Ranger (Im Transit, Demarchy nach Diskus) + 2,40 Megasekunden

Bertha saß allein am Kontrollpult im sanften Halbdunkel des Kontrollraums und verfolgte den endlosen Strom der Fernsehübertragungen des Demarchy, die ihrer eigenen Wahl zufolge lautlos waren und die sie immer noch verfolgten, zweihundert Millionen Kilometer entfernt. In einer Art hypnotischer Gebanntheit machte sie sich Gedanken über die immer in Bewegung befindliche Medienmaschine des Demarchy und fragte sich, wie denn ein einziger Bürger — Demarchos? — jemals eine vernünftige Entscheidung treffen konnte, wenn er ständig mit tausenderlei Variationen der Wahrheit konfrontiert wurde. Und da sie selbst auf Mekka die Medienmänner kennengelernt hatte, hätte sie genug wissen sollen, um Wadie Abdhiamal Gelegenheit zum Sprechen zu geben…

Abrupt schaltete sie die Übertragungen ab und übertrug das Bild von Diskus auf den Schirm. In Gedanken sah sie die Rangen ein winziges Pünktchen, allein innerhalb von fünfhunderttausend Kilometern kahler Finsternis, das der Bahn von Diskus um die Sonne folgte, eine Bahn, die es wegführte von dem Felsenschwarm, der das Demarchy war. Doch dann erinnerte sie sich daran, daß sie nicht vollkommen allein waren. Sie dehnte die Vision ihres Verstandes aus und stellte sich die grotesken, langsamen Erzfrachter des Demarchy vor, die durch die Einsamkeit krochen. Schiffe, die eine Entfernung in hundert Tagen zurücklegten, für die ihr eigenes Schiff höchstenfalls sechs Tage benötigte. Ein kaum überbrückbarer Abgrund, von dem letztlich das Überleben des Demarchy und der Ringe abhing. Und eines Tages würde es keine Schiffe mehr geben, ihn zu überqueren…

Aber jetzt, wenn sie die violette Spur des Ausstoßes der Ranger zurückverfolgte, sah sie die drei Pünktchen, die sehr wohl die drei Fusionsschiffe sein konnten und die sie mit den empfindlichsten Instrumenten des Schiffes gerade noch wahrnehmen konnte.

Sie verfluchte das Demarchy, seine dünkelhafte Sophisterei, die künstliche Pracht, die sinnlose Vergeudung seiner Medien. Narren, die sich fanatisch an ihre Unabhängigkeit klammerten, wo sie doch eigentlich alle hätten zusammenarbeiten müssen. Sie lebten auf der Basis einer egoistischen Gier, ohne eine stabile Regierung, um sie zu kontrollieren, keine ehrlichen Bande von Freundschaft oder Verwandtschaft, nur Selbstsucht und Gier nach Wohlstand des Individuums… Und dann ihre Frauen. Nutzlos, frivol, verschwenderisch. Die größte Verschwendung in einer Gesellschaft, die doch so sehr auf ihre Ressourcen angewiesen war — auch auf die menschlichen.

Bruchstücke einer Unterhaltung formten sich in ihrem Verstand zu einem Ganzen — und plötzlich erinnerte sich Bertha daran, was Clewell über die verkrüppelte Bird Alyn gesagt hatte. Vielleicht waren sie in gewisser Weise eine Ressource, die man beschützen mußte: gesunde und fruchtbare Frauen, in einer Gesellschaft, wo der Strahlungspegel immer überdurchschnittlich hoch war. Frauen, die aus diesem Schutz eine Lebensart gemacht hatten, die so künstlich war wie alles in ihrer Welt… Vielleicht lag die Gefahr genetischer Schäden direkt an der Wurzel all der unverständlichen Gebräuche ihrer sexuellen Moral. Verzweifelte Menschen vollbrachten Verzweiflungstaten. Das hatte man zu Beginn sogar bei den Menschen von Morningside gesehen…

Sie drehte sich etwas in ihrem Sessel, um den schlafenden Shadow Jack zu betrachten, der friedlich träumend auf dem Boden lag, neben sich ein aufgeschlagenes Buch mit Bildern von Morningside. Wenn man die Lage schon für das Demarchy als verzweifelt ansehen mußte, überlegte sie, was mußte dann erst über Lansing gesagt werden? Mit einer Hand spielte sie liebkosend mit den Ringen an ihren Fingern, als Wadie Abdhiamal eintrat.

„Kapitän.“ Er machte seine übliche Verbeugung. Sie nickte erwidernd und sah ihm zu, wie er herüberkam: der ordentliche Demarchos, übertrieben geschniegelt und übertrieben freundlich. Und so ungeschickt wie ein Kind, das seine ersten Gehversuche macht. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, man sah ihm deutlich die Folgen von Streß und Flüssigkeitsverlust an. Sie erinnerte sich daran, daß er auf der Lansing 04 seinen Trinkwasservorrat dazu verwendet hatte, Gesicht und Hände zu waschen, in der Meinung, niemand würde ihm zusehen… Sie strich sich abwesend durch ihr Haar. „Haben Sie alles Notwendige gefunden, Abdhiamal? Haben Sie gegessen?“ Er hatte nicht zusammen mit ihnen allen im Speisesaal gegessen.

Er setzte sich. „Ja… etwas. Ich weiß nicht, was.“ Bei der Erinnerung sah er plötzlich merkwürdig kränklich aus. „Ich fürchte, Fleisch bekommt mir nicht besonders.“

„Wie… fühlen Sie sich?“

„Heimweh.“ Er lachte selbstanklagend, als sei es eine Lüge. Dann betrachtete er den blanken Schirm. Rusty sprang auf sein Knie, kuschelte sich in seinen Schoß, ihr Schwanz kitzelte ihre eigene Nase. Er streichelte ihr mit seiner dunklen Hand den Rücken. Bertha bemerkte den massiven Silberring mit den eingelegten Rubinen an seinem Finger.

„Tut mir leid.“ Sie holte die Pfeife aus der Hüfttasche ihrer Jeans, deren vertraute Form ihre Hände beruhigten.

„Keine Ursache.“ Er bewegte sich, worauf Rusty anklagend murrte und sich räkelte. „Denn Sie hatten recht, Kapitän, und ich habe die richtige Entscheidung getroffen, mit Ihnen zu kommen. Das Demarchy darf Ihr Schiff nicht bekommen — niemand in Himmels Gürtel darf das… Ich sage das nicht wegen der Dinge, die mir widerfahren sind…“ Aber etwas in seiner Stimme verriet ihr, daß das nur die halbe Wahrheit war. „Schon als ich das erste Mal von diesem Schiff hörte, wußte ich, zu viele Leute würden damit Gott spielen wollen.“ Er sah auf. „Auch wenn es nicht recht von mir ist, ich würde Ihr Schiff immer noch dem Demarchy übergeben, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte — weil ich es damit vielleicht retten könnte. Aber das könnte ich wahrscheinlich nicht. Die Regierung ist zu schwach, sie könnte gegenwärtig ihre Position keinesfalls halten.“ Seine Finger gruben sich in das nachgiebige Polster des Sessels, sein Gesicht war ausdruckslos. „Darum sage ich Ihnen das. Ich werde Ihnen helfen, von hier zu verschwinden, wo immer ich kann. Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen. Als meine letzte Tat für das Demarchy, um den Menschen dort einen letzten, kleinen Zeitvorsprung zu verschaffen — und um sie vor sich selbst zu retten.“ Seine Augen glitten zu Diskus, der auf dem Schirm zu sehen war. „Wenn ich schon ein Verräter sein soll, dann werde ich auch ein guter Verräter sein. Ich will stolz auf meine Arbeit sein können.“

Sie riß sich gewaltsam davon los, jeder seiner Bewegungen zu folgen. Ihr Gesicht war heiß. „Wenn Sie das wirklich ernst meinen, Abdhiamal, dann… nehme ich Ihre Hilfe an, welchen persönlichen Motiven sie auch immer entspringen mag. Ich muß alles wissen, was Sie mir über die Ringbewohner — die Ringer — erzählen können, ganz besonders benötige ich Anzahl und Standort ihrer Destillen. Egal wie primitiv sie sind, wenn wir ihnen mit einem unbewaffneten Schiff etwas stehlen wollen, müssen wir es sorgfältig planen… Und wie Sie schon sagten, bisher war ich bei der Durchsetzung meiner Wünsche nicht sehr erfolgreich. Strategie war schon immer Erics Sache — nie meine.“

„Ganz im Gegenteil. Auf Mekka haben Sie uns alle übertrumpft.“ Er bedachte sie mit einem ironischen, beifälligen Lächeln. „Ich glaube, ich kann Ihnen ausreichend genaue Koordinaten geben. Vor etwa zweihundertfünfzig Megasekunden habe ich lange Zeit in den Ringen verbracht, als ich ihnen half, ihre Hauptdestille zu vergrößern. Tatsache ist, ich habe…“ Plötzlich brach er ab. „Erzählen Sie mir von Morningside, Kapitän. Erzählen Sie mir von Ihrem Volk und wie man dort die Dinge angeht. Unser Weg scheint Ihnen nicht besonders zuzusagen.“

Sie überdachte die Worte, um hinter den Sinn dieses unerwarteten Themenwechsels zu kommen. Doch sie war sich nur sicher, daß er nicht wirklich eine Antwort haben wollte, sondern nur eine Ablenkung suchte. Wie ich auch. „Nein, er sagt mir wirklich nicht besonders zu, aber das ist Sache des Demarchy, es sei denn, es verstellt mir meinen Weg damit… Ich glaube, man könnte sagen, wir setzen unsere zwischenmenschlichen Beziehungen über alles — sowohl als Menschen und Freunde wie auch, ganz besonders, als Blutsverwandte. Sie wissen ja bereits von unserer Familieneinheit durch multiple Heirat.“ Sie sah auf, dann wieder weg. Er gab keinen Kommentar, doch sie konnte sein Unbehagen spüren. „Über allem steht unser ,Klan’ — nicht im technischen Sinn der Alten Welt, sieht man davon ab, daß die Zugehörigkeit einem sagt, wen man nicht heiraten kann — die Elternfamilie, Geschwister, die eigenen Kinder. Alle unsere Beziehungen erstrecken sich aber noch darüber hinaus… manchmal fast bis in die Unendlichkeit. Wir versuchen alle nach besten Kräften, uns gegenseitig umeinander zu kümmern. Fast jeder hat Verwandte irgendwo… es sei denn, eine Person, die nicht an der Arbeit teilhaben will, erkennt, daß nicht einmal ihre eigenen Verwandten mit ihr glücklich und zufrieden sind.

Die einzige formale soziale Struktur über dem Klan ist das, was wir als ,Halbheit’ bezeichnen…“ Sie verlor sich im Klang ihrer eigenen Stimme, vergaß sogar Abdhiamals Anwesenheit. Die lebende Erinnerung ihrer Erklärung erfüllte den Raum zwischen ihnen mit Bildern und Reminiszenzen… Die Borealis-Halbheit: eine unabhängige ökonomische Einheit zur Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Die Borealis-Halbheit: ihre Heimat, ihre Arbeit, ihre Familie, ihre Welt… ein lachendes Kind — ihre Tochter, oder sie selbst — ließ sich zurückfallen, um auf einer Schneewehe ungelenke, staksige Spuren zu hinterlassen…

„Unsere Industrie wird unabhängig geleitet, wie Ihre auch — aber ich nehme an, Sie würden sie trotzdem als ‚monopolistisch’ bezeichnen. Man arbeitet zusammen, aber nicht aus Profitgier, sondern weil man dazu gezwungen wird, sonst geht man unter. Das funktioniert, weil wir niemals von etwas zuviel haben — und das gilt besonders für Menschen. Meine Elternfamilie und viele meiner nächsten Verwandten betreiben eine Baumfarm in der Borealis-Halbheit… auch meine Frau Claire arbeitete dort. Manche Familien spezialisieren sich auf den Handel, aber Clewell und ich und unsere anderen Angehörigen waren von allem etwas…“ Sie erinnerte sich an das Ende des Tages in der endlosen Dämmerung, die Familie saß gemeinsam um den langen, dunklen Holztisch herum, während die Kinder ihnen das Essen brachten. Die behagliche Wärme des Feuers, die versinkende Sonne, die nie ganz vom Himmel verschwand, das belanglose Gerede über die kleinen Triumphe des Tages, die angenehme Schläfrigkeit… das herzliche Willkommen für einen Anverwandten, den seine Aufgabe Stunden oder Tage von zu Hause ferngehalten hatte. Eric, der von einer langen Unterredung mit der Halbheit zurückkehrte…

Sie sah Wadie Abdhiamal, der im Kontrollraum der Ranger zurückgelehnt in seinem Sessel saß. Ein Verhandlungsführer… Ich regle Streitigkeiten, arbeite Handelsverträge aus… Abdhiamal betrachtete sie mit leicht verwirrter Miene. Sie schüttelte den Kopf.

Hör auf damit. Hör auf, einen Narren aus dir zu machen! „Ich… ich habe fast vergessen: Wir haben auch einen Hohen Rat, eine Art Parlament, das sich aus den Ältesten der einzelnen Halbheiten zusammensetzt, die gewählt werden. Er regelt unseren spärlichen interplanetaren Handel und kümmert sich um Notfälle. Von ihm ging auch der Vorschlag zu unserer Reise nach Himmel aus. Aber er hat nicht viel mit unserem täglichen Leben zu tun…“

„Dann seid ihr in gewisser Weise wie wir“, sagte Abdhiamal, „ohne starke, zentralisierte Regierung, Liebe zu Freiheit und Unabhängigkeit…“

„Nein!“ Sie schüttelte den Kopf, eine Geste, mit der sie mehr als nur die Worte verneinte. „Wir sind wie eine Familie. Wir erledigen unsere Probleme durch Zusammenarbeit, nicht durch Rivalität wie im Demarchy. Euer System ist paradox: Das Individuum hat absolute und doch auch wieder überhaupt keine Kontrolle, wenn es nicht der Mehrheit angehört. Wir arbeiten zusammen und schließen Kompromisse, denn ohne sie könnten wir nicht überleben… Und wenn man die Situation betrachtet, in der das Demarchy sich gerade befindet, dann würde ich sagen, es kann es sich auch nicht mehr lange leisten, die Eigeninteressen des einzelnen über alles andere zu stellen.“

Abdhiamal blinzelte, als hätten ihre Worte ihn wie ein Schlag getroffen. Doch er zuckte lediglich die Achseln. „Unnötig zu sagen, daß wir selbst uns nicht in diesem Licht sehen. Ich glaube, Ihre Vorstellung von Kooperation findet in der Großen Harmonie der Ringe eine bessere Verwirklichung.“ Die Worte waren frei von Sarkasmus. „Auch dort setzt man die Zusammenarbeit weit über alles andere, weil man darauf angewiesen ist. Die Ringe waren nicht so glücklich wie das Demarchy, nachdem der Krieg vorbei war. Aber man hat einen sozialistischen Staat und eine starke Flotte. Die Zusammenarbeit beruht allerdings auf Waffen, und das ist überhaupt keine Zusammenarbeit. Daher sind sie geächtet, wenigstens was das Demarchy anbelangt. Sie haben kein Vertrauen in die individuelle menschliche Natur, auch dann nicht, wenn sie auf Verwandschaftsbeziehungen basiert.“

Bertha kämpfte gegen eine plötzliche irrationale Abneigung an. „Bisher hat es gut genug funktioniert. Wenigstens töten wir keine Fremden, die zu uns kommen, um Hilfe zu erbitten.“

„Vielleicht hatten Sie dazu bisher noch keinen zwingenden Grund, Kapitän!“

Sie erstarrte. Augenblicklich zeigte sich Entschuldigung in seinem Gesicht, und dahinter sah sie eine Reflexion ihrer eigenen Desorientierung, der Frustration einer Fremden, die in einem fremden Universum gefangen war. Er war ein Mann ohne Familie — und jetzt auch ohne Freunde, ohne Heimat, ohne Zukunft. Und sie vermutete, er war kein Mann, der es gewohnt war, Fehler zu machen — eine Bürde gemeinsam zu tragen oder ein Leben mit jemandem zu teilen… nicht Eric.

„Tut mir leid, Kapitän. Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung.“ Abdhiamal zögerte. „Und… bitte lassen Sie mich auch gleich eine Entschuldigung für meine Taktlosigkeit nach der Generalversammlung aussprechen.“

„Ich verstehe.“ Sie sah Zorn hinter seinen Augen aufflammen, stand auf und sah daher nicht mehr, wie dieser Zorn sich in eine Art Flehen verwandelte. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen…“ Sie entfernte sich auf der Suche nach einem Entkommen, einer Ausflucht. „Ich muß nach Clewell sehen.“

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mitkäme?“ Seine Stimme überraschte sie.

Auf halbem Weg blieb sie zögernd stehen. „Nein, ich… nein, warum auch?“

Er erhob sich und stellte Rusty auf den Boden. Die Katze sprang weg, schnurrte, trippelte dann hinüber zu Shadow Jack, der immer noch mit in den Kissen vergrabenem Gesicht schlief, kuschelte sich neben dessen schwarzes Haar und legte ihm eine beschützende Pfote über seine Finger.

„Arme Rusty.“ Bertha sah hinab. „Sie ist so einsam seit damals… Sie hatte sich schon an so viel Aufmerksamkeit gewöhnt gehabt.“

„Auf Mekka hätte sie mehr als genug gehabt.“

„Dort hätte man sie verehrt. Das ist nicht dasselbe.“

Sie kletterte die Leiter ein Stockwerk tiefer, wo sie auf ihn wartete. Er tat jeden Schritt bewußt und sorgfältig, seine Knie gaben fast nach, seine Hände umklammerten die Sprossen fast mit Todesangst. Mit einstudierter Nonchalance blieb er schließlich neben ihr stehen und spähte über das Holzgeländer hinab. Der Schacht ging noch vier Decks tiefer, bis zur Hülle des Schiffes. Unten konnte man die konzentrischen Kreise einer Ladeschleuse erkennen.

„Eine gute Übung.“ Bertha lehnte sich gegen die Wand; sie vermied den Blick nach unten.

Er wandte sich mit undeutbarem Lächeln wieder ab. Die Tür an der Wand hinter ihm war verschlossen, das rote Blinklicht warf ihre Schatten in den Korridor. „Was ist dahinter?“ Seine Hand fuhr über die Türoberfläche.

„Das war der Aufenthaltsraum. Dort sind alle gestorben, als die Außenhülle beschädigt wurde. Der Raum ist evakuiert, bitte berühren Sie nichts.“ Sie wandte sich von ihm ab und betrachtete ihre Hände. Dann ging sie weiter die Stufen hinab und ließ ihn zurück.

Im Maschinenraum auf Deck vier angekommen, hörte sie das Geräusch einer Handsäge. „Pappy!“ Ihr Ruf erzeugte in dem weiten Raum einen Widerhall.

„Hier, Bertha!“

Sie lauschte den antwortenden Echos, dann begann sie zu laufen. Ihre Gummisohlen quietschten leise auf dem Holz. Das irreguläre Klacken von Abdhiamals polierten Stiefeln gesellte sich dazu. Sie sah ihn nicht an.

„Mein Gott, Pappy, warum nimmst du denn die Schneider dazu?“

Als sie näherkamen, sah Clewell auf, weg von den Lasern auf der Werkbank. „Weil es mein Hobby ist.“

„Bedeutet das, du stehst stundenlang hier und rackerst dich mit etwas ab, das du ebensogut einprogrammieren und innerhalb von Minuten erledigen könntest?“

„Die Ungeduld der Jugend.“ Er bewegte die Säge noch einmal, und das Ende des Holzblocks fiel ab. „Fertig.“ Seine Hand glitt zu seiner Brust. Als er ihren Blick bemerkte, glitt er weiter und kratzte sich im Nacken.

„Klugschwätzer.“ Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, ihr Blick war schmerzerfüllt. „Ich… äh… ich dachte, du würdest meine Schätzungen für die Reparatur der Außenhülle überprüfen.“

„Das habe ich getan. Sehen ganz gut aus. Aber solange wir noch auf einem Grav sind, können wir überhaupt nichts tun.“ Er sah sie seltsam an.

Abdhiamal bückte sich und hob das abgesägte Teil auf. Seine Finger glitten über die rauhe Oberfläche. „Was ist das für eine Substanz? Sie ist faserig.“

„Das ist Holz. Organisch. Macht man aus Baumstämmen“, antwortete Clewell. „Falsch-Eiche, um genau zu sein. Hart, aber es läßt sich ausgezeichnet bearbeiten.“

„Der Boden auch? Alles Pflanzenfasern… Holz?“

Er nickte. „Das ist einfacher, als Plastik zu verwenden. Diese Falsch-Eiche wächst zwei Zentimeter täglich an der Borealischen See.“

Abdhiamals Hand fuhr über die geätzte Metalloberfläche, dann sah er zu den Schneidern und den Schutzschirmen. „Laser?“ Er suchte den Raum weiter ab, sah die weiten Luken, die in die Hülle geschnitten worden waren und die sich direkt zum Weltall öffneten… dann die in die Decke eingelassenen Elektromagneten. Sie sah, wie er seine eigenen, unausgesprochenen Fragen beantwortete. „Und wozu benötigt man das da drüben?“

Bertha folgte seiner Hand; in Gedanken sah sie den rothaarigen Sean arbeiten, ungeschickt und unbeholfen, daneben den immer geduldigen Nikolai. Sie wandte den Blick ab. „Um Reparaturen an unserer elektronischen Mikroausrüstung auszuführen.“

„Sie haben Ihr eigenes Fusionskraftwerk… Sie könnten jedes Teil des Schiffes direkt hier reproduzieren, nicht wahr?“

„Theoretisch schon. Aber es gibt ein paar, mit denen ich das lieber nicht versuchen würde. Es war eine lange Reise, und wir waren auf alles vorbereitet.“ Nur auf das nicht.

„Großer Gott! Wenn doch nur Park und Osuna das hier sehen könnten!“

„Wer?“ Clewell hob das Holz aus seiner Halterung.

„Das sind ‚Ingenieure’.“ Spott machte daraus ein Schimpfwort.

„Und was haben Sie gegen Ingenieure?“ Bertha preßte die Arme fest gegen ihren Magen und zog die Brauen hoch.

„Was sollte ich für sie übrig haben?“ Abdhiamal machte eine seltsame Geste. „Ein Haufen von Kannibalen. Sie flicken und flicken. Sie vernichten ein Teil, um mit seinen Trümmern wieder ein neues zusammenzubauen oder um drei andere funktionsfähig zu halten, und dann vernichten sie wieder eines…“

„Klingt in meinen Ohren ganz vernünftig.“

„Aber sie sind stolz darauf! Sie halten es für Schöpfung, aber in Wirklichkeit ist es Zerstörung. Wenn sie nur ein wenig lesen würden, ein wenig Phantasie hätten, dann wüßten sie vielleicht, was richtige, kreative Schöpfung ist. Etwas, was wir einst konnten… niemand konnte ihnen damals einen Vorwurf machen. Aber jetzt ist es fast so, als würde man um ein Leben im Vakuum bitten.“

„Vielleicht haben Sie auch nur die Prioritäten falsch gesetzt, Abdhiamal! Was sollen sie tun? Sich selbst wegen der Vergangenheit quälen, wo sie doch nur noch ein paar Relikte haben, mit denen sie arbeiten können? Sie tun wenigstens etwas für das Überleben ihres Volkes und leben nicht auf anderer Leute Kosten wie manch anderer verdammter Geck!“ Bertha schlug ihm das Stück Holz aus der Hand, Splitter rissen die Haut ihrer Handfläche auf. Sie kehrte seiner Verblüffung den Rücken zu und schritt dann mit ausholenden Schritten durch die Echos ihrer Wut zum Ausgang.


Clewell grinste angesichts von Abdhiamals erstauntem Gesicht. „Abdhiamal, das haben Sie eben alles einem Ingenieur erzählt.“

Abdhiamal winselte. „Ich hätte niemals aufstehen sollen… vor zwei Megasekunden.“ Er ließ seinen Blick durch den verlassenen Raum schweifen. „Ich sage immer nur das Falsche zu… Ihrer Frau. Ich hielt sie für eine Pilotin.“

Clewell lauschte Berthas leiser werdenden Schritten nach. Er fragte sich, was für eine neue Bürde sie von Mekka mitgebracht hatte — die in ihren Augen und in jeder ihrer Taten Ausdruck fand und die sie nicht einmal mit ihm teilen konnte. „Sie war Ingenieur auf Morningside, bevor sie zum Kapitän der Ranger berufen wurde. Sie hat einen Teil dieses Schiffes konstruiert, und sie hat auch an der Antriebseinheit mitgearbeitet.“ Wieder sah er Überraschung in Abdhiamals Augen. „Es ist das erste Raumschiff seit dem Tief, zu dessen Bau wir die nötigen Rohstoffe hatten.“

„Tief?“

„Not… Naturkatastrophen.“ Erinnerungen an vergangene Leiden stiegen fast zwanghaft in ihm auf, verstärkt durch den neuen Verlust. Er legte das Holz beiseite und lehnte sich gegen den Tisch. Schwäche überfiel ihn. Einen Augenblick lang stellte er sich seinen Körper morbide ebenfalls als altes Holz vor, wetterzerfressen und verfallend. Er seufzte. „Auf Morningside können kleine Unstimmigkeiten der Sonnenaktivität oder Instabilitäten des Orbits katastrophale Folgen haben. Als ich noch ein Junge war — im letzten Viertel meines zehnten Jahres —, da brach bei uns eine ,Heiße Phase’ an…“ Er sah, wie die Eisfläche zurückwich, Berge zermalmte und sich in die Borealische See ergoß. Die See selbst war um einen halben Meter gestiegen und hatte lebenswichtige Industrien an der Küste überflutet, aufgrund zu heftiger Regenfälle war das Getreide in den Speichern verfault. Er hatte mit ansehen müssen, wie sein Vater einen Wurf kleiner Kätzchen tötete, da sie sie nicht hatten füttern können.

Er hatte geweint, obwohl sein eigener Magen vor Hunger geschmerzt hatte. Immer noch, nach all den Jahren… „Es dauerte Jahre, bis das Klima sich wieder stabilisiert hatte, und fast mein ganzes Leben, bevor unser aller Leben wieder in ,normalen’ Bahnen verlief. Gerade jetzt sind wir wieder in einem Hoch, und Uhuru ist stabilisiert — das sind unsere nächsten Nachbarn, eigentlich war dieser Flug zu ihrer Unterstützung gedacht gewesen. Aber wir sind das Risiko eingegangen, mit der Ranger ins Himmel-System zu kommen.“ Er fühlte den beißenden Wind über dem Schnee des Gletschers der Nachtseite, wo Sterne kalt wie Eis am Himmel funkelten. „Darum können wir es uns nicht leisten hierzubleiben. Auch wenn wir mit leeren Händen nach Morningside zurückkehren — sie haben wenigstens das Schiff.“

Abdhiamal nickte. „Ich verstehe. Ich sagte ihrer… Frau, Kapitän Torgussen, bereits, ich bin gerne bereit, alles in meiner Macht Stehende zu tun, damit Sie wieder nach Morningside zurückkehren können — zum Besten von Himmel. So wie es aussieht, würde Ihre dauernde Anwesenheit hier Himmel nur noch mehr entzweien, anstatt zu vereinen…“ Einen Augenblick wurde Clewell an jemanden erinnert, doch das Bild verschwand wieder.

Überrascht dachte er über Abdhiamals Worte nach — und war noch überraschter, daß er ihm glaubte. Haben wir einen ehrlichen Mann gefunden?

„Gemeinsam wollen wir weiter wandern,

Unser Lied niemals enden kann…“

„Was ist das?“ fragte Abdhiamal.

„Bird Alyn.“ Clewell hörte leise Musik vom hydroponischen Labor herauftönen. „Bertha hat ihr ein paar Akkorde auf der Gitarre beigebracht und ich ein paar Lieder, während wir… warteten.“ Er hörte, wie Bird Alyn einen falschen Ton anschlug. Er lächelte. „Es kommt nicht darauf an, was man singt oder wie, sondern was man dabei fühlt.“

Abdhiamal lächelte freundlich. Sein Blick berührte die zerschrammte Tischoberfläche, den Boden, suchte den Raum erneut ab. Sein Lächeln gefror. „Wissen Sie, manchmal habe ich das seltsame Gefühl, in einem Traum zu leben und vergessen zu haben, wie ich mich selbst wieder wecken kann.“ Ein verzweifelter Unterton schwang plötzlich in seiner Stimme mit.

„Bird Alyn sagte dasselbe zu mir. Sie meinte es wahrscheinlich ernst.“

„Wenn man bedenkt, daß sie vom Hauptgürtel kommt, trifft es wahrscheinlich zu… Vielleicht gilt das auch für mich.“ Abdhiamal räusperte sich, ein seltsam verlegener Laut. „Welkin, ich würde Ihnen gerne eine persönliche Frage stellen. Wenn Sie gestatten.“

Clewell lachte. „In meinem Alter hat man nicht mehr viel zu verbergen. Sprechen Sie.“

Abdhiamal zögerte. „Finden Sie es nicht… hart, Befehle von Ihrer Frau entgegennehmen zu müssen?“

Clewell ging vom Tisch weg. „Warum sollte mir das etwas ausmachen?“

Abdhiamal betrachtete ihn auf seltsame Art. „Ehrlich gesagt, habe ich noch nie eine Frau getroffen, die ich an meiner Stelle Entscheidungen hätte treffen lassen wollen.“

Clewell erinnerte sich, was er auf den Monitoren vom Gesellschaftssystem des Demarchy mitbekommen hatte, und verstand plötzlich, wo Abdhiamals Problem lag. „Bertha Torgussen wurde zur Kommandantin der Ranger berufen, weil sie am qualifiziertesten war und am schnellsten Entscheidungen treffen konnte. Wir waren alle damit einverstanden.“ Er war unschlüssig, ob er sich ärgern oder amüsieren sollte. „Und nun beantworten Sie mir eine persönliche Frage: Wie denken Sie über meine Frau?“ Er sah eine instinktive Reaktion aufwallen, die jedoch, bevor sie die Lippen erreichte, wieder erlosch. Ein ehrlicher Mann…

„Ich weiß es nicht.“ Abdhiamal runzelte die Stirn über sich selbst. „Aber ich muß gestehen, seit ich sie kenne, hat sie die besseren Entscheidungen als ich getroffen.“ Er lachte kurz und sah weg. „Doch dann entschied sie sich für das All, anstatt…“ Sein Blick konzentrierte sich wieder auf Clewell, Frustration und Verwirrung spiegelten sich darin.

„Warum schickt das Demarchy keine Frauen ins All? Mein Eindruck vom Leben im Gürtel war der, daß jeder ziemlich davon begeistert ist. Männer und Frauen.“

„Vielleicht vor dem Krieg. Aber jetzt müssen wir unsere Frauen beschützen.“

„Wovor? Vor dem Leben?“ Clewell hob das Stück Holz auf und ließ es von einer Hand in die andere fallen. Mittlerweile überwog sein Zorn.

„Vor der Strahlung!“ Zum ersten Mal hörte er Abdhiamal mit vor Zorn gehobener Stimme sprechen. „Vor genetischen Schäden. Die Kernreaktoren unserer Schiffe sind einfach zu wenig abgeschirmt. Ungeachtet all unserer Bemühungen ist die Rate der Kinder, die mit Mißbildungen zur Welt kommen, etwa zwanzigmal höher als vor dem Krieg.“

Clewell dachte an Bird Alyn. „Und was ist mit den Männern?“

„Wir können Sperma konservieren. Ovum nicht.“

„Ihr habt durch diesen Krieg mehr verloren, als euch bewußt ist.“ Abdhiamal hörte ihm stumm und ausdruckslos zu. Clewell löste das lederne Kraftband, das ihm einer seiner Söhne als Abschiedsgeschenk gegeben hatte. „Erinnern Sie sich noch an dieses Zeichen?“ Während Abdhiamal den Reif nahm, deutete Clewell auf ein kreisförmiges, kupfernes Symbol.

„Yin und Yang?“

Er nickte. „Wissen Sie, wofür das steht?“

„Nein.“

„Es steht für Mann und Frau. Auf Morningside heißt das: zwei gleichwertige Hälften, die sich vollkommen zu einem biologischen Ganzen vereinen. Ein wenig Weiß im Schwarz, ein wenig Schwarz im Weiß… um uns daran zu erinnern, daß weibliche Gene an allen männlichen, und männliche Gene an allen weiblichen Schöpfungen beteiligt sind. Die Menschen bestehen nicht aus Männern und Tieren, Abdhiamal, sondern aus Männern und Frauen. Unsere Gene ergänzen einander, wir sind alle Menschen. Wenn Sie genauer darüber nachdenken, wird Ihnen das auch aufgehen.“

„Seltsam…“ Nun lächelte Abdhiamal wieder liebenswürdig. „Irgendwie hätte ich nie daran gedacht, daß Yin und Yang Teil von Morningsides kulturellem Erbe sein könnten.“

„Ihr Volk und meines, wir alle stammen von derselben Alten Welt ab. Zu Beginn bedeuteten Yin und Yang uns nicht viel. Damals hatten wir eine Menge Symbole, die uns trennten. Heute brauchen wir nur noch dieses eine.“

Yin und Yang und die Wikingerkönigin…“ murmelte Abdhiamal. Sein Lächeln wurde reuevoll. „Und Wadie im Wunderland. Warum gab es mehr Männer als Frauen in Ihrer… Familie?“

Weil es so einfach besser funktionierte. Fast wäre Clewell mit der Wahrheit herausgerückt. Doch er überlegte es sich. „Mein Sohn, wenn Sie mich fragen, weshalb eine Ehe mehr Männer als Frauen benötigt, dann sind Sie noch jünger, als ich Sie eingeschätzt hatte.“ Er grinste. „Und es ist nicht etwa deshalb, weil ich langsamer werde.“

Abdhiamal wich zurück, Unglaube zerstörte seine ausdruckslose Maske. Er hielt ihm das Armband wieder hin.

Clewell schüttelte den Kopf. „Behalten Sie es. Tragen Sie es. Denken Sie darüber nach, wenn Sie sich fragen, warum wir Fremde für Sie sind.“

Bertha betrat wieder den Kontrollraum. Shadow Jack und Rusty lagen immer noch Kopf an Kopf auf dem grasgrünen Teppich. Sie ging lautlos an ihnen vorbei, setzte sich an die Kontrollkonsole und fokussierte Diskus ins Bild, ein winziges, silbernes Pünktchen von der Größe eines Daumennagels. Das allein zählte jetzt, sonst nichts. Sie würde dieses Schiff nach Hause bringen, dieses Mal würden sie Erfolg haben. Niemand durfte sich ihren Zielen entgegenstellen, kein Mann, tot oder lebend, keine Erinnerung…

Ihre verletzte Hand brannte. Sie preßte sie gegen die kalte Konsole, wo sie eine Blutspur hinterließ. Ihr Verstand wanderte über dreieinhalb Lichtjahre und eine halbe Lebensspanne zurück zu einem Fabrikhof an der Nachtgrenze, wo sie ihre Hand an heißem Metall verbrannt hatte, als sie dabei zusah, wie ein Traum Wirklichkeit wurde. Sie war nach draußen gegangen, um zu sehen, wie ihre ersten Entwürfe zu Gegenständen geworden waren, die auf dem Förderband vorbeiglitten, silbern schimmernd im blendenden Licht der ewigen Nachmittagssonne und unglaublich schön. Sie war im dritten Viertel ihres zwanzigsten Jahres, gerade zurück vom Eisterminator. Der goldene Hitzeregen, die erhitzte Luft, die über die Ebenen strich, die Grenze zur vollkommenen Einsamkeit direkt vor der Tür, und dann war da noch ein ganz bestimmter Student… Sie wartete, bis er neben ihr stand, um ihr zu sagen, wie schön ihre Entwürfe waren. Und dann, — rauhe Handschuhe umklammerten ihre bloßen Arme — fragte er sie: „He, Schneevögelchen, willst du etwa erblinden?“ Sie sah Eric van Helsings sonnengebräuntes Gesicht, das ihr durch die Schutzscheibe des Helmes zulachte, während sie sich an den Aufschlägen seiner groben Jacke festhielt. „Sie sagen immer, Ingenieure seien zu empfindlich, um es lange in der Sonne aushalten zu können. Du gehst besser wieder hinein.“

„Für einen Soziologen hast du verdammt wenig über Motivation gelernt, Eric van Helsing.“ Zornig, weil er alles ruiniert hatte — und weil sie wie eine Närrin auf ihn gewartet hatte —, riß sie sich los und rannte fast über den endlosen Schotterhof, um von der Hitze in die kühle Zuflucht im Innern des nächstgelegenen Gebäudes entkommen zu können. Dort blieb sie still stehen, kämpfte ihre aufsteigenden Tränen nieder und hörte, wie er hinter ihr durch die Tür kam.

Du bist der Regen, meiner Liebe süßes Wasser,

Das durch die Wüsten meines Lebens fließt…

Jemand betrat den Raum, Bertha nahm den Geruch von Äpfeln wahr. Sie hielt Ausschau nach Claires glattem, rundem Mondgesicht… und sah Bird Alyn, dürr, braun und ungeschickt in der hohen Schwerkraft, eine Dryade in einem rosafarbenen Pullover und Blue Jeans, Blumen im Haar… Bird Alyn, die sich gegenwärtig um die Hydroponik kümmerte, nicht Claire.

Shadow Jack räkelte sich, als Bird Alyn sich neben ihm auf den Teppich sinken ließ, ihre Pfirsichwangen schimmerten rosenrot. Bertha wandte sich wieder dem Schirm zu, sie verbarg ihr Lächeln.

„…möchtest du ein paar Äpfel?“

„Oh, danke, Bird Alyn.“ Er lachte selbstbewußt. „Du denkst immer an mich.“

Sie murmelte fragend etwas.

„Was ist los mit dir? Nein! Wie oft muß ich dir das noch sagen? Geh raus hier, laß mich allein!“

Schmerz zog Berthas Magen zusammen. Sie hörte, wie Bird Alyn sich aufraffte und weglief. Auf der Türschwelle stolperte sie. Bertha drehte den Sitz und starrte Shadow Jack an, der ihren Blick erwiderte, während er sich aufrichtete.

„Vielleicht geht es mich nichts an, Shadow Jack, aber was, zum Teufel, ist mit dir los?“

„Nichts ist mit mir los! Glaubst du denn, jeder müßte so wie ihr sein? Das stimmt nicht, ihr seid ein verdammter, perverser Haufen!“ Seine Stimme bebte. „Ihr macht mich krank.“ Er stürmte aus dem Raum. Bertha konnte hören, wie er mit raschen Schritten die Treppe hinabeilte.

Bertha blieb still sitzen und umklammerte mit den Händen die Lehne des Sessels. Sie fragte sich, woher sie die Kraft zum Aufstehen nehmen sollte… Rusty schmiegte sich schnurrend an ihre Beine. Mit steifen Bewegungen griff sie hinab und hob die Katze in ihren Schoß und hoffte auf den Augenblick, an dem Himmel nur noch ein verlorener Stern am unermeßlichen Firmament sein würde. „Rusty, du bist die einzige, auf die ich im Augenblick noch zähle. Was wäre ich ohne dich?“ Rustys winzige, rauhe Zunge küßte zweimal kurz ihre Handflächen, eine versöhnliche Geste. „O Rusty“, flüsterte sie, „du stempelst uns alle zu verachtenswürdigen Toren.“ Langsam erhob Bertha sich und betrachtete den verlassenen Raum.


Schatten huschten geräuschlos über die Fliesen, die feucht und grün waren wie das Wasser des Traummeeres. Bird Alyn schluchzte lautlos auf den hexagonalen Platten, von den herabhängenden Fingern eines Farns liebkost. „… nicht fair, das ist einfach nicht fair…“ Ihre Liebe war eine einzige Folter, da sie sich nur von Träumen nähren konnte. Er berührte sie niemals, strich ihr niemals über das Haar… liebte sie niemals, und doch konnte sie auch nicht aufhören, nach seiner Liebe zu dürsten.

Sie hörte, wie er das Labor betrat, und das Schluchzen blieb ihr in der Kehle stecken. Sie richtete sich mit geschlossenen Augen auf, salzige Tränen tropften ihr vom Kinn herab.

„Nicht weinen, Bird Alyn. Das vergeudet Wasser.“ Shadow Jack stand vor ihr, die Hände in die Seite gestemmt, und betrachtete ihr tränenverschmiertes Gesicht.

Sie öffnete die Augen und sah ihn durch tränenbenetzte Wimpern an, fühlte noch mehr Tränen in sich aufwallen. „Wir haben… genügend Wasser, Shadow Jack.“ Elend und Schmerz schnürte ihr fast den Atem ab. „Wir sind nicht auf Lansing. Hier ist alles anders.“

Seine Augen verneinten dies. Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

Sie wandte sich von ihm ab. „Aber ich bin nicht… ich weiß, ich bin gewiß nicht… Warum mußte mir das passieren? Warum bin ich so häßlich, wo ich dich doch so liebe?“

Er ließ sich neben sie auf die Bank fallen und zog ihre Hände, eine verkrüppelt und eine perfekt, weg von ihrem Gesicht. „Bird Alyn, das bist du nicht! Du bist nicht… du bist wunderschön.“ Sie sah ihr Spiegelbild in seinen Augen, das ihr verriet, daß er die Wahrheit sprach. „Aber… du kannst mich nicht lieben.“

„Ich kann nichts dafür… wie soll ich es denn ändern?“ Sie fuhr ihm mit ihren nassen Fingern über das Gesicht. „Ich liebe dich.“

Er umklammerte sie rauh, schloß seinen Griff hinter ihrem Rücken und zog sie fest an sich. Sie strampelte überrascht, doch sein Mund beendete ihr Weinen und dann auch ihre hilflosen Bewegungen. „… liebe dich, Bird Alyn… für immer und ewig… weißt du das denn nicht?“

Ihre ausgebreiteten Arme umklammerten seine Schultern, zogen ihn tiefer in ihren Traum, Freude erfüllte sie wie ein Lied…

Laß mich erblühend zu dir eilen,

Laß meinen Durst mich bei dir stillen…

„Nein…“ Plötzlich wich er zurück und ließ sie los. Er lehnte sich gegen die kalten Fließen und rang nach Luft. „Nein. Nein. Wir können nicht…“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Aber… du liebst mich doch…“ Bird Alyn griff verwirrt und ratlos nach ihm. „Warum können wir nicht, Shadow Jack? Bitte… bitte, Shadow Jack. Ich habe keine Angst davor…“

„Was verlangst du von mir? Soll ich dich schwanger machen?“

Sie krampfte sich zusammen, schüttelte den Kopf. „Das muß nicht passieren.“

„Doch, und du weißt es genau.“ Er beugte sich nach vorn. „Möchtest du das Baby in dir wachsen fühlen und dann zusehen, wie es geboren wird… ohne Arme, ohne Beine oder ohne… Damit wir es verstoßen wie meine Mutter mich? Wir sind defekt! Und ich werde niemals zulassen, daß dir so etwas widerfährt!“

„Aber soweit wird es nicht kommen, Shadow Jack! Hier auf dem Schiff ist alles anders. Sie haben eine Pille, mit der man gar nicht schwanger werden kann. Sie würden uns…“ Sie kam näher und strich durch sein mitternachtsschwarzes Haar. „Eine einzige solche Pille hält sehr lange vor.“

„Und wenn sie wieder abgeflogen sind?“

„Wir… wir hätten dann immer noch unsere Erinnerungen. Wir wüßten es, wir könnten uns erinnern, wie es ist, einander zu berühren, zu küssen, einander zu h-halten…“

„Und was würde mich daran hindern, dich wieder zu berühren und zu küssen und dich zu halten, auch wenn ich es besser wissen sollte?“ Verzweiflung lag in seinem Blick. „Ich könnte es nicht. Wenn ich dich nie wiedersehen würde… aber das werde ich. Ich werde dich jeden Tag sehen, mein ganzes Leben lang, und wie könnte ich mich dann zusammennehmen? Wie du? Es würde geschehen.“

Sie schüttelte flehend den Kopf, ihr Gesicht glühte, Tränen der Hoffnungslosigkeit brannten in ihren Augen.

„Ich kann es nicht zulassen, Bird Alyn. Nicht jetzt. Niemals. Ich könnte es nicht ertragen, was es mir antun würde… was es dir antun würde. Warum haben wir nur jemals dieses Schiff gesehen? Warum geschah das uns? Es war alles in Ordnung, bis…“

Sie griff sanft nach seiner Hand, umklammerte sie, braune Haut auf bronzefarbener Haut. Wegen dieses Schiffes würde ihre Welt leben… und seinetwegen würde nichts mehr in Ordnung sein, was ihr eigenes, persönliches Leben anbelangte. Irgendwo hörte sie Wasser tropfen, wie Tränen. Eine verdorrte Blüte fiel auf die kalten Kacheln zwischen ihnen.

Bertha verließ das Labor so lautlos wie sie gekommen war und ging schweigend die Treppe hoch.

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