Diskus, ein rötlicher Karneol von der Größe einer Faust, war vor dem silbernen Hintergrund deutlich zu sehen. Die Ringe, fast horizontal, waren Streifen geschmolzenen Lichts, die sich auf dem Schirm ausbreiteten. Wadie schwebte im Zentrum des Kontrollraums, seine Gedanken kreisten um das Objekt, das die Ebenmäßigkeit der Szenerie störte: Schnee-der-Errettung, dreißig Bogensekunden vor Diskus im Orbit, jenseits der Untiefen der Gravitationsquelle. Schnee-der-Errettung, das man vor dem Krieg Bangkok genannt hatte, die Hauptdestille der Ringe. Nur eine von fünfen, doch ihr Ausstoß lag um das Zehnfache höher als jener der restlichen vier zusammengenommen. Was zum Teil daran lag, daß sie über eine Nuklearbatterie verfügte, die im Demarchy gebaut worden war, teilweise aber auch daran, daß man beim Transport einen Linearbeschleuniger einsetzen konnte, der ebenfalls aus dem Demarchy stammte, hier aber unvergleichlich nützlicher war, weil der Transport nur über kurze Strecken erfolgte. Die eigenen, primitiven Verbrennungsraketen der Ringe wurden damit zu hoffnungslos überholten Tankern.
Er erinnerte sich an Schnee-der-Errettung, wie es bei seiner Ankunft mit den Ingenieuren des Demarchy ausgesehen hatte: ein endloses Grau, das über den Eisflächen und Steinwüsten lag, eine Kälte, die einem in die Knochen kroch, bis man sich nicht mehr erinnern konnte, was Wärme war, eine zahlenmäßig kleine, graue Bevölkerung, die fast im Fegefeuer lebte. Eine Bevölkerung, die fanatisch bis an den Rand des Irrsinns war — in den Augen des Demarchy. Er war entsandt worden, um zu verhindern, daß das Demarchy und die Ringe sich gegenseitig zerfleischten. Außer ihm hatte jeder andere qualifizierte Mann diese Aufgabe abgelehnt. Er war gekommen, um zwei Völker zu sehen, die bei allem Argwohn niemals ihr Ziel vergaßen: zu retten, was noch zu retten war. Und in den fünfzig Megasekunden, die er in diesem grimmigen und einsamen Exil verbrachte, hatte er eine große Zahl von Menschen kennengelernt, die er nur als Freunde bezeichnen konnte, und er hatte mehr von der Großen Harmonie der Ringbewohner kennengelernt als jeder andere Demarchos. Er hatte das kärgliche Leben der Ringbewohner verstehen gelernt, er hatte eingesehen, weshalb sie sich an ihre repressive, kollektivistische Ideologie klammerten: Sie alle wußten, daß sie entweder zusammenhielten oder untergehen würden…
Die Stimme des Kapitäns rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Er richtete sein Augenmerk auf sie, wie sie so frei vor dem Schirm schwebte, ihr Haar driftete sanft, befreit vom Druck der Gravitation, die Ärmel hatte sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Während er sie anstarrte, überlagerte die Gegenwart die Vergangenheit. Die saubere, farbige Wärme des Kontrollraums strahlte plötzlich eine Kargheit aus, die Morningsides Schlichtheit seltsam frivol erscheinen ließ.
Morningside… würde er dieses Volk jemals so verstehen können wie die Ringbewohner? Wie lange dauerte es, bis man Kontakt zu Menschen fand, die mit jeder einzelnen Bewegung gegen das Ordnungsgefühl verstießen? Deren Verhalten jeden Versuch der Kategorisierung unmöglich machte und deren Motive einem wie Wasser zwischen den Fingern hindurchrannen… Vor vier Kilosekunden war er in die oberste Etage gekommen, um sich etwas zu essen zu holen, und dort hatte er den Kapitän und Welkin bereits im Speisesaal vorgefunden, zusammen mit der gitarrespielenden Bird Alyn. Sie alle hatten zusammen gesungen, und man hätte kaum glauben mögen, daß sie in vier Kilosekunden einen Akt der Piraterie begehen oder einer Entscheidung gegenüberstehen würden, von deren Ausgang ihrer aller Leben abhing…
Gemeinsam wollen wir weiter wandern,
Unser Lied niemals enden kann…
Oder vielleicht, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, sangen sie auch nur deshalb, weil sie es ganz genau wußten und ihre Gedanken verzweifelt ablenken wollten. Nicht was man singt oder wie, hatte Clewell gesagt, sondern was man dabei fühlt. Plötzlich war er sich seiner eigenen Rolle an den kommenden Ereignissen bewußt geworden, und etwas Stärkeres als Neugier hatte ihn zu ihnen hingezogen… nur um Bertha Torgussens Gesicht aus der Nähe zu sehen, aus dem bei seinem Anblick alle Wärme verschwand, nur um zu sehen, wie sie bei seiner Annäherung aufstand, den Gesang unterbrach und abrupt den Raum verließ.
„… Ich kann nicht glauben, was ich hier sehe, Pappy. Eigentlich müßten sie dort unten braten, aber das tun sie nicht. Es gibt keine Magnetosphäre dort unten, kein meßbares Magnetfeld… Wissen Sie etwas darüber, Abdhiamal?“ Der Kapitän sah ihn über die Schultern an, ohne jedoch seinem Blick direkt zu begegnen.
Er sah an ihr vorbei zum Schirm. „Das macht Himmel, Kapitän. Die Felder von Diskus sind stark genug, aber sie reichen kaum höher als bis zu den Ringen. Das war einer der Gründe, der uns zu diesem System führte. Die Felsen und Schneeklumpen um Diskus sind besser zugänglich, als es jene damals um den Alten Jupiter waren.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Sie scheinen sich keine großen Gedanken darüber zu machen, ob wir gebraten werden!“
„Wir können auf Morningside gute Abschirmungen herstellen, sonst wären wir schon lange gebraten worden.“ Sie wandte sich wie immer brüsk von ihm ab und sah zu Bird Alyn hinüber, die dicht neben ihrem Kopf an der Decke schwebte. „Bird Alyn, könntest du die lokale Funkfrequenz für mich suchen?“ Ihre Stimme war sanft.
Bird Alyn nickte, stieß sich von der Decke ab und schwebte zur Konsole herab, wo sie sich einen Kopfhörer schnappte.
„Wo ist Shadow Jack?“ fragte Welkin.
Bird Alyn starrte den Schirm an und murmelte etwas Unverständliches.
„Was?“
„…weiß es nicht… sagte… glaubt nicht, ertragen zu können, wie…“ Sie zuckte die Achseln. Statische Störgeräusche wurden laut, als sie den Empfänger einschaltete. Urplötzlich wurde die Statik von Worten abgelöst. Bird Alyn justierte die Kontrollen, woraufhin die Worte lauter wurden. „Hier…“
„Was senden sie?“
„Ich glaube, sie unterhalten sich mit einem Schiff, einem Tanker. Ich hörte das Wort ,Wasserstoff’.“
„Gut. Dann werden wir sie jetzt ziemlich unsanft unterbrechen.“ Der Kapitän griff nach dem Sendeknopf. „Und sie wissen auch ganz bestimmt, wer wir sind, Abdhiamal?“
„Da bin ich mir sicher. Sogar die Ringbewohner dürften mittlerweile mitbekommen haben, was mit diesem Schiff passiert ist. Und wenn ihre Propaganda so extrem ist wie immer, dann werden sie in Ihnen eine wahre Schlächterin sehen. Man wird ihre Drohung… respektieren.“
„Ausgezeichnet.“ Sie befeuchtete ihre Lippen und drückte den Knopf. „Schnee-der-Errettung, Schnee-der-Errettung, bitte kommen…“
Der Lautsprecher schrillte laut auf. Bird Alyn riß den Kopfhörer herunter.
„Wer ist da? Zum Teufel, verschwinden Sie von dieser Frequenz! Wir müssen hier die Verschiffung verschiedener Waren überwachen! Wollen Sie…“
Die Hand des Kapitäns auf dem Knopf unterbrach seinen Wortschwall. „Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören. Wir haben etwas Wichtigeres zu sagen.“
„Wer spricht?“
„Hier ist…“ — sie zögerte — das Schiff, das von Ihrer Flotte vor zwei Megasekunden angegriffen wurde… das Schiff von Außerhalb.“ Sie ließ den Knopf los.
Keine Antwort.
„Sie haben sie beeindruckt.“ Wadie lächelte humorlos.
Nun kam eine andere Stimme durch, eine Stimme, die ihm seltsam vertraut war und die den Tanker in einen Warteorbit beorderte. Welkin griff an Bird Alyns Schulter vorbei zum Funkpult, woraufhin auf dem Bildschirm ein neues Segment in einem Blizzard statischen Schnees aufwallte. „Wir empfangen jetzt Breitband.“ Er drückte mehrere Tasten an der Konsole, und plötzlich zeigte der Schirm ein verzerrtes Dreifachbild. Er gab eine Korrektur ein, wonach sich ein einzelnes Schwarzweißbild neu formierte. Sie sahen ein kantiges Gesicht, das hinter einer dünnen, runden Drahtbrille hervorsah: ein Mann in mittleren Jahren in einer schweren Jacke mit einer pompösen Schirmmütze. „Wir senden jetzt ganz respektabel“, sagte Welkin. Der Kapitän nickte, sie schien sich voll auf die Fingerfertigkeit des alten Mannes zu verlassen.
„Was wollen Sie hier?“ Zu der vertrauten Stimme gesellte sich ein vertrautes Gesicht, das Zorn oder Furcht verzerrte. Zorn… Djem Nakamore war zu starrköpfig und dogmatisch, als daß er etwas anderes hätte empfinden können. Wadie beeilte sich, aus dem Blickfeld des Mannes zu verschwinden, der Bertha Torgussen anstarrte.
Ihr Gesicht verhärtete sich, bis er den Blick abwandte. „Wir wollen tausend Tonnen verarbeiteten Wasserstoff, die mit einem Traktorstrahl, dessen Koordinaten ich Ihnen angebe, zu unserem Schiff gesandt werden. Weigern Sie sich, so werde ich mit meinem Schiff Ihre Destille zerstören, und Sie werden alle sterben.“ Die harten Worte schienen ihr leicht über die Lippen zu kommen. Wadie war überrascht.
Er sah, wie ihre Gesichter sich veränderten; die der beiden Fremden im Hintergrund zeigten echte Anzeichen von Furcht. Nakamore versteifte sich, und er schwebte etwas aus dem Bereich des Schirms.
„Sie werden uns nicht zerstören. Dann würde sogar das Demarchy Ihren Tod wollen.“
„Wir sind nicht aus diesem System — ihr bedeutet uns nichts. Auch das Demarchy nicht. Ich hoffe, ihr geht alle zum Teufel für das, was ihr uns angetan habt. Aber Schnee-der-Errettung wird ganz sicher zuerst dorthin gehen, wenn Sie meinen Befehlen nicht gehorchen.“
„… sie meinen es ernst…“, sagte eine leise Stimme im Hintergrund. Nakamore wandte sich abrupt weg und schaltete den Ton ab. Er unterhielt sich mit den anderen, deren Augen immer noch furchtsam in den Schirm blinzelten. Ihr Atem kondensierte beim Sprechen in der kalten Luft. Nakamore wandte sich wieder der Konsole unter ihm zu, die nicht zu sehen war, und schaltete den Ton ein. „Wir haben keine tausend Tonnen Wasserstoff parat. So viel hatten wir noch nie, und wir bereiten gerade eine große Schiffsladung vor.“
Wadie schüttelte den Kopf. „Sie lassen ihre Vorräte niemals so weit absinken. Der Ausstoß liegt bei nahezu dreitausend Tonnen pro Megasekunde, und sie haben mindestens das Vierfache in Reserve, sollte die Destille einmal repariert und stillgelegt werden müssen.“
Der Kapitän drehte sich zu ihm und schaltete nun ihrerseits den Ton ab. „Sind Sie so vertraut mit ihrer Produktionsweise?“
Er nickte. „Wie ich schon sagte — ich habe fast fünfzig Millionen Sekunden dort unten verbracht. Ich habe gesehen, wie die Destille zusammengebaut und in Betrieb genommen wurde. Ich kenne ihre Kapazität. Und ich weiß, was für ein Mann…“ Er erinnerte sich an Djem Nakamores Gesicht, den roten, kahlen Schädel, erinnerte sich an das amüsierte Gesicht von Djems Halbbruder Raul. Er hörte das Zischen, als Kondenswasser von der Decke auf die rotglühende Ofenplatte tropfte, während er wartete, bis Djem langsam seinen nächsten Zug ausgedacht hatte, der ihn der hundertsten, wenn nicht gar tausendsten verlorenen Schachpartie gegen Wadie Abdhiamal wieder etwas näher bringen würde. Störrisch, belehrend und phantasielos… aufrichtig, rechtschaffen und hingebungsvoll mit seiner Aufgabe verbunden. Kein Gegner, wie Djem selbst ihm wieder und wieder versichert hatte, für Wadie mit seinem klaren, präzisen Verstand — aber er konnte es einfach nicht lassen, halsstarrig immer wieder zu versuchen, ein Spiel für sich zu entscheiden. Wadie richtete die Ohrenschützer seiner dicken Mütze und griff nach seiner Königin. Schachmatt. Ich kenne diesen Mann. Drohen Sie ihm „… er ist nicht gewieft genug, um erkennen zu können, ob Sie bluffen. Zudem wird er alles versuchen, um die Destille zu retten.“ Er erkannte plötzlich, daß auch Raul sie von dort unten hätte anstarren können, und dankte allen Göttern dafür, daß es nicht so war. Er vermied sowohl Bertha Torgussens Blick wie auch den der hellen Augen auf dem Schirm.
Der Kapitän runzelte leicht die Stirn, dann wandte sie sich wieder Nakamore zu. „Das akzeptiere ich nicht. Sie haben fünfundzwanzigtausend Sekunden Zeit, uns den Wasserstoff zu liefern, dann werden Sie vernichtet.“
„Das ist unmöglich…! Wir brauchen mindestens hunderttausend Sekunden dafür.“
„Das ist eine Lüge“, sagte Wadie leise und schüttelte wieder den Kopf. „Er will Zeit gewinnen. Die Große Harmonie hat genügend Kriegsschiffe in diesem Sektor stationiert; er hofft wahrscheinlich darauf, daß ein paar Einheiten rechtzeitig hier eintreffen können.“
Sie nickte. „Sie haben fünfundzwanzig Kilosekunden Zeit“, sagte sie gnadenlos. „Ich weiß, Sie haben einen leistungsstarken Linearbeschleuniger dort unten. Setzen Sie ihn ein. Ich will keine bemannten Fahrzeuge in unserer Nähe sehen. Notieren Sie die Koordinaten…“ Sie sprach jede Zahl langsam und deutlich aus.
Nachdem sie fertig war, sah Nakamore an ihr vorbei, wütend und geschlagen, doch davon zeigte sein Gesicht wenig. „Gibst du dort die Anweisungen, Wadie?“
Wadie schwebte starr, bewegungslos… sprachlos. Schließlich stieß er sich in Nakamores Blickfeld. „Ja, Djem, ich bin’s.“
„Wir haben die Debatten des Demarchy empfangen… wie man dich zum Gesetzlosen erklärt hat. Ich dachte, vielleicht…“ Nakamores Gesicht zeigte den zornigen Ausdruck eines Mannes, dem Loyalität über alles geht und der eben die schmerzliche Erfahrung hatte machen müssen, von einem Freund betrogen worden zu sein. „Wir waren Narren, nicht zu erkennen, was du und deine… Außerirdischen versuchen würden. Warum willst du dich mit tausend Tonnen Wasserstoff zufriedengeben? Warum nimmst du nicht alles?“
„Wir benötigen nur tausend Tonnen, Djem. Und die brauchen wir dringend, sonst würde ich dir das nicht antun.“ Ohne sie war das Raumschiff gefangen, leichte Beute für den erstbesten, der es nehmen konnte. Und dann wären die Große Harmonie, das Demarchy und alle anderen die Beute, und die Drohungen keine Bluffs mehr. So war es am besten, es war die einzig vernünftige Entscheidung, die er treffen konnte. „Wenn er nur Djem“, begann er, „ich…“ Aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen.
Nakamore wartete, seine schwarzen Augen sahen ihn gnadenlos an. Schließlich beugte er sich nach vorn und griff nach dem unsichtbaren Pult. „Verräter!“ Sein Gesicht verschwand und mit ihm die letzte Chance auf Asyl für einen Verbannten. Diskus füllte den Schirm aus.
Der Kapitän starrte wie gebannt auf den Schirm, die Lippen zusammengekniffen, eine zerbrechliche, goldene Figurine. Welkin sah mitleidig zu Wadie, sagte aber nichts und ersparte ihm so die Peinlichkeit, ihn auf eine geistreiche Antwort, die ihm nicht über die Lippen gekommen wäre, warten zu lassen.
„… glaubst du, sie werden es tun?“ Bird Alyn zupfte am losen Ende ihres Gürtels. „Und wenn sie es nicht tun?“
„Sie werden.“ Er hatte seine Stimme wiedergefunden — und sein inneres Gleichgewicht. „In fünfzig Millionen Sekunden hat Djem Nakamore keine einzige Partie Schach gegen mich gewonnen.“
„Du warst perfekt, Bertha.“ Welkin wandte sich wieder von ihm ab, seine alten Augen suchten den Blick Berthas, die den Kopf gesenkt hatte. „Eric hätte es nicht überzeugender machen können.“
„Wenn Eric noch am Leben wäre, hätte er das überhaupt nicht getan.“
Wadie nickte erleichtert. „Ich habe fast selbst geglaubt, Sie würden jedes Wort ernst meinen.“
Sie zündete ein Streichholz an. „Wie kommen Sie darauf, daß dies nicht der Fall ist, Abdhiamal?“ Sie entzündete den Tabak in ihrer Pfeife und starrte ihn mit demselben harten Blick an, der schon Schnee-der-Errettung in die Knie gezwungen hatte. „Was haben die Ringbewohner denn uns alles angetan?“
„In der Tat.“ Er verbeugte sich grimmig. „Ich habe meine Lektion gelernt — ich werde nie mehr etwas Schlechtes über einen Ingenieur sagen.“ Er stieß sich zur Tür ab.
Bertha sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterhangelte. In ihr war eine Kälte, die die entschuldigenden Worte, die ihr auf der Zunge lagen, ungesagt bleiben ließ.
„Bertha… würdest du… willst du die Destille wirklich… zerstören?“ flüsterte Bird Alyn unglücklich.
Bertha sah ihr entsetztes, furchtsames Gesicht. „Nein, natürlich nicht, Bird Alyn, das würde ich nicht tun. Ich bin nicht wirklich eine… eine Schlächterin.“
Bird Alyn nickte, blinzelte und manövrierte rückwärts zur Tür.
Clewell rieb sich den Bart. „Warum verhältst du dich dann so, Bertha? Das war auch für mich ein wenig zu überzeugend. Oder ist es kein Schauspiel mehr?“
Scham ließ ihr Gesicht glühen und vertrieb die Kälte aus ihr. „Das weißt du genau, Pappy! Aber dieser verdammte Abdhiamal…“
Clewell löste seinen Sicherheitsgurt und hob den Kopf ein wenig. „Er ist kein so übler Kerl… für einen ,verdammten Gecken’. Er hat sich unter einem Grav verdammt gut gehalten… bei allem, was ihm zugemutet wurde.“ Was bedeutete, daß sie ihm seine Lage nicht gerade vereinfacht hatte.
„Er ist eine Null. Er hatte nur Glück, daß er sich nicht selbst verkrüppelt hat.“ Sie sah zornerfüllt weg.
„Er ist ein stolzer Mann, Bertha. Er selbst wird es vielleicht nicht so nennen… aber jeder, der aufrecht stehen und lächeln kann, während die Gravitation ihn fast in Stücke reißt — und seine Loyalität obendrein —, hat meine aufrichtigste Bewunderung. In gewisser Weise erinnert er mich an…“
„Er ist nicht wie Eric!“
Er hob eine Braue. „Das wollte ich nicht sagen. Er erinnert mich an dich.“ Er hielt eine Hand hoch, um ihre protestierende Bemerkung abzublocken. „Aber jetzt, da du es erwähnst… er hat tatsächlich so etwas an sich, vielleicht seine Art, etwas an seinem Äußeren. Vielleicht liegt es daran, daß ich ihn gegen meinen Willen mag. Vielleicht macht dir das so sehr zu schaffen. Denn irgendwas macht dir zu schaffen.“
„Oh, Pappy…“ Sie hob eine Hand und preßte ihre Ringe gegen den Mund. „Es stimmt. Immer wenn ich ihn ansehe, wenn er irgend etwas macht… erinnert er mich… Aber er ist nicht Eric. Er ist keiner von uns, er ist einer von ihnen. Wie kann ich nur so fühlen. Wie kann ich aufhören… zu wollen, zu… wollen…“ Sie streckte einen Arm aus. Clewells starke Hand schloß sich um das Gelenk.
Er streichelte ihr glattes, schwebendes Haar. „Ich weiß es nicht. Ich kenne die Antwort nicht, Bertha.“ Er seufzte. „Ich weiß nicht, warum sie immer behaupten, betagte Häupter seien weise. Betagt sein ist nur ein anderer Ausdruck für alt sein.“
Shadow Jack bewegte sich ruhelos. Er war in dem zu einsamen Zimmer gefangen, in dem er schlief und in dem er vom Geist eines Fremden verfolgt wurde. Bücher über Ökonomie, ein sinnloser Gedichtband, ein handgestrickter Pullover, der in der Luft schwebte — die Gegenwart eines Toten war in allen Schubladen, in allen unordentlichen Ecken und Winkeln zu spüren. Rusty klammerte sich an seine Schulter, ihr bereitwilliges Akzeptieren linderte die Schmach seines Exils. Er streichelte sie gedankenlos und lauschte dem Ticken der Uhr, ein bedeutungsloses Geräusch, das das Hinwegticken der Sekunden markierte. Er fragte sich, ob sie von den Ringbewohnern bekommen würden, was sie wollten, fragte sich, wie er Bertha Torgussen jemals wieder gegenübertreten könnte… fragte sich, wie er den Rest seines Lebens meistern sollte.
Rustys winziges, nichtmenschliches Gesicht verschwand von seiner Schulter, das Tier wackelte mit den Ohren. „Bird Alyn?“ Er stieß sich zur Tür und sah Wadie Abdhiamal in einem anderen Zimmer verschwinden. Fast unhörbar vernahm er Abdhiamals Stimme: „Zum Teufel mit dieser Frau! Sie hat in das Antlitz Gottes gespien.“
Shadow Jack ging in den Korridor, vor Abdhiamals Tür verharrte er. „Was ist los? Hat sie in Ihr Antlitz gespien?“
Abdhiamal wandte sich um, und einen Augenblick lang drückte seine Miene Verlegenheit aus. Er glättete abwesend sein Arbeitshemd, bis es fast so glatt wie sein Gesichtsausdruck war. „Ja… so etwas war es wohl.“
„Was geschah da oben? Bekommen wir den Wasserstoff?“
„Wahrscheinlich… Warum waren Sie nicht im Kontrollraum?“
Er verzog das Gesicht. „Ich konnte nicht. Ich… ich habe den Kapitän als pervers bezeichnet.“
„Was hast du?“ Abdhiamal runzelte ungläubig die Stirn.
Shadow Jack umklammerte den Türrahmen, um sich weiterzuziehen, doch Verzweiflung ließ ihn innehalten. „Kann… ich mit Ihnen sprechen… von Mann zu Mann?“
Abdhiamal bat ihn mit einer Geste in sein Zimmer. Sein Gesicht war todernst. „Schon möglich. Worüber?“
Shadow Jack räusperte sich. Rusty stieß sich von seiner Schulter ab, erhob sich wie ein startendes Schiff in die Luft und schwamm auf Abdhiamal zu. „Wie kommt es, daß Sie nicht verheiratet sind?“
Abdhiamal lachte verwirrt. „Ich weiß es nicht.“ Er sah der Katze zu, die sich anschickte, sich mit einer Pfote auf seine Schulter herabzuziehen. „Vielleicht, weil ich bisher noch keine Frau getroffen habe, die es wagte, Gott ins Antlitz zu speien.“
Shadow Jack riß die Augen auf, und während er Abdhiamal ansah, fragte er sich, wer wohl von ihnen beiden überraschter war.
Abdhiamal lachte wieder achselzuckend. „Aber irgendwie bezweifle ich das.“
„Ich meine… Sie sagten kürzlich, nun würden Sie niemals mehr heiraten. Ich dachte, das hätte vielleicht… ein paar andere Gründe.“ Er umklammerte den Türrahmen.
„Hat es.“
Er verharrte, immer noch festgeklammert.
„Ich bin viel herumgereist. Das heißt, ich war hoher Strahlung ausgesetzt, wodurch die Gefahr genetischer Schäden besteht. Wir können Sperma konservieren, damit wenigstens die Männer reisen und trotzdem gesunde Kinder haben können. Aber nach dem verhängten Urteil bin ich jetzt, rechtlich gesehen, tot. Sie werden meinen Vorrat vernichten.“ Abdhiamal atmete tief ein. „Und ich bin sterilisiert.“
Shadow Jack sah ihn an, und langsam kamen ihm die Worte über die Lippen: „Ich wollte, ich wäre steril!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte nicht… so habe ich es nicht gemeint. Aber wir können niemals heiraten, Bird Alyn und ich, weil ich nicht steril bin und sie auch nicht. Wir sind strahlungsgeschädigt. Wir sollten keine Kinder haben, aber das würden wir…“
Abdhiamal kraulte Rusty unter dem Kinn. „Das ist eine einfache Operation. Können sie die auf Lansing nicht durchführen?“
„Können schon… aber sie wollen nicht.“ Ein Gefühl des Elends lag wie ein Zentnerstein auf ihm. „Als Materialist muß man für alle seine Aktionen selbst die Verantwortung tragen. Es wird von einem erwartet, daß man selbst die Konsequenzen für sein Tun trägt und sie nicht anderen aufbürdet. Wie meine Mutter… als meine Schwester geboren worden war und sie sagten, sie sei zu sehr deformiert… meine Mutter mußte sie aussetzen… Sie ließ es nicht einmal mehr zu, daß mein Vater sie sah.“ Er betrachtete seine Hände. „Aber um die medizinische Technologie ist es schlecht bestellt. Manchmal glaube ich einfach nur, sie wollen nichts von dem, was übriggeblieben ist, verschwenden.“
Abdhiamals Stimme hatte plötzlich wieder ihren sanften, professionellen Ton. „Nach welchen Kriterien wurden Sie für defekt erklärt? Sie machen doch einen gesunden Eindruck.“
Shadow Jacks Hände umklammerten Metall. „Vielleicht war ich selbst nicht defekt, aber meine Schwester war es. Und sie brauchten mehr Außenarbeiter, daher sagten sie mir, ich müßte an der Oberfläche arbeiten. Das tut man, wenn man offensichtliche Schäden aufweist, so wie Bird Alyn. Dort habe ich sie auch kennengelernt…“ Wo er erkannt hatte, was das Leben einst bedeutet haben mußte, inmitten der Schönheit von Gärten und nicht umgeben von kahlem Gestein. Und dort hatte er auch eingesehen, daß sein eigenes Leben nicht deshalb endete, weil er die schützende Hülle der Felsen hatte verlassen müssen, daß dies weder das Ende von Hoffnung und Zuversicht, noch von Glauben und Gefühlen war. Aber er hatte zu viele Megasekunden auf der Oberfläche der winzigen Welt zugebracht, zu viele Megasekunden auf einem verseuchten Schiff… Und es geschahen keine Wunder, um eine verkrüppelte Hand oder ein gebrochenes Herz zu heilen.
Er schlug gegen den Türrahmen. „Alles geht schief! Ich wollte Bertha nicht… so nennen, wie ich es getan habe. Aber sie hatte so viele Ehemänner, sie hat sogar Kinder! Wo Bird Alyn und ich nicht einmal uns selbst haben können… das machte mich fast verrückt. Bertha hat so viel verloren, und ich sagte… sagte ihr das. Sie half uns, nachdem wir versucht hatten, ihr Schiff zu stehlen, wie jeder andere auch…“
„Das haben Sie getan? Und sie hat Ihnen beiden deswegen nichts getan?“
Er nickte. „Wir hatten nur einen Dosenöffner… Ich glaube, sie hielt uns für Narren.“
„Und Sie… sagten, sie hat Kinder?“ Abdhiamal betrachtete das breite Lederband, das sein Handgelenk umschloß.
„Ja. Im Weltraum reisen ist… ganz normal für sie. Es bedeutet nicht das Ende von allem.“ Er biß sich auf die Zunge, als ihm einfiel, daß es für die Mannschaft der Ranger doch das Ende gewesen war.
„Wenn sie Ihnen den versuchten Diebstahl ihres Schiffes vergeben hat, wird sie Ihnen auch das Wort ,pervers’ vergeben. Wahrscheinlich früher, als sie mir meine Bemerkungen über Ingenieure verzeihen wird.“
Shadow Jack runzelte verständnislos die Stirn.
Abdhiamals Lächeln erlosch. „Ich glaube, wir beide haben mehr als ein Problem gemeinsam. Wie jede Gruppe in Himmels Gürtel die Probleme der anderen teilt. Und inzwischen bin ich nicht mehr so sicher, ob es für uns eine einfache Antwort gibt.“
Shadow Jack wandte sich ab und sah Bird Alyn, die ihn vom Ende des Korridors aus betrachtete. Er begegnete ihrem Blick. Hoffnungslosigkeit zog ihn hinab wie die Kette der Gravitation. „Für uns gibt es überhaupt keine Antworten mehr. Das hätte ich wissen müssen. Tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten habe, Abdhiamal.“
Wadie schloß die Tür; er kraulte immer noch die Katze. In Gedanken sah er die Zukunft von Lansing — Kummer und Tod in den Gärten, und darin sah er die ganze Zukunft von Himmel… Die Zukunft? Die Stille legte sich schwer auf seine Ohren und betäubte ihn. Das Ende. Das Demarchy war nur ein schmelzendes Schneeflöckchen. Es gab keine Antwort mehr. Nichts, was er jemals tun konnte, nichts, was er je getan hatte, hatte den schleichenden Tod aufhalten können. Er hatte sich selbst in dem Glauben gewiegt, seine Arbeit habe tatsächlich einen relevanten Wert, seine Verhandlungen würden eine neue Art der Schöpfung darstellen, eine bindende Kraft, um Verfall und Untergang zurückzudrängen. Aber er hatte sich immer etwas vorgemacht. Er war ein verdammter Geck, der auf Kosten anderer Leute lebte… der sein Leben mit der Selbstillusion verschwendete, er könne sie dafür alle retten, der sein Leben verschwendete: Er hatte die letzte Chance auf ein Leben weggeworfen, ein Zuhause, eine Familie. Und alles, was er je gesagt oder getan hatte, war bedeutungslos. Alles war nichtig gewesen — und im Endeffekt würde es auch immer nichtig bleiben. Nichtig.
Rusty wand sich wie ein ungeduldiges Kind in seinem Griff. Als er sie losließ, geriet sein Arm in den Sog des Ventilators, wo ein kleines, rechteckiges Gebilde von der Größe einer Handfläche in der Schwebe gehalten wurde. Er zog es herab und sah es an. Es war ein Bild — ein Hologramm —, das einen Mann und eine Frau zeigte, die im grellen Sonnenlicht vor einem häßlichen Wohnhaus standen. Die Frau war Bertha Torgussen, ihr Haar war lang und fiel in Locken über ihre Schultern. Und der Mann, groß, mit dunklem Haar und sonnengebräunter Haut… Eric? Plötzlich hörte er ihre Stimme wieder, hinter einem dunklen Helmvisier in einem Zug auf Mekka. Tut… tut mir leid. Ich dachte, Sie wären jemand, den ich kannte. Wadie fuhr mit einem Finger über die Gestalten, drang durch sie hindurch. Geister…
Bertha Torgussens Stimme meldete sich aus einem Wandlautsprecher. Sie teilte der Besatzung mit, daß Nakamore auf ihre Bedingungen eingegangen war.