Ranger (Im Transit, Diskus nach Lansing) + 2,96 Megasekunden

Wadie ging durch den Korridor zu Berthas Privatgemach, sein Schritt wurde vom Sog der geringen Gravitation verlangsamt, hinzu kam die Müdigkeit vom Arbeiten im Weltraum. Und auch die Vielfalt der Gefühle, die in ihm brodelten, ließ ihn zögern. Die Erinnerung an das diskanische Firmament, die schimmernden Staubschleier und die Monde verfolgte ihn: das Wissen um einen kostbaren Sieg, den er fast errungen und dann durch seine eigenen Taten wieder verloren hatte, zwei Leben, die letzten der Mannschaft von Morningside, fast verloren — und mit ihm ein Teil seines Selbst, den er selbst eben erst zu entdecken begann…

Er erreichte die offene Tür, wartete kurz, bis sein Blick sich wieder geklärt hatte, und trat dann ein.

Rustys Kopf tauchte plötzlich zwischen einem Berg von Kissen auf und betrachtete ihn wie einen lang Vertrauten, als er in das Zimmer blickte. Der Kapitän saß an ihrem Schreibtisch und hatte ihm den Rücken zugewandt, ihre ganze Aufmerksamkeit galt einigen verstreuten Meldungen und Ausdrucken. Leere Kaffeetassen standen auf der Tischoberfläche, über ihrem Kopf an der Wand hing ein Schild: VOR ZEHN JAHREN WUSSTE ICH NICHT MAL, WIE MAN „INSCHENJOR“ SCHREIBT, UND HEUTE BIN ICH SELBST EINER. Er lächelte flüchtig, bis er sie seufzen hörte, ein Laut, der in seinen Ohren wie eine schwere Anklage klang. Hinter seinen Augen entstand das Bild ihrer gebrochenen, bandagierten Rippen, eines Blutergusses von Armeslänge.

Er drehte sich abrupt um und verließ den Raum wieder, sah ein Bild an der Wand innerhalb eines grünen Pfeiles mit der Aufschrift ABWÄRTS, sah Bertha Torgussen und Welkin und… Eric, hier mit Bart und lächelnd. Bei ihnen waren noch zwei Frauen, zwei Männer und sieben Kinder, die in dicke Kleider verpackt waren, alle bleich, lachend und in drei Richtungen winkend. Sie hoben sich deutlich vom Schneehintergrund ab. Eine Familie, die gelernt hatte, alles miteinander zu teilen… und irgendwie schien dieses Teilen, zusammen mit dem Fieber der vergeblichen Gier, die im Himmel-System brannte, plötzlich nicht mehr ganz so fremd und so bizarr zu sein…

Rusty regte sich auf dem Bett; sie räkelte sich und miaute fragend.

Bertha wandte sich um und konnte ihre Gesichtszüge eben noch kontrollieren, ihre Augen, rasch und nervös, erfragten den Grund seiner Anwesenheit.

„Bertha… ich würde gerne mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe Ihnen einiges zu sagen.“ Er betrat das Zimmer.

„Schon gut, Abdhiamal.“ Ihre Augen glitten zu seinem Handgelenk, wo er Welkins Reif trug. „Ja, vielleicht sollten Sie das tun.“ Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. „Aber sagen Sie mir zuerst, wie es Clewell geht. Bekommt ihm die Beschleunigung?“

„Ich glaube schon. Er ist sehr schwach, aber er ist kein Narr…“ Und läßt sich nicht zum Narren machen. Plötzlich erfüllte ihn Bewunderung für den alten Mann. „Ich glaube nicht, daß ich das Recht hätte, hier zu sein, wenn ich nicht der Meinung wäre, daß es ihm verhältnismäßig gut geht… Aber was ist mit Ihnen? Was wollen Sie beweisen? Warum, zum Teufel, ruhen Sie sich nicht ein wenig aus…“ Er schwieg, da er nicht wußte, weswegen er eigentlich so zornig war.

Ihre aufgesprungenen Lippen verzogen sich. „Weil ich lieber erschöpft als ganz tot bin. Und ja, ich versuche etwas zu beweisen.“ Sie zeigte zum Computerterminal, wobei ihr Gesicht sich wieder entspannte. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen soll, aber… wir haben eine Wasserstoff- und Heliumspur entdeckt, leicht rotverschoben. Ich halte es für einen Fusionsantrieb, der von uns wegzeigt. Gegenwärtig ist er immer noch dreißig Millionen Kilometer hinter uns zurück — aber wir werden verfolgt.“

„Sie können einen Antrieb auf diese Entfernung entdecken? Ihre Instrumente sind besser als unsere.“ Wieder war er beeindruckt.

„Sind sie das? Gut… Aber mit diesen Wasserstoffkanistern im Schlepptau können wir uns nicht schneller bewegen als unsere Verfolger. Ich will wissen, ob diese Schiffe vom Demarchy oder von Diskus kommen. Und wenn sie vom Demarchy stammen — was haben sie Ihrer Meinung nach für eine Mission? Wollen sie immer noch das Schiff in ihren Besitz bringen, oder sind sie hinter uns her, um uns zu vernichten?“

Er stemmte sich auf den Tisch, wobei ihm sein Muskelkater wieder zu schaffen machte. „Gute Frage. Die Schiffe stammen aus dem Demarchy. Niemand sonst hat so was noch zur Verfügung. Die Ringbewohner haben nur noch gewöhnliche Flüssigtreibstoffraketen.

Unsere Schiffe — die des Demarchy — gehören teilweise den mächtigsten Gesellschaften, aber in Zeiten nationalen Notstands’ unterstehen sie direkt dem Demarchy, was bedeutet, daß MacWongs Geschichte, ich könnte Sie den Ringbewohnern ausliefern, offenbar gut angekommen ist…“ Er schwieg. „Er wußte, es war eine verdammte Lüge, und da ich ihn kenne, würde ich sagen, er will das Schiff immer noch haben. Und das war die einzige Möglichkeit, die sich ihm bot, Ihr Schiff doch noch zu erreichen.“

„Aber er muß doch wissen, daß wir ihm immer noch entkommen können, zumal wir ja jetzt neuen Treibstoff haben, auch wenn wir über Lansing nochmals anhalten. Wenn sie ein Wendemanöver ausführen müssen, um sich an unsere Geschwindigkeit anzugleichen, dann werden wir schon lange bevor sie uns erreichen wieder verschwunden sein. Wenn sie nicht verlangsamen, dann schießen sie an uns vorbei… und dann könnten sie uns höchstens noch im Vorbeifliegen vernichten.“ Sie tappte nervös mit den Fingern auf die Tischoberfläche.

Er nickte. „Das weiß er auch. Aber er will dieses Schiff intakt für das Demarchy haben, und er ist nicht derjenige, der alles für Gold nimmt, was glänzt. Er hat etwas vor, aber ich komme nicht dahinter, was.“

„Wenigstens wissen wir, daß sie da sind, und sie wissen nicht, daß wir es wissen. Wenn sie glauben, den Abgrund durch den Überraschungseffekt überbrücken zu können, dann haben sie sich getäuscht.“ Sie rutschte in ihrem Sessel hin und her und stützte sich schließlich schwer auf den Tisch. „Wenn wir mit dem Bremsmanöver beginnen, werden wir ja sehen, ob sie das auch machen. Und selbst wenn sie nicht verlangsamen… nun, hängt davon ab, was Sie mir über die Reichweite ihrer Waffen erzählen können. Ich glaube, wir können immer noch lange genug über Lansing bleiben, um den überflüssigen Wasserstoff abzuladen — und dann ohne zu zögern im rechten Winkel zu ihnen beschleunigen. Wenn sie den Kurs ändern, werden wir unwiederbringlich aus diesem System verschwunden sein.“

„Unwiederbringlich verschwunden sein. Und wir werden…“ Er betrachtete ihr kräftiges und doch zartes Gesicht und fragte sich, wie er es je für ausdruckslos hatte halten können. Er verspürte den plötzlichen Drang, es zu berühren.

Das Erkennen seines Wunsches färbte ihre Wangen. Sie sah seltsam zu ihm auf, fast einladend, und hob eine Hand. „Setzen Sie sich, Abdhiamal… Wadie Abdhiamal. Ohne uns… ja, ohne uns werden Sie besser dran sein.“

Er ließ sich auf den gepolsterten Stuhl sinken, nachdem er ein paar Kleider beiseite gestoßen hatte. „Bertha, es gibt keine Entschuldigung für das, was wir Ihnen angetan haben. Und wenn ich bedenke, was ich Ihnen aus reiner Dummheit persönlich angetan habe… Mein Gott, ich hätte Sie fast… umgebracht. Alles, was ich gesagt habe, ohne zu wollen…“

Ihre Hand gebot seinen Worten Einhalt. „Ich wollte ebenfalls nicht Ihr Leben ruinieren, Wadie… Ich bin Ihnen genausoviel schuldig wie Sie mir. Mehr. Ist es schon zu spät, alles zu regeln?“

Er lehnte sich zurück und preßte den Kopf gegen die Wand, sein Blick war fest auf sie gerichtet. „Es ist nie zu spät. Aber… ich kann meinen Gefühlen nie gut Ausdruck verleihen, Bertha. Ich kann sie mir selbst ja kaum eingestehen.“ Er atmete tief ein. „Plötzlich erkenne ich eine ganze Menge Dinge, die ich ändern will. Aber wir haben so wenig Zeit…“ Er brach ab. Wieder spürte er die Gegenwart der Geister. „Dieses Bild dort drüben — ist das Eric neben Ihnen?“

Sie war überrascht. Ihre Züge glätteten sich, sie nickte. „Er war mein erster Ehemann. Er war auch eine Art — Verhandlungsführer, ein Sprecher. Wir waren acht Jahre lang monogam, bevor wir in Clewells Familie einheirateten.“

„Und Sie haben Kinder?“

„Zwillinge, Richard und Kirsten, der Junge und das Mädchen vor mir. Sie sind jetzt etwa elf…“ Sie lächelte. „Es sind alles meine Kinder, aber die Zwillinge brachte ich zur Welt. Sie tragen meinen Namen. Alle sieben Kinder, die noch zu Hause sind, sind bei meiner Familie.“

„Sie haben Ihre Kinder zurückgelassen…“ Er zwang sich selbst zum Schweigen, bevor er sie wieder verletzen konnte. Wir verändern uns, aber die Veränderungen kommen immer zu rasch… und zu spät. Und es dauerte nur noch hundert Kilosekunden, bis sie Lansing erreicht haben würden.

Sie betrachtete ihn verwirrt. „Ja, wir haben sie bei meinen Eltern auf der Baumfarm gelassen.“ Verstehend fügte sie dann noch hinzu: „Wenn man auf Morningside aufgewachsen ist, ist die halbe Welt die eigene Familie. Man hilft sich, erzählt sich Geschichten, arbeitet zusammen… es gibt immer einen, der sich über einen Besuch freut. Wir haben unsere Kinder nicht weggegeben, wenn es auch schmerzlich ist, daß sie ohne uns soviel älter werden. Aber wenigstens Clewell und ich werden noch sehen, was aus ihnen geworden ist…“ Sie senkte den Blick und legte die Papiere zurecht. In ihren Augen sah er mehr als nur den physischen Schmerz.

„Shadow Jack und Bird Alyn… riskieren Sie ihretwegen soviel, um einer sterbenden Welt noch ein paar Sekunden mehr zu verschaffen?“

Sie zögerte. „Ich weiß es nicht. Ich hatte nicht daran gedacht… aber ich glaube schon. Ich wünschte… ich wünschte, ich würde wissen, wie ich noch mehr tun kann.“

„Also wissen Sie Bescheid? Wie es auf Lansing aussieht?“

Sie nickte.

„Ich mache mir darüber keine nennenswerten Gedanken, muß ich zugeben. Ich habe mir buchstäblich jede Chance auf etwas Besseres weggeredet.“ Er lächelte. „Aber ich bereue es nicht. Es diente einem guten Zweck.“

Sie hob eine Tasse auf und stellte sie wieder hin. „Was werden Sie auf Lansing tun, Wadie?“

Er lächelte, als er seinen Namen hörte, doch das Lächeln erlosch, als er darüber nachdachte. „Dasitzen und auf das Ende der Welt warten, vermute ich. Das Ende aller Welten. Nicht mit einem spektakulären Knall, sondern mit einem unhörbaren Seufzen.“

„Das müssen Sie nicht, darüber sind Sie sich ja im klaren.“

Er fühlte ihre Berührung. Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht nicht. Vielleicht ist das die Strafe dafür, daß ich immer vorgegeben habe, es gäbe ein Morgen.“

„Und das glauben Sie nicht?“

„Ich weiß nicht.“ Er zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht mehr, was ich glaube.“ Er wußte nur, daß er sich in einem riesigen Mausoleum befand und Angst hatte, dem Tod ins Gesicht zu blicken. „Aber ich gehöre hierher, zum Himmel, wenn das einen Sinn ergibt. Es jagt mir höllische Angst ein, und trotzdem muß ich es bis zum Ende durchstehen. Trotzdem danke.“ Er sah ihr unzufriedenes Lächeln.

„Sie können Ihre Meinung immer noch ändern.“

„Schneller, als ich Himmel verändern könnte… Ist das nicht ironisch? Wir begannen hier mit allem und Morningside mit nichts… und nun sehen Sie, wer scheiterte.“

„Auch wir sind fast gescheitert — mehr als einmal.“ Bertha betrachtete die Wand, als könnte sie durch die Zeit selbst blicken. „Wie auch Uhuru und Höllenloch und Lebensraum. Aber wir bekamen Hilfe.“

„Von wem?“

„Gegenseitige Hilfe. Planeten wie Morningside sind so kärglich, daß jede kleine Unregelmäßigkeit einer Katastrophe gleichkommt… aber sie sind die zahlenmäßig am häufigsten unter den kolonisierbaren Welten. In unserem Raumsektor sind sie alle wie Morningside. Aber unsere Welten befinden sich innerhalb einer vernünftigen Reichweite. Wir gründeten einen Handelsring, und wenn es einem von uns schlechtgeht, dann greift der Rest helfend ein. So können wir überleben. Mehr tun wir nicht, wir überleben. Aber das genügt… und es muß für alle Ewigkeit genügen, jetzt, wo unsere Reise hierher ein Fehlschlag war.

Wir haben auch unser Maß an Ironie, wissen Sie… Morningside wurde nach einem größeren politischen Aufstand auf der Erde kolonisiert. Unser nächster Nachbar, Uhuru, wurde von unseren ehemaligen ‚Feinden’ besiedelt, nachdem ihr eigenes Imperium auf der Erde gestürzt war. Not schafft festere Bindungen als die Politik dies jemals kann.“

Er lachte unvermittelt. „Wie wir fünf ja am besten wissen sollten.“

Ihre Augen hielten ihn im Bann. Sie hatte einen Finger über die Lippen gelegt.

„Wenn Sie vor dem Krieg gekommen wären, Bertha, dann könnten vielleicht sogar wir fünf etwas ausrichten. Himmel hätte etwas über Gemeinsamkeit und Teilen lernen können. Jetzt ist es zu spät, es ist nichts mehr da, das man teilen könnte.“

Sie verlagerte wieder ihr Gewicht, wobei sie leise stöhnte. „Wa-die… Sie sagten einmal, das Wissen, das Himmels Technologie auf den Höchststand brachte, sei immer noch intakt. Wenn man die Schwerindustrie wieder aufbauen würde, könnte das ein neuer Antrieb für den Gürtel sein, und alles könnte wieder so sein wie vor dem Krieg. Sie sagten, schon die Ranger würde ausreichen, das zu bewerkstelligen… Was wäre… was wäre, wenn wir euch in unser Handelsnetz mit einspannen könnten? Es wäre möglich — die Entfernung zwischen uns und euch ist kaum größer als die Distanzen, die wir bereits zurücklegen. Wenn wir Himmel zu einem Neuanfang verhelfen könnten, dann könntet ihr uns dafür geben, was wir benötigen — was ein reicheres Leben für alle beteiligten Welten gewährleisten würde. Dann müßte so etwas nie wieder geschehen!“

Er hörte ihre Stimme, die plötzlich vor Eifer lebhaft klang, als wären Schmerz und Kummer von ihr abgefallen, um sich auf ihn zu konzentrieren. „Das hatte ich auch gedacht. Aber ich habe mich geirrt.“

„Geirrt?“

„Unser Niedergang ist bereits zu weit fortgeschritten. Wir können uns nicht mehr erholen, der Tod ist eine Krankheit, die uns alle angesteckt hat. Wir können niemals mehr zusammenarbeiten, nicht einmal, um uns selbst zu retten.“

„Aber wenn man begreifen würde, daß Hoffnung für alle besteht…“

„Und wie wollen Sie ihnen das begreiflich machen? Sie haben doch am eigenen Leib verspürt, wie sie zuhören.“ Er schlug mit der Hand auf die Bank. „Sie würden nicht zuhören!“

„Nein, das würden sie nicht…“ Bertha begann kümmerlich zu lächeln und schüttelte den Kopf. „Wadie Abdhiamal — wie konnte es soweit kommen? Sie sagen, sie werden nicht, ich sage, sie werden… Wie können wir uns gegenseitig besser verstehen, als wir uns selbst verstehen können?“

Er schüttelte den Kopf, ein Lächeln glättete seine Züge, und während er sie ansah, verflog sein sinnloser Zorn.

Ihre Hand glitt zögernd vom Tisch und berührte das Lederband an seinem Handgelenk. Er griff nach ihrer Hand, ihre Finger umklammerten einander, braun und bleich. Sie sah erst ihn ernst an, dann ihre Hände. Schließlich entzog sie ihm ihre Hand wieder und sagte leise, wie zu sich selbst: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch unglücklich und unzufrieden.“

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