die Ringe von Diskus noch die Lebensquelle für den gesamten Gürtel gebildet hatten. Doch nun war der durchsichtige Dom mit einer undurchsichtigen Schneedecke bedeckt; die Kuppel hatte zuviel Wärme entweichen lassen.

Er bahnte sich einen Weg durch die Vielzahl anderer schwebender Regierungsarbeiter, die meisten von ihnen Marineangehörige wie er selbst. Automatisch beantwortete er den Salut ihrer erhobenen Hände, sein Verstand eilte ihm voraus in den Verhandlungssaal, wo die anderen Hände auf den Beginn der Konferenz mit dem Herzen warteten.

Raul setzte sich still in seinen Stuhl und wartete, bis die Teilnehmer des Treffens zur Ordnung gerufen werden würden. Er saß als jüngster Offizier, der den Rang einer Hand der Harmonie erreicht hatte, am Ende des Tisches, der vom Herzen am weitesten entfernten Position. Er nickte Lobaschewski zu seiner Rechten zu, wonach er die Reihen der Offiziere und Offiziersanwärter eingehend musterte. Ohne Überraschung nahm er zur Kenntnis, daß sie sich wie üblich in zwei verschiedene Fraktionen gespalten hatten — die Verteidigungsfraktion auf der einen, die Handelsfraktion auf der anderen Seite. Wie immer hatte er sich zur Handelsfraktion gesetzt. Als er das Ende der Tafel sah, die Spitze des Tisches, die eine Art Niemandsland zwischen beiden Parteien bildete, lächelte er unmerklich.

Ein einziges Wort unterbrach die geflüsterten Mutmaßungen; Raul wandte seine Aufmerksamkeit dem Kopf des Tisches zu, erhob sich mit dem Rest, um der Ankunft des Herzens Tribut zu zollen — dem Triumvirat, welches das Auf und Ab der Macht in der Großen Harmonie kontrollierte. Chatichai, Khurama und Gulamhusein, wie ein vielfacettiger Hindugott, ununterscheidbar untereinander oder inmitten ihres Stabs in der schlichten Gemeinsamkeit ihrer Kleidung, aber unverwechselbar getrennt durch eine undefinierbare Selbstzufriedenheit — und jenen nicht harmonierenden Ambitionen, die sie an die Spitze gebracht hatten und sie nun um ihre Position kämpfen ließen. Raul kannte die Arten von Streß, die an ihnen nagten, und war dankbar, sich bereits über den Pegel seiner eigenen Ambitionen erhoben zu haben.

Die drei Männer am Kopf des Tisches setzten sich langsam auf ihre Stühle, ein Zeichen für die Offiziere, dies ebenfalls zu tun.

„Ich nehme an, Sie alle haben die Mitteilungen gelesen, auf Grund derer Sie hier sind…“ — Chatichai sprach, wie immer ergriff er die Initiative — „… und so nehme ich auch an, Sie wissen alle, daß unsere Streitkräfte vor fünfzig Kilosekunden ein Schiff entdeckt haben, das mit nichts vergleichbar ist, was noch in diesem System existiert…“ Er machte eine Pause und senkte den Blick; Raul erkannte ein Bandaufzeichnungsgerät auf dem Tisch vor ihm. „Dies ist ein Report von Kapitän Smith, der den Oberbefehl über die Patrouillenflotte hatte, die das Schiff entdeckte.“ Er drückte einen Knopf.

Raul driftete gegen den Tisch; er lauschte gespannt, der Ausdruck der Gesichter entlang des Tisches wechselte schlagartig. Man hatte den Eindringling als ein Fusionsschiff des Demarchy angesehen, das diskanisches Hoheitsgebiet verletzte. Dann, als man sich näherte und die Stimme einer Frau auf die Anfrage antwortete, hatte man erkannt, etwas vollkommen Unerwartetes entdeckt zu haben. Das Schiff war vor ihnen geflohen, es beschleunigte mit dem unvorstellbaren Wert von zehn Metern pro Sekundenquadrat. Es hatte eine der eigenen Einheiten, die sich näherten, allein mit der tödlichen Abstrahlung der Schubdüsen fast mühelos zerstört. Doch sie hatten das Feuer auf das fliehende Schiff eröffnet und eine kleine, expandierende Trümmerwolke gesehen…

Ein unterschwelliges Gefühl von Ärger und Freude machte sich am Tisch breit. „Warum, zum Teufel, gab Smith der Frau keine Hafenkoordinaten, als sie ihn darum bat?“ fragte Lobaschewski neben ihm murmelnd. „Schien verdammt aussichtsreicher, als das Schiff gewaltsam zu nehmen. Ein Schiff verloren — geschieht ihm recht.“ Er starrte über das Niemandsland zur Opposition hinüber. Raul behielt seine ausdruckslose Miene bei.

Chatichai hob sowohl den Blick als auch seine Stimme. „Die Frage, Gentlemen, ist nun nicht etwa, ob Kapitän Smith gemäß den Interessen der Großen Harmonie handelte, sondern, welche Aktionen weiterhin bezüglich dieses Schiffes unternommen werden sollten. Ich glaube, niemand hier will bestreiten, daß dieses Schiff aus einem anderen System kommt…“ Er machte eine Pause, doch niemand bezweifelte es. „Und ich glaube, wir müssen niemandem im Detail darlegen, was ein solches Schiff für unsere Ökonomie bedeuten würde… oder für die des Demarchy, wenn es an unserer Statt das Schiff in die Hand bekommt.“ Eine weitere Pause. „Aber ist es vorstellbar oder wahrscheinlich, dieses Schiff in die Hand zu bekommen? Und andererseits — welche Maßnahmen sollten getroffen werden, um zu verhindern, daß es in die Hände des Demarchy fällt?“

Raul betrachtete den matten Glanz der Plastikoberfläche des Tisches, er sah durch sie hindurch, während er mit halber Aufmerksamkeit der Debatte lauschte, die am Tisch entbrannt war: Das Schiff war beschädigt… nichts, was Himmels Gürtel ihm entgegensetzen konnte, war in der Lage, es einzuholen. Das Schiff könnte sich wegen des Angriffs das Demarchy aussuchen… es gab keinen Grund anzunehmen, das Schiff würde nun noch irgend jemandem im Gürtel vertrauen. Das Schiff war die Lösung für das Überleben der Harmonie… das Schiff war ein Phantom, dessen Verfolgung nur wichtige Rohstoffe vergeuden würde, deren Verlust man sich nicht leisten konnte…

Raul sah auf und ordnete seine eigenen Gedanken. Er sprach naturgemäß erst dann, wenn er alle Seiten einer Frage betrachtet hatte; schon vor langer Zeit hatte er gelernt, daß selektive Stille ein wesentlich effektiveres Werkzeug als eine laute Stimme war. Seit seiner Beförderung zur Hand hatte er sie mit sehr gutem Erfolg benutzt, um sich die Reputation zu erwerben, zu bekommen, was er wollte, um die Effizienz der Handelsmarine zu steigern und den Einfluß der Handelsfraktion zu stärken. Als er eine Lücke entdeckte, griff er in die Diskussion ein. „Wie Sie alle wissen, habe ich mich von Anfang an gegen den Aufbau und Unterhalt der schweren Streitkräfte ausgesprochen…“ Er warf einen Blick über den Tisch, sah Ablehnung auf der anderen Seite, fühlte Lobaschewskis Zustimmung neben sich, die sich über die ganze eigene Seite ausbreitete. Zusammen mit einer Minderheit der anderen war er der Ansicht, das Demarchy verfüge über keinerlei ernsthafte Faktoren zur Bedrohung der Sicherheit der Großen Harmonie und die Ressourcen, die zum Unterhalt der Verteidigungsflotte verwendet wurden, dienten den Interessen der Großen Harmonie besser, würde man sie zum Handel innerhalb der Ringe und auch zum Handel mit dem Demarchy verwenden. Denn er wußte, der Status quo bedeutete eine Verschlechterung, und absolut nichts konnte diesen Befehl rückgängig machen. „Doch dies ist eine Situation, die ich niemals vorhersah. In dieser Situation, das gebe ich zu, bin ich glücklich, daß wir über gut ausgerüstete Streitkräfte verfügen… und ich bin bereit, sie zur Verfolgung dieses Schiffes heranzuziehen…“ Ein angesichts dieses Verrates indigniertes Stimmengewirr unterbrach ihn; er verfolgte, wie der Ärger sich langsam in Überraschung verwandelte. „Ich weiß, es ist ein Spiel mit hohen Risiken. Ich weiß, es wird vielleicht vergeblich sein; die Umstände, die dem Einfangen dieses Schiffes entgegenstehen, sind verdammt hoch. Aber es ist nicht unmöglich: Das Schiff ist beschädigt, und wir wissen nicht, in welchem Ausmaß. Vielleicht liegen sie im Moment irgendwo in Lansing, wenn Lansing noch existiert; es ist einen Verlust wert, das herauszufinden. Wir haben diese verdammte Schlachtflotte, ob wir es wollen oder nicht — laßt sie uns einem vernünftigen Zweck zuführen! Wenn wir soviel über das Raumschiff wissen, können Sie Ihren Kopf darauf verwetten, das Demarchy weiß ebensoviel — und ist ebenso interessiert. Ich glaube, sie sind ohne das Schiff keine Gefahr, aber wenn sie das Schiff in die Hand bekommen und wir nicht, wird alles, was wir in Zukunft unternehmen, einen rein akademischen Charakter haben.

Ich bin der Meinung, die am schnellsten bereitzustellenden Einheiten sollten sofort startklar gemacht werden, um das Schiff in Richtung Lansing zu verfolgen. Und ich bitte darum, das Kommando zu bekommen…“

Als der Druck der Beschleunigung plötzlich nachließ, verblaßte in seiner Erinnerung die Schärfe der letzten Debatte, die angestaute Spannung fiel von seinem Körper ab. Am Ende hatte er gewonnen, da es niemanden im Saal gegeben hatte, der seine Aufrichtigkeit oder seine Entschlossenheit in Frage stellte, jedes gesteckte Ziel auch zu erreichen. Daher befanden die Schiffe sich nun im freien Fall nach Lansing. Und wenn die Lebenserhaltungssysteme durchhielten, würden sie etwas finden — alles oder nichts. Die Karten waren aufgedeckt; die Große Harmonie hatte auf die allerletzte Chance gesetzt, die sie jemals haben würde.

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