Ranger (Im Transit, Lansing zum Demarchy) + 290 Kilosekunden

Bird Alyn bewegte sich langsam durch das grüne Licht der hydroponischen Labors der Ranger. Ihr zarter Körper schmerzte unter der Anstrengung, sich unter einer Schwerkraft von 1 g aufrecht zu halten. Sie summte leise vor sich hin, ihr Unbehagen war verflogen, in die Vergangenheit gezogen von der konstanten, kühlen Feuchtigkeit, dem Geschmack nach Äpfeln und dem Summen der Insekten. Gesprenkelte Schatten huschten über die Fliesen, vermischten sich mit dem Blätterdach und brachen sich daran; funkelnde Lichtgarben umspielten die viskosen Flüssigkeiten in den großen, verdeckten Behältern.

Die Umgebung war seltsam fremdartig, wie alles in diesem überquellenden fremden Märchenland des Sternenschiffes. Doch ein Farn oder ein Baum blieben immer dasselbe, ganz egal wie die Gravitation — oder ihr Fehlen — sie formte. Es waren lebende Dinge, die sie benötigten — die ihre Aufmerksamkeit und ihre Liebe vergalten mit einer Blüte, einem Blatt oder einer Frucht, um ihrem Volk Leben zu geben. Die einzigen lebenden Dinge, die willig all die Liebe absorbierten, die sie ihnen geben konnte, die sich niemals von ihr abwandten, weil sie ein häßlicher, unbeholfener Krüppel war…

Bird Alyn nahm den Meßstab aus einem Gefäß heraus, studierte die Marke und schüttelte ihn wieder hinunter. Sie seufzte und glitt an der Front des Behälters hinab, um sich auf den Boden zu setzen, wo sie ihre geschwollenen Füße massierte. Sie prickelten mit dem charakteristischen Kribbeln eines schwachen Kreislaufs. Sie lehnte sich zurück und sah empor durch das dichte Grün, stellte sich vor, sie würde dahinter statt der Streifen fluoreszierenden Lichts die milchige Durchsichtigkeit der Hülle Lansings und Shadow Jack sehen, der als Polierer arbeitete.

Sie hatte die Kilosekunden gezählt, jede Sekunde einzeln, den ganzen Lansingtag hindurch, bis Shadow Jack herunterkam und für die kurze Zeit der einen Mahlzeit des Tages bei ihr blieb. Still, gefühlvoll, erfüllt von sinnlosem Ärger — er war trotzdem die einzige Person in ihrer Welt, die auf sie einging, die täglich ihre schattige Welt lange genug verließ, um ihr Freundlichkeit zu zeigen. Manchmal fragte sie sich, ob er aus Kummer freundlich war, doch kümmerte sie sich nie darum. Sie war einfach dankbar, denn sie liebte ihn und wußte, daß Liebe keinen Stolz kennt.

Von Kindesbeinen an hatte sie gewußt, daß sie in den Oberflächengärten arbeiten würde; ihr ganzes Leben hindurch hatte sie gesehen, warum — sie war anders, deformiert. Ihre Eltern hatten sie ausgebildet, einen Computer zu bedienen, da sie akzeptiert hatten, daß sie eine Arbeit tun mußte, bei der der Strahlungspegel hoch war; sie hatten sie für die Arbeit auf einem Schiff ausgebildet, damit sie das Beste zum Überleben ihrer Welt beisteuern konnte. Aber darüber hinaus hatten sie sich vor ihr zurückgezogen, wie Leute sich vor einem Fehler zurückziehen, der ihr Leben ruiniert hatte, wie sie sich zurückziehen vor dem Opfer einer todbringenden Krankheit.

Und sie selbst hatte niemals ihre eigene Minderwertigkeit in Trage gestellt, da die materialistische Philosophie sie lehrte, daß jedes Individuum die Verantwortung für seine Unzulänglichkeiten selbst tragen mußte. Fast glücklich war sie zur Arbeit an Lansings Oberfläche gegangen; glücklich, der Welt der normalen Leute zu entkommen; glücklich, sich in der Schönheit der Gärten selbst vergessen zu können, allein sogar unter ihren ebenfalls defekten Kameraden.

Und dann hatte sie Shadow Jack entdeckt, der verwirrt und furchtsam im Gras am Eingang zu den Tunnels saß… Shadow Jack, der herangewachsen war für ein normales Leben der Sicherheit und des Akzeptiertwerdens. Dem man unvermittelt gesagt hatte, er sei nicht normal, und den man verstoßen hatte in eine fremde Welt, beschämt, nutzlos. Sie hatte ihm Trost gespendet, aus Mitleid und eigener Notwendigkeit; seine Notwendigkeiten hatten ihn an sie gebunden und sie zu Freunden gemacht.

Doch als sie älter wurde, hatte sie mehr gewollt als nur seine Freundschaft; obwohl sie wußte, daß es falsch und unmöglich war. An der Oberfläche Lansings wurde die Mehrzahl der Tunnels durchweht von Neurosen oder dringenden Notwendigkeiten, bis jede Person buchstäblich verantwortlich wurde für ihre eigenen Taten und alle Konsequenzen, welche auch immer erfolgten, ertrug. Sie hatte Dinge gesehen, die ihre Eltern entsetzt hätten, und erkannt, daß sie keiner Person Schmerzen zufügten, hatte erkannt, daß dies das einzige Kriterium bildete, ob etwas falsch oder richtig ist. Und es hatte auch Dinge gegeben, die sie erschreckt hatten, wenn sie sie verstand, die sie mit Dankbarkeit für Shadow Jack erfüllten, der jede Nacht neben ihr in dem kühlen Gras oder in den schützenden Räumen der verlassenen Gebäude lag.

Aber Shadow Jack würde sie niemals berühren, sie nicht den Ärger und Vergeblichen Groll lindern lassen, der ihn niemals verließ. Und hilflos in ihrer eigenen Vergeblichkeit, schwieg sie weiterhin, da sie wußte, daß es für eine Deformierte falsch war, einen Ehemann haben zu wollen; unmöglich, daß Shadow Jack jemals einen häßlichen, schwerfälligen Krüppel lieben konnte…

Bird Alyn sah, wie jemand das Insektennetz beiseite schob und das Labor betrat, wie dieser Jemand Blätter und Reben aus dem Weg strich. Sie taumelte auf die Beine und versuchte, aus der Gestalt Shadow Jack zu machen… sie hörte die leise Stimme einer Frau: „Claire?“

Bird Alyn stand auf Zehenspitzen, sie wirkte in ihrer grünen Bluse und ihren Jeans blaß gegen die Blumen. „Was?“ Sie strauchelte und ließ fast den Meßstab fallen. Mit ihrer verkrüppelten Hand preßte sie ihn gegen ihre Seite. „Oh, Bertha.“

Bertha starrte sie ihrerseits an; sie schüttelte den Kopf, gedankenverloren und verwirrt.

Bird Alyn lächelte und senkte den Blick. „Ich… ich dachte, es wäre Shadow Jack. Er sagte, er wolle kommen und mir bei der Arbeit zusehen…“ Ihr Lächeln zerbrach.

„Pappy läßt ihn nicht los. Er führt ihn im Schiff herum.“ Bertha berührte einen Farn und riß einen gelben Wedel ab, riß die tote Vergangenheit los von der Gegenwart. Sie sah wieder auf, Mitgefühl zeigte sich in ihrem müden, bleichen Gesicht. „Bist du sicher, daß du das machen willst, solange wir noch ein Grav haben?“

Bird Alyn nickte. „Schon in Ordnung. Ich setze mich öfter hin und… beobachte einfach, rieche und lausche. Es ist so lange her, seit ich in den Gärten gearbeitet habe. Macht es dir etwas aus?“

„Nein… nein. Du weißt nicht, wie sehr ich es zu schätzen weiß. Es ist schon für sieben Leute eine Menge Arbeit. Und — Clewell ist auch nicht mehr so jung, wie er einmal war.“ Die Augen des Kapitäns wandten sich von ihr ab und durchsuchten die grünen Schatten. „Du hast eine besondere Gabe, Bird Alyn… ich hielt dich fast für eine Dryade, als ich hereinkam.“

„Was… was ist das?“

„Ein verzauberter Waldgeist.“ Bertha lächelte.

„Ich?“ Bird Alyn wand den Meßstab in ihrer Hand und lachte verlegen. „Oh, nicht doch… Diese Pflanzen sorgen selbst für sich, wirklich, es ist einfach… nicht wie auf Lansing… sie sehen so anders aus hier, so üppig und saftig…“

„Die?“ Bertha sah auf.

„Auf Lansing wachsen die Dinge einfach hoch; sie wissen nicht, wann sie aufhören müssen. Es ist schwierig, die Wurzeln müssen bis zum Felsuntergrund vordringen, um Halt zu fassen… und all die Mutationen…“ Bird Alyn verstummte, plötzlich ihrer eigenen Stimme bewußt.

Bertha setzte sich auf eine Holzbank und griff nach dem seltsam geformten Ding, das halb unter einem Weinstock verborgen war. Claires Gitarre. „Claire hat sich um die Hydroponik gekümmert, manchmal spielte sie für die Pflanzen. Das ist ein Musikinstrument“, fügte sie hinzu, als sie Bird Alyns verwirrten Gesichtsausdruck sah. „Abends kamen wir immer hier herunter und sangen. Sie glaubte, die Pflanzen würden sich an der Musik und an der emotionalen Gemeinschaft erfreuen. Natürlich hatte Lara immer gesagt, sie wollten lediglich das Kohlendioxid…und Sean sagte, es sei die heiße Luft.“ Ihr Mund verzog sich schmerzvoll. „Und Eric… Eric sagte, es sei wahrscheinlich von allem ein bißchen…“ Sie hob ihre Hand zum Gesicht; überrascht zählte Bird Alyn vier goldene Ringe, ehe sie sie wieder senkte.

„Wie… äh… wie funktioniert es?“ Sie hatte ein Mädchen gekannt, das sich aus einem Ast eine Pfeife gemacht hatte. „Die Gitarre, meine ich.“ Sie lehnte sich zurück an ein stabiles, hölzernes Regal und stieß sich mit einer raschen Bewegung über dessen Rand hinweg hoch.

„Ich kann dir davon keine gute Vorstellung geben, Claire war ein Künstler; ich beherrsche nur ein paar Akkorde. Aber es geht etwa so…“ Der Kapitän legte die Gitarre über ihren Schoß und ihre Finger auf die Saiten. Zärtlich strich sie darüber.

Bird Alyn erschauerte. „Oh…“

Bertha lächelte; ihre Finger veränderten ihre Stellung auf den Saiten, und das schimmernde Wasser der Töne veränderte sich. Sie begann zu singen — fast unbewußt, dachte Bird Alyn —, mit einer warmen, klaren Stimme, die sich mit der Musik verband.

„Aus Lernen resultiert Verstehen,

Niemand verändert die Welt geschwind,

Du mußt deinen Lebensweg gehen.

Du kannst es nicht ändern, kleines Kind…“

Bird Alyn fühlte, wie ihre Kehle sich zusammenzog, sie sah hinunter auf ihre verkrüppelte Hand und blinzelte.

Sie hörte, wie der Kapitän einen tiefen Atemzug tat, von ihren eigenen Erinnerungen gefesselt. „Tut mir leid.“ Die klare Stimme bebte unmerklich. „Ich hätte etwas ein klein wenig Fröhlicheres finden sollen.“

„Bitte… willst du mir noch etwas vorspielen?“ Bird Alyn sah auf.

Berthas Gesicht hellte sich auf. „Also gut… ich kann nicht viel, nur ein paar alte Volksweisen. Es ist eine seltsame Wirkung, die das Singen auf die Leute hat — das Band, das sich zwischen einem entwickelt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das gibt dir die Kraft weiterzumachen, wenn es schlecht steht. Und es ist so schwer, jemanden zu hassen, wenn man mit ihm singt, so schwer, ärgerlich zu werden…“

„Gemeinsam wollen wir weiter wandern,

Unser Lied niemals enden kann,

Schwester, Bruder,

Vater, Mutter,

Teilen ihr Leben mit den andern,

Freund und Frau und Mann…“

Bird Alyn beugte sich nach vorn, wie eine Blume sich dem Licht zuwendet. „Morningside muß ein wunderschöner Ort sein.“

Bertha gab ein Geräusch von sich, das nicht ganz ein Lachen war. „Nein, es ist… Ja. Ja… in gewisser Weise, auf seine eigene Art.“ Ihre Finger strichen erneut über die Saiten.

„Ich wollte, ich könnte das auch… Kennst du… kennst du auch Liebeslieder?“ Der Kapitän sah scharf auf; Bird Alyn erkannte, daß sie irgendwie etwas Falsches gesagt hatte.

„Ich bringe dir gerne die Gitarrenakkorde bei, die ich kann, Bird Alyn, wenn du das willst. Vielleicht vermissen die Pflanzen die Musik.“

Bird Alyn verschränkte die Arme. „Ich… ich glaube, ich habe nicht genug Finger…“

Das Gesicht des Kapitäns erstarrte in plötzlicher, peinlicher Bestürzung. „Oh. Nun, ich glaube, ich kann die Saiten für dich vertauschen; ich habe schon oft Gitarren gesehen, die linkshändig gespielt wurden. Möchtest du das?“ Sie lächelte wieder.

„Oh, ja.“ Bird Alyn glitt von dem Regal herunter und ließ den Meßstab abwesend in der Luft hängen. Er entglitt ihren gefühllosen Fingern und fiel zu Boden. Instinktiv streckte sie ihren langen, bloßen Fuß aus, um ihn aufzuheben, verlor die Balance und fiel. „Verdammtes Pech!“ Auf dem Boden ausgestreckt, griff sie nach dem Instrument, schüttelte es und las die Skala ab, während ihr eine vertraute Röte heiß ins Gesicht schoß.

Der Kapitän kam zu ihr, ergriff ihre Arme und half ihr behutsam wieder auf die Beine. „Alles in Ordnung?“ Dabei strich sie ihr tröstend über den Arm, wie eine Mutter sie wohl getröstet hätte. „Nicht wahr, es dauert seine Zeit, bis man die Gewohnheiten eines Lebens abgelegt hat?“

Bird Alyn senkte den Blick, von Berthas Besorgnis verwirrt. „Kann man sich denn überhaupt daran gewöhnen? Ich meine, wenn man nicht von Geburt an daran gewöhnt ist…“

„Mit der Zeit. Morningsides Schwerkraft ist geringer als ein Grav, aber auf dem Schiff waren wir mehr als drei Jahre lang einem Grav ausgesetzt, und jetzt spüren wir den Unterschied kaum noch. Ich habe einige der Studien aus der Alten Welt über die Anpassung an ein Grav von geringerer Schwerkraft gelesen. Es ist möglich, aber man braucht über ein Jahr — dreißig oder vierzig Megasekunden —, um sich von null Grav auf eine Dauerbelastung umzustellen. Außerdem bringt es große Belastungen für den Körper mit sich. Aber sie kamen zu dem Schluß, mit einer angemessenen medizinischen Versorgung sei es zu schaffen.“

„Da würde ich aber lieber wieder nach Hause gehen“, sagte Bird Alyn.

„Ich auch.“ Bertha nickte.

Aber das kannst du nicht. Bird Alyn sah hinab zu ihr und errötete erneut. „Ich meine… immer sage ich die falschen Dinge!“

„Nein. Das will jeder von uns, Bird Alyn. Und das machen wir ja schließlich auch.“ Bertha betrachtete ihre funkelnden Ringe, und ihr Gesicht hellte sich auf.

Bird Alyn hörte irgendwo Wasser tröpfeln. Sie dachte dabei an Tränen. Schließlich hörte sie, wie noch jemand das Labor betrat, dieses Mal war es Shadow Jack.

Bertha lächelte, ein privates, erfreutes Lächeln, und folgte ihrem Blick. Dann wandte sie sich wieder der Bank zu und nahm die Gitarre an sich. „Ich werde die Saiten für dich ändern, wenn ich dazu komme. Aber jetzt gehe ich besser an meine Arbeit zurück. Wir sind fast im Hoheitsgebiet des Demarchy, ihr werdet euch nicht mehr lange mit der Schwerkraft plagen müssen.“ Sie ging zum Eingang, wo sie kurz mit Shadow Jack sprach, als sie hinausging. Bird Alyn sah, wie er ihr mit seinem Blick folgte, mit einer Bewunderung, die fast schon an Verehrung grenzte. Bird Alyn fühlte Ärger in sich aufsteigen, doch gewohnheitsmäßig schluckte sie ihn herunter. Ihr Mund verzog sich schmerzlich, als habe sie eine Maske gewechselt.

Rusty wand sich in Shadow Jacks Armen, und als sie sie sah, begann die Katze ungeduldig zu miauen. Shadow Jack ließ die Katze fallen, noch immer halb furchtsam wegen ihrer Fremdartigkeit. Rusty kam herübergetrottet und rieb sich an Bird Alyns nackten Knöcheln. Bird Alyn bückte sich und hob die Katze auf, eine rosa Zunge glitt hocherfreut wie Sandpapier über ihr Kinn. Schnurrend ließ Rusty sich auf ihrer Schulter nieder. Sie dachte an das Gobelinbild, das in dem Zimmer hing, das nun ihres war: ein Portrait Rustys, aus Kreuzstichen, unter dem die Worte standen: EIN HEIM OHNE EINE KATZE MAG VIELLEICHT EIN PERFEKTES HEIM SEIN — ABER WIE KANN ES SEINEM NAMEN GERECHT WERDEN? Bird Alyn stellte sich eine ganze Welt vor, erfüllt von Musik und bevölkert von lebenden Wesen, kein fruchtloser Traum, sondern Realität. Die Art von Welt, die Lansing gewesen sein mußte, in einer Zeit, die sie niemals erlebt hatte; die Art von Welt, die es nie wieder sein konnte.

„Ich dachte, Rusty sucht nach dir“, murmelte Shadow Jack verlegen. „Ich möchte wetten, wenn zehn Tiere an Bord wären — jedes einzelne würde mit dir zusammen sein wollen.“

Zögernd begegnete sie seinem Blick und vergaß alles um sich herum im Zauber seines Lächelns.

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