7 Der Bergkönig

Aurian irrte irgendwo außerhalb ihres Körpers umher. Von oben konnte sie die bleiche, stille Gestalt sehen, die in der großen Eingangshalle der Xandim-Feste auf einem Bett aus Umhängen lag. Bin ich das? fragte sie sich. Ist das möglich – wirklich? Sie fühlte sich wie in einem Traum – seltsam losgelöst. Sie wußte, daß sie schlimme Verletzungen davongetragen hatte; sie wußte, daß man ihr ihren Sohn gestohlen hatte. Seltsamerweise spielte nichts von alledem im Augenblick eine Rolle. Sie betrachtete alles von außen, von oben, von einem Punkt jenseits der Ereignisse …

Von ihrem Blickwinkel aus konnte die Magusch Parric sehen, einen ihrer ältesten sterblichen Freunde, der jetzt mit gramverzerrtem Gesicht über ihrem Körper kniete. Außerdem war da auch Chiamh, der Xandim-Seher, der ganz in der Nähe in einer Ecke lehnte. Sein Gesicht war ausdruckslos und leer, während er den Wind ritt, um ihr verschwundenes Kind aufzuspüren. Aber sie wußte, daß er nicht ganz bei der Sache war. Ein Fetzen seines Bewußtseins blieb bei ihr in der großen Halle und sorgte sich um ihre Genesung. Und da – das Schmerzlichste von allem, wenn irgend etwas in diesem tröstlichen, luftleeren Raum ihr überhaupt noch Schmerzen verursachen konnte – war Anvar. Ihr Geliebter hatte keine Zeit auf Tränen verschwendet. Statt dessen hockte er über ihrer leblosen Gestalt und versuchte mit jeder Faser seiner Kraft und seiner Liebe, ihren fliehenden Geist zurück in ihren Körper zu ziehen.

Armer Anvar. Wie groß waren denn seine Chancen schon? Jetzt begriff Aurian, was Forral empfunden haben mußte, als die Todesgeister ihn töteten und er sie, Aurian, gesehen hatte, viel jünger damals noch und viel unschuldiger – und verzweifelt bemüht, das Unvermeidliche zu verhindern. Bei den Göttern! Wie viel wäre ihr damals erspart geblieben, wenn sie dies nur gewußt hätte. Der Abschied vom sterblichen Leben war so leicht! Man mußte nur loslassen und …

Das flüchtige Aufflackern einer Erinnerung zuckte durch Aurians Gedanken. Ein kleines Boot, ein mondheller Fluß und weiße Gischt, die auf den stürmischen Wassern eines tödlichen Wehrs funkelte … Ein eisiges Hineintauchen und ein Gedanke: Es wäre so leicht, einfach loszulassen und alles vergessen zu dürfen …

Das reichte, um die Magusch aus ihrem losgelösten Traum herauszureißen. O ihr Götter, das konnte doch nicht sein? Was, zum Teufel, denkst du dir eigentlich? beschimpfte Aurian ihren dahintreibenden Geist mit wütenden Worten. Du darfst jetzt nicht sterben! Aber wie sollte sie es verhindern? Sie spürte, wie kalte Angst ihr Herz umklammerte. Plötzlich stand eine Vision von Forral vor ihren Augen, verschleiert, durch wogende Nebel, aber trotz der dichten Schleier konnte sie den Schmerz auf seinem Gesicht sehen und das Funkeln von Tränen in seinen Augen. Entschlossen wandte sich Aurian von dem Schatten ab und brachte die Sehnsucht in ihrem Herzen zum Schweigen. »Geh weg«, fauchte sie. »Ich kann jetzt nicht aufgeben!«

»Er wird vielleicht nicht weggehen – diesmal nicht. Er ist zu dir gekommen – um dich abzuholen und um dich in mein Reich zu begleiten.« Die schauerliche Stimme drang wie Krallen aus Eis mit einem immer dumpfer werdenden Schnarren in Aurians Wesen. Die Magusch schauderte. Sie hatte diese Stimme schon früher einmal gehört – vor langer, langer Zeit, in einem staubigen, sonnendurchglühten Hof im Land der Khazalim. »Was willst du von mir?« flüsterte sie.

Der Tod lachte. »Was könnte ich wohl wollen, du kleine Närrin? Du hast deine Karten überreizt; die Zeit in deiner Welt überzogen. Schon einmal hast du mir getrotzt – aber diesmal gehörst du mir!«

Die riesige, in ein Leichentuch gehüllte Gestalt ragte hoch und dunkel vor Aurian auf, aber mit aus Verzweiflung geborener Kraft und einem gequälten Aufheulen, das aus den Tiefen ihrer geschundenen Seele kam, riß sie sich aus der Umklammerung seiner eisigen Klauen los und wich ihm aus.

»Nein!« schrie sie ihm ihren Trotz entgegen. »Ich habe jetzt die Macht des Erdenstabes. Er ist durchwirkt mit Hoher Magie und gibt mir daher genug Macht, um dir, selbst in deinem eigenen Reich, zu widerstehen! Wenn du mich haben willst, dann wirst du kämpfen müssen, und zwar um jeden einzelnen Schritt auf dem Weg!« Aurian hatte alle Mühe, ihr Erstaunen über ihre eigenen Worte zu verbergen. Das mit dem Stab hatte sie doch überhaupt nicht gewußt? Woher nur waren diese Worte plötzlich gekommen?

Der Tod zischte ihr einen frostigen Fluch entgegen. Dann drehte er sich zu Forral um und winkte den Krieger fauchend zu sich heran. »Trotzig wie immer«, murmelte er. »Sie war deine Geliebte, Schwertkämpfer – hol du sie! Tu es, und sie wird für alle Ewigkeiten dir gehören.«

Forral sah die Erscheinung traurig an und schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt – und nicht so. Nicht, solange sie mich nicht will.«

»Natürlich will ich dich, du Narr!« Aurian nahm Zuflucht zu scharfen Worten, um ihre Tränen zurückzuhalten. »Aber erinnerst du dich daran, was du mir vor langer Zeit einmal gesagt hast, darüber, daß ich mein Leben in der menschlichen Welt leben müsse – und was ist mit unserem Kind?« Obwohl Aurian von heftigen Schuldgefühlen geplagt wurde – ein körperlicher Schmerz in dieser unirdischen Welt, der ihr wie ein Speer durchs Herz fuhr –, zwang sie sich weiterzusprechen: »Ich liebe auch Wolf«, sagte sie leise. »Und ich muß jetzt zurück, um ihn zu retten. Er ist alles, was von dir und mir übriggeblieben ist.«

Forral lächelte traurig. »Nicht ganz«, erwiderte er. »Das darfst du niemals glauben. Aber er ist ein Kind – verwirrt, bedroht und voller Angst. Wenn ich ihn beschützen könnte, ihn und dich, dann würde ich es tun – aber ich kann nicht. Du hast recht, Liebste. Du solltest zurückgehen.«

»Kann ich?«

Forral zwang sich zu einem Lächeln, und da begriff die Magusch erst, welche Seelenstärke dieser große Mann besaß. »Ich habe immer gesagt, daß du alles schaffen kannst, was du willst«, erwiderte er und wandte sich dann erneut an die hochaufragende Gestalt des Todes. »Du hast sie gehört. Wenn du sie haben willst, dann kannst du sie dir verdammt noch mal selber holen.«

Da war es wieder – dasselbe alte, unbezwingbare Grinsen, das Aurian immer so geliebt hatte. Sie erwiderte es lächelnd, teilte einen letzten Augenblick der Verbundenheit mit ihm – und riß sich dann los, um kreiselnd wieder in ihren Körper hineinzugleiten. Sie hatte es fast geschafft, als sie zu ihrem Entsetzen spürte, wie ihre Bewegungen langsamer wurden. Der Tod riß sie zurück – zurück in den Nebel.

»Es ist nicht eure Entscheidung – weder deine noch seine.« Die Stimme der Erscheinung war unerbittlich wie das Zuschlagen eines Sargdeckels. »Deine Zeit ist vorbei, Aurian. Du mußt mir folgen …«

»Es gibt nichts, womit du mich dazu zwingen kannst.« Dessen war die Magusch sich jetzt sicher. »Ich muß zurück zu Anvar, muß gegen den Erzmagusch kämpfen und vor allen Dingen mein Kind retten …«

»Ach, ich kann dich nicht zwingen, wie?« zischte der Tod. Und wieder wurde Aurians Seele von der Umklammerung eisiger Klauen zerrissen, und die schnarrende Stimme der Erscheinung höhnte: »Du magst ja den Erdenstab besitzen, o Magusch – aber eines hast du vergessen. Wir haben früher einmal einen Handel geschlossen, und du schuldest mir immer noch ein Leben. Diese Schuld mußt du jetzt begleichen …« Die Worte endeten in einem erschrockenen Aufkreischen, und abermals spürte die Magusch, daß sie frei war.

»Zauberin, kehre zurück in deinen Körper!« Die Stimme hatte hier nichts zu suchen – sie war fremd. Diese Sache ging sie nichts an! In der Zwischenwelt, die sie umfing, wurde Aurian plötzlich von Angst erfaßt und ertappte sich dabei, wie sie die Hand nach einem nicht vorhandenen Schwertgriff ausstreckte.

Der Tod schien gleichermaßen erschrocken zu sein. »Das geht dich nichts an!« fauchte die Erscheinung wütend.

»Es geht mich nichts an – nur bin ich in der Lage, zu sehen, was wichtig ist und was nicht«, erwiderte die Stimme. »Dies ist nicht der rechte Zeitpunkt für dich, deine Schuld einzufordern, o Grauer – und das weißt du sehr gut. Deine Ziele mögen sich von denen der Lebenden unterscheiden, aber deine Gier nach dieser einen hellen Seele würde unser aller Untergang bedeuten. Es darf nicht sein, nicht zu dieser Zeit. Warum mußt du sie unbedingt jetzt haben? Früher oder später wird sie ohnehin zu dir kommen.«

In den Schatten ihres Bewußtseins konnte Aurian eine gewaltige Gestalt sehen, die unaussprechlich alt, mächtig – und durch und durch fremd – zwischen ihr und dem Schnitter der Seelen schwebte. Einen entsetzlichen Augenblick lang schien der Tod zu zögern, dann fauchte er: »Na schön, ich werde sie verschonen – diesmal.« Die grimmige Erscheinung verschwand und ließ Aurian allein mit dem fremden Wesen.

»Ich bin Basileus«, sagte der Schatten. »Ich bin der Körper und die Seele dieser Festung. Wir sprechen uns später wieder – aber jetzt mußt du zurückkehren. Fliehe, kleine Zauberin – zu dem, der dich liebt – er wird dir helfen!«

»Was? Zurück zu Forral?« Eine Sekunde lang war Aurian verwirrt – dann wurde ihr alles klar. »Anvar!« rief sie freudig und ließ ihre Seele auf seinen suchenden Geist zuschießen. Sie suchte und suchte nach ihm in dem grauen Nichts des Jenseits. Und plötzlich, zu ihrer glückseligen Überraschung, leuchtete ihr ein helles grünes Licht entgegen: ein klarer und mächtiger Leitstrahl, der sie durch die Schleier hindurchführte, die sie von ihrem Liebsten trennten.


»Verdammt, ich verliere sie!« stöhnte Anvar gequält auf. Aurians Gesicht war aschfahl. Blut und Schaum traten bei jedem keuchenden flachen Atemzug, den sie zu nehmen versuchte, aus ihrer Wunde. Ihr Herzschlag setzte immer wieder aus und war unregelmäßig wie bei einem Läufer auf der letzten Etappe eines Rennens, und nur Anvars unbeugsamer Wille, vielleicht vereint mit dem von Aurian, ließ ihr Herz überhaupt weiterschlagen.

Wie durch eine Nebelwand wurde er sich einer Gestalt hinter sich bewußt – Chiamh.

»Ich werde meine Suche nach dem Kind später fortsetzen«, sagte das Windauge. »Jetzt brauchst du mich hier.« Seine Augen waren immer noch silbrig von der Andersicht, als er sich über Aurians stille Gestalt beugte und seine Hände die Luft über ihr zu einem Netz zu verschlingen schienen. »Es sieht schlimm aus«, murmelte er. »Ich kann dafür sorgen, daß sie noch eine Weile weiteratmet – aber …« Er blickte zu Anvar auf, und der Blick seiner Silberaugen war konzentriert und durchdringend. »Geh du und such nach ihrem Geist – jenseits des Schleiers«, befahl er. »Benutze ihren Stab, den, den du einst geschnitzt hast und den sie mit Macht erfüllt hat. Er wird euch vielleicht verbinden. Ich – ich werde uns etwas Hilfe holen, wenn ich kann.« Mit diesen Worten ließ er sich, den Kopf auf die Brust gesenkt, in eine tiefe Trance fallen. Noch während Anvar die Hand ausstreckte, um den Stab zu ergreifen, der mit Aurians anderen Besitztümern auf dem Boden verstreut lag, hörte er das Windauge ein einziges Wort flüstern: »Basileus.« Anvar legte Aurians kalten, schlaffen Hände um den Stab und hielt sie dort mit seinen eigenen Händen fest. Dann ließ er seine Kraft und seinen Willen und seine Liebe in das Artefakt hineinströmen, und sein Geist machte sich auf in jenen leeren Raum, in dem seine Liebste sich nun aufhielt.

Und er fand sie. Sie kam ihm bereits entgegen, stürzte von flatternden Fetzen grau umweht auf das Licht des Stabes zu. Ihre Geistergestalt war gräßlich verstümmelt, als hätte sie sich wieder und wieder dem Zugriff riesiger Krallen widersetzen müssen. Anvar schrie ihren Namen – und hörte seinen Namen, mit ihrer Stimme gerufen, als Echo in seinem Kopf. Als er die Angst und das Entsetzen in ihrem Schrei spürte, hielt er sie so fest er nur konnte, und sie klammerte sich an ihn, während das smaragdene Glühen des Erdenstabs sie beide wie ein kostbarer Segen umschlang.

Jetzt jedoch war nicht die rechte Zeit, ihr Wiedersehen zu feiern, keine Zeit für Liebe, keine Zeit für Angst. »Aurian«, sagte er drängend. »Ich brauche deine Hilfe. Deine Heilung geht über meine Kräfte – diese Dinge habe ich noch nicht gelernt. Du mußt jetzt zurückkommen – du mußt dich mit mir in der Macht des Stabes vereinen, so wie wir es in der Wüste getan haben, und mir dann deine heilenden Kräfte leihen, damit ich dir helfen kann.«

Ihre Augen weiteten sich. »Geht das denn?« fragte sie atemlos. Dann sah er, wie ihre Kiefer sich verkrampften. »Verdammt, das sollte es besser«, murmelte sie. Die Welt begann zu kreisen und …

Plötzlich steckte Anvar wieder in seiner irdischen Gestalt und kniete über der Magusch, aber diesmal spürte er ihren Geist in tiefer und vertrauter Verbindung mit dem seinen. Er spürte auch ihr Erschrecken, als sie das Ausmaß des Schadens ermessen konnte, den Meiriels heimtückisches Messer angerichtet hatte. Er hörte sie fluchen. Dann jedoch klang ihre Stimme ruhiger. »Wir sollten uns besser beeilen. Ich wußte nicht, daß es so viel zu tun geben würde.«

Ohne den Stab der Erde hätten sie es jedoch nie geschafft. Und ohne Aurians Kenntnisse, die sie ironischerweise eben jener Frau verdankte, die sie nun zu töten versucht hatte, hätten die beiden Magusch keine Chance gehabt. Anvar, der einfach voller Vertrauen seine Kraft in Aurians Hände gegeben und seine Hände ihrem Willen anbefohlen hatte, ließ seine Geliebte sich selbst heilen. Und nach einer entsetzlichen, verfluchten, endlosen und erschöpfenden Ewigkeit, die sie damit zugebracht hatten, durchtrennte Muskeln und zerfetztes Gewebe zusammenzufügen, spürte Anvar, wie Aurians Geist sich aus dem seinen ausklinkte. Einen Augenblick lang herrschte kalte Angst in seinem Herzen – dann öffnete Aurian die Augen. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Du hast gute Arbeit geleistet, mein Partner, beim Heilen – und bei allem anderen.«


Aus ihrem Nest wärmender Umhänge heraus sah die Magusch, wie ein breites, ein wenig einfältiges Grinsen Anvars Züge verzerrte und glückselige Freude über ihre Rückkehr in seinen Augen aufleuchtete. Ihr Herz flog ihm entgegen.

»Die Fähigkeiten, denen wir das zu verdanken haben, kamen von dir«, sagte er zu ihr. »Und ich liebe dich auch.« Noch immer hielt er ihre Hand fest umklammert. »Aber wirst du – wirst du jetzt wieder ganz gesund?«

Für einen kurzen Moment verschleierte sich Aurians Blick, und sie richtete ihr Augenmerk nach innen. Dann blickte sie auf und nickte mit einem müden kleinen Lächeln. »Alles sauber geflickt. Mir tun einfach nur alle Knochen weh – und ich bin so furchtbar, furchtbar müde. Ich muß eine Weile schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen, und damit die Heilung ihre letzte Wirkung tun kann – und dann«, ihre Finger bohrten sich in Anvars Hand, »dann suchen wir diese Hexe Meiriel – und mein armes Kind.«

Anvar war wie vom Donner gerührt. »Es war Meiriel? Aber Parric glaubte, sie sei tot …«

»Bei allen Göttern, ich wünschte, sie wäre es«, fauchte Aurian. »Aber das ist ein Irrtum, der sich aus der Welt schaffen läßt. Gibt es irgend etwas Neues?« wollte sie wissen. »Ist irgend etwas geschehen?«

Anvar drückte ihr tröstend die Hand und schüttelte den Kopf. »Aber wir werden …«

»Du lebst!« Shias Stimme hallte überglücklich in Aurians Gedanken wider, als zwei große Katzen mit vom Regen durchweichtem Fell in die große Halle schossen. Shia stieß die Magusch vorsichtig mit der Schnauze an, und während sie vor Glück schnurrte, fielen eisige Tröpfchen aus ihren langen, schwarzen Schnurrhaaren auf Aurians Gesicht.

Aurian brachte es trotz ihrer Sorgen fertig, der großen Katze zuzulächeln. »Ja, ich lebe«, stimmte sie ihr zu. »Obwohl nur die Götter wissen, wie das möglich ist. Aber …« Ihre Gedankenstimme war überschattet von Furcht. »Was ist dir widerfahren, Shia? Gibt es etwas Neues von meinem Sohn?«

Die große Katze ließ den Kopf sinken. »Wir haben versagt«, gestand sie kläglich. »Unsere Feindin hat eine Barriere aus Magie errichtet, die wir nicht überwinden konnten, und dann haben wir ihre Spur verloren. Den Geflügelten ist es anscheinend ähnlich ergangen. Ich glaube, die Magie hat sie vor ihren Blicken geschützt. Dann spürten wir, daß dein Leben in Gefahr war. Selbst auf eine solche Entfernung konnten wir fühlen, wie dein Geist langsam davonglitt …« Shias Gedankenstimme zitterte kurz. »Khanu und ich sind zurückgekehrt, während die Wölfe den Berg durchkämmen, um festzustellen, ob sie Wolfs Entführerin irgendwo aufspüren können.« Dann wandte sie den Blick von der Magusch ab. »Aurian – ich glaube, irgend jemand hat deiner Feindin geholfen. Wir können uns zwar irren, aber Khanu und ich waren überzeugt davon, ganz schwach die Witterung fremder Katzen aufgenommen zu haben – unserer eigenen Leute. Ich schäme mich so …«

»Psst«, unterbrach sie eine Stimme. Als sie sich umsah, erblickte Aurian das Windauge der Xandim. »Mach dir keine Vorwürfe«, sagte er zu Shia, wobei er die beiden Magusch an seiner Gedankenrede teilhaben ließ. »Es könnte schlimmer sein. Immerhin wissen wir, in welche Richtung die Wahnsinnige gegangen ist«, beschwichtigte er sie. »Sie mag zwar in der Lage gewesen sein, sich vor normalen Blicken zu verbergen, aber mit meiner Andersicht habe ich sie auf dem Wind aufgespürt – doch war ich gezwungen, zurückzukehren, um Aurian zu helfen, als ich spürte, daß ihr Leben in Gefahr war. Als ich diese Hexe zum letzten Mal gesehen habe, hat sie jedoch keinerlei Versuche unternommen, dem Kind Schaden zuzufügen …«

Seine Stimme war warm und tröstlich. Viel zu tröstlich, wenn man die Umstände betrachtete. Argwohn ließ Aurians Kopfhaut prickeln. »Und die schlechten Nachrichten?« wollte sie wissen. »Na komm schon, Chiamh – was ist es, was du uns nicht sagst?«

Chiamh seufzte. »Die Wahnsinnige hat das Baby hoch hinauf auf die höchsten Hänge des Windschleiers gebracht – und sie ging in Richtung Drachenschwanz. Shia hatte recht – zwei fremde Katzen waren in ihrer Nähe, wie Schatten an ihre Fersen geheftet. Sie hat deinen Sohn auf den gefürchteten Stahlklauegipfel gebracht. Selbst wenn wir sie dort aufspüren, werden die Wölfe nicht in der Lage sein, ihr zu folgen. Niemand außer den Schwarzen Geistern kann sich auf den Hängen Stahlklaues bewegen – und überleben.«

Das entsetzte Schweigen der beiden Magusch wurde von Shias Knurren unterbrochen. »Keiner außer den Geistern, sagst du? Aber Chiamh, ich bin einer von deinen Schwarzen Geistern! Keine Angst, Aurian, Khanu und ich werden den Stahlklauegipfel besteigen. Ich habe dort noch etwas zu erledigen, vor allem, wenn sich Gristheena und ihre Leute auf die Seite deiner Feinde geschlagen haben. Sei versichert, daß ich dir Wolf zurückbringen werde.«


Meiriel stolperte über das kahle Feld der Steine auf die zerklüfteten Felsbänke des Drachenschwanzes zu, wobei sie abwechselnd ihre Magusch-Sicht segnete, die es ihr gestattete, sicher durch die Dunkelheit zu kommen, und den Wind verfluchte, der ihr immer wieder klebrige Haarflechten ins Haar schlug und ihr den Regen in die brennenden Augen trieb, um ihr nach Kräften eben jene Nachtsichtigkeit zu rauben, die sie im Augenblick so dringend brauchte.

Trotz des Sturms, trotz der Schwierigkeiten des Aufstiegs brannte eine wilde Freude in Meiriels Herzen. Endlich, endlich hatte sie ihre Feindin geschlagen, diese Mörderin ihres geliebten Seelengefährten! Ihr magischer Schild hatte ihre Verfolger genarrt. Und nun hatte sie Aurians Kind in ihrer Gewalt, dieses verfluchte, unnatürliche Ungeheuer, dessen sie sich jetzt auf jede Weise entledigen konnte, die ihr passend erschien. In der Ferne hörte Meiriel das Geheul von Wölfen und tat das grausige Geräusch mit einem Achselzucken ab. Statt dessen blickte sie hinunter, und ihre scharfen Augen erspähten den verborgenen Weg, der von dem Plateau hinunter zu einem halb zerstörten Felsvorsprung führte. Sobald sie den Stahlklauegipfel erreicht hatte und sicher sein konnte, ihre Verfolger abgeschüttelt zu haben, würde das Kind …

»Gewundene Schlange einer Zauberin – das glaube ich nicht!«

»Wer ist da?« Meiriel wirbelte herum, und ihre Stimme war schrill vor Panik. Obwohl die Worte leise gewesen waren, hatte man sie selbst über dem Tosen des Sturms deutlich vernehmen können.

»Du irrst dich, Wahnsinnige. Dein heimtückischer Angriff war nicht so perfekt durchgeführt, wie es den Anschein hatte. Aurian wird leben – und wenn du auch nur noch einen einzigen Funken Verstand in deinem Kopf hast, wirst du ihr Kind ebenfalls am Leben lassen – als Geisel oder als Köder.«

»Wer bist du?« kreischte Meiriel. Schluchzend vor Angst, lief die Magusch, deren Freude nun vollkommen erloschen war, den Hang hinunter, der von dem Plateau herunterführte, wobei sie halb stolperte, halb fiel. Schließlich kroch sie auf allen vieren über den zerklüfteten Felsvorsprung, von dem man auf den Stahlklauegipfel gelangte. Und sobald sie den Windschleier hinter sich gelassen hatte, war die Stimme ihres Peinigers verstummt.

Der Weg über den Drachenschwanz war ein Alptraum. Meiriel mußte Zentimeter um Zentimeter auf Händen und Knien hinüberkriechen, wobei ihre Haut und ihr Fleisch von den rasierklingenscharfen Kanten spitzer Felsbrocken aufgeschlitzt wurden. Sie hinterließ eine deutliche Blutspur, die jedoch von dem unbarmherzigen Regenguß sogleich davongespült wurde. Der Sturm kreischte ihr seine Verachtung ins Gesicht, rüttelte ihren halb erfrorenen Körper auf dem ungeschützten Felsvorsprung durch und umklammerte sie mit machtvollen Fingern; jeden Augenblick drohte sie, von ihrem gefährlich hohen Weg heruntergerissen und in die dunklen Tiefen des Abgrunds geschleudert zu werden. Wegen der Energie und der Konzentration, die sie für ihren schwierigen Marsch brauchte, war sie gezwungen gewesen, ihren magischen Schild sinken zu lassen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Meiriel biß die Zähne zusammen und schleppte sich halsstarrig immer weiter, obwohl in ihrem Kopf die mysteriöse Nachricht, die sie auf dem Windschleier erhalten hatte, immer noch widerhallte. Woher mochte diese Stimme gekommen sein? War das ein Trick, und wenn ja, von wem? Was hatte das zu bedeuten? Konnte es wirklich wahr sein, daß Aurian noch lebte? Meiriel schrie vor Schmerz und Wut laut auf und spie auf die regennassen Steine des Felsvorsprungs. Sie mußte davon ausgehen, daß es der Wahrheit entsprach. Da war etwas in dieser Stimme gewesen, das sie überzeugt hatte – und außerdem wagte sie es nicht, ein solches Risiko einzugehen. Die Stimme hatte in einer Hinsicht jedenfalls recht gehabt. Wenn Aurian wirklich noch lebte, würde Meiriel das Baby noch brauchen – auf die eine oder andere Weise.

Als sie auf der anderen Seite des Vorsprungs angelangt war, hatte sich die Magusch wieder einigermaßen unter Kontrolle. Selbst wenn Aurian hierherkommen sollte, hatte Meiriel immer noch ein oder zwei Kunststückchen für sie auf Lager, zu denen nicht zuletzt ihre neue Freundschaft mit den wilden Bewohnern dieses zerklüfteten Gipfels zählte. Als dieser Narr Parric mit seiner notdürftig zusammengesuchten Armee nach Süden aufgebrochen war, hatte Meiriel auf dem Stahlklauegipfel Zuflucht gesucht, um nicht von den Xandim und ihren scharfäugigen Spähern entdeckt zu werden, wenn sie den Windschleier überquerten.

Die Magusch hatte keine Ahnung von der Xandim-Legende gehabt, daß der Drachenschwanz unpassierbar war und die unsicheren Felsvorsprünge in Wind und Wetter immer wieder ihre Gestalt änderten. Sie hatte den Weg mit einiger Mühe hinter sich gebracht und auf ihrer Wanderung die Schwarzen Geister des Berges kennengelernt. So viele von ihnen waren plötzlich dagewesen, daß sie sich gezwungen sah, ihre Zauberkräfte zu benutzen, um sich zur Wehr zu setzen – und bei der Anwendung ihrer Magie hatte sie herausgefunden, daß es eine Möglichkeit gab, sich mit den fremden Wesen zu verständigen. Bei ihrem Treffen mit dem Ersten Weibchen hatte Meiriel ferner herausgefunden, daß sie und Gristheena einander ziemlich ähnlich waren. Die große Katze war verwundet und litt noch immer unter der jüngsten Niederlage, die sie durch irgendeinen Gesetzlosen erlitten hatte. Ihre Position als Führerin war derzeit ziemlich geschwächt, und sie war froh gewesen, mit Hilfe der Kräfte der Magusch ihre Autorität zurückzugewinnen. Und Meiriel? Die verfolgte ihre eigenen Zwecke.

Heute abend hätte die Magusch es ohne Gristheenas Hilfe nicht geschafft. Meiriel blickte hinüber zu den beiden großen Katzen, die neben ihr herliefen – eine als Wächterin und die andere mit einem kleinen, in Stoff gehüllten Bündel, das sie vorsichtig zwischen ihren gewaltigen Kiefern trug. Bei diesem Anblick spielte ein grimmiges Lächeln über Meiriels Gesicht. Dank sei den Göttern, daß sie nicht gezwungen gewesen war, diese Last über die zerklüfteten Felsen zu tragen!

Nun rief die Magusch der einen Katze zu, daß sie stehenbleiben solle, trat zu ihr heran und betastete mit einem blutbefleckten Finger das kleine Bündel. Aus dem Innern drang ein jämmerliches, protestierendes Wimmern. Meiriel nickte zufrieden und stapfte schließlich weiter, den holprigen Pfad hinunter zu Stahlklaues verwüstetem Herzen. Sie mußte so bald wie möglich zu Gristheena zurück und dann – nun, dann würde man weitersehen.


»Dieser verwünschte Regen – ich sehe rein gar nichts!« murmelte Anvar.

»Wir auch nicht«, erwiderte einer seiner geflügelten Träger verbittert. »Und wir sind diejenigen, die das Fliegen besorgen müssen, wir riskieren Leben, Flügel und Glieder in diesen trügerischen Gipfeln.«

»Oh, hör schon auf zu jammern!« brummte Anvar, den seine Sorgen ziemlich ungnädig gestimmt hatten, aber Chiamh fuhr schnell und mit lauterer Stimme dazwischen: »Wie überaus mutig sind die Krieger des Himmelsvolkes, die sich freiwillig zu dieser gefährlichen Mission gemeldet haben. Ihr habt euch nimmer endende Dankbarkeit verdient von jenen, die die Verbündeten eurer Königin sind.«

Anvar spürte, wie das Windauge ihm einen spitzen Ellbogen in die Rippen rammte, und hastig fügte er Chiamhs Worten seine eigenen Dankesbekundungen hinzu. »Das war ein guter Schachzug«, sagte er dankbar, denn Chiamh hatte die Geflügelten auf diese Weise daran erinnert, daß die beiden Magusch ihre Monarchin gerettet hatten. Er wünschte nur, das Windauge hätte auch etwas gegen diesen abscheulichen Sturm tun können. »Hast du irgendeine Vorstellung, wo wir sind?« flüsterte er.

Anvar nahm noch ein silbernes Aufblitzen in Chiamhs Augen wahr, und schon begann das Windauge, die düstere Landschaft mit seiner Andersicht abzusuchen. »Wir befinden uns auf einem der Gipfel, von denen man einen Blick auf das Herz Stahlklaues hat«, erwiderte er in Gedankenrede. »Dieser Teil ist gut bewacht, aber nicht mehr in der Höhe, in der wir uns jetzt befinden, denn unsere geflügelten Freunde haben uns in einem Gebiet abgesetzt, das die Katzen nicht mehr erklimmen können. Der Lärm des Sturms übertönt unsere Schritte, aber sei trotzdem so still wie möglich und paß auf, daß du im Dunkeln nicht danebentrittst! Diese Stelle eignet sich bestens als Aussichtspunkt – und als ich sie das letzte Mal sah, hat sich unsere Feindin ebenfalls in diese Richtung aufgemacht. Wenn sie sich tatsächlich mit den Katzen verbündet hat, muß sie auf jeden Fall hierher kommen. Und sobald sie da ist, werden die Himmelsleute uns schnellstens runterbringen – und unsere Falle schnappt zu!«

»Dann gehört Gristheena mir!« Selbst in Gedankenrede war Shias Stimme ein wildes Knurren.

»Und mir!« wiederholte Khanu, ihr getreuliches Echo.

Anvar fing das seltsame kleine Gedankensymbol auf, das bei Shia soviel bedeutete wie ein resigniert gen Himmel gerichteter Blick, und lächelte bei sich.

»Ich würde nicht lächeln, wenn ich du wäre«, wies Shia ihn schroff zurecht. »Aurian wird euch alle beide umbringen, wenn sie aufwacht und feststellt, daß Chiamh ihr diese Schlafdroge in den Wein geschmuggelt hat.«

»Mir macht das nichts aus«, protestierte das Windauge. »Aurian bestand darauf, mit uns zu kommen, und im Augenblick ist sie nicht in der Verfassung dazu. Außerdem«, fügte er hinzu, »wenn wir Wolf sicher zu ihr zurückbringen, wird sie zu glücklich sein, um uns umzubringen.«

»Da hast du recht«, erwiderte Anvar. »Wahrscheinlich wird sie uns nur ziemlich übel zurichten.« Obwohl er eigentlich kaum zu Scherzen aufgelegt war, war er doch dankbar für diese gutmütige Neckerei. Es beruhigte seine Nerven, die strammer gespannt waren als eine Armbrust.

»Psst!« unterbrach sie Khanu. »Ich habe etwas gehört!«

Anvar konnte in dem undurchdringlichen Gemisch aus Unwetter und Dunkelheit nichts erkennen, aber Chiamh mit seiner Andersicht sah alles. Den tiefen, finsteren, zerklüfteten Krater in Stahlklaues Herzen, den vorspringenden Obsidianfelsen, auf dem hier und da glühwürmchengleiche Lichter aufflackerten, während die Katzen sich unten sammelten und von einem Ort zum anderen strichen. Auf der anderen Seite des finster glitzernden Felsvorsprungs sah er den dunklen, formlosen Eingang eines Tunnels. Aus seiner Öffnung stieg ein geisterhaftes, schwaches Licht auf, rot und flackernd, halb verschleiert und durchschossen mit Speichen fahler Düsternis. Die Wahnsinnige! Chiamh hielt den Atem an und sah zu, wie das übelkeitserregende Funkeln ihres Unlichtes aus dem Tunnel hinaus ins Freie und quer über den Felsvorsprung drang. In diesem Augenblick flüsterte er: »Jetzt!« Die Netze, auf denen seine Begleiter gerade noch gestanden hatten, wurden hochgerissen und zusammengezogen. Die Himmelsleute flogen auf und stoben hinunter in den Krater.


Hreeza, die schon jetzt in dem vom Himmel klatschenden Regen heftig zitterte, wünschte sich immer öfter, niemals hierhergekommen zu sein. Das war keine Aufgabe für so eine alte Katze! Sie mußte wohl laut gedacht haben, denn ganz in ihrer Nähe erklang eine tadelnde Stimme: »Für eine einzelne alte Katze mag das ja gelten, aber wir sind viele. Du hast es so gewollt, Hreeza – das war deine große Vision, und du hast unserem Leben einen neuen Sinn gegeben. Nun vertraue auch auf das Wunder, das du selbst gewirkt hast!«

Hreeza kicherte trocken. »Schönes Wunder – eine Horde skelettmagerer, zerzauster alter Vagabunden!« schnaubte sie. Aber trotzdem floß der Mut in warmen Strömen zurück in ihre Adern, und ihr altes Herz bebte vor Stolz. »Sentimentale Närrin!« schalt sie sich – aber es tat trotzdem gut. Wenn sie ihre Pläne doch nur in die Tat umsetzen konnte!

Vor einigen Tagen in Aerillia hatte Hreeza angenommen, der schwierigste Teil ihrer Mission würde darin bestehen, dieses kleine Biest von Königin dazu zu bringen, ihr geflügelte Träger zur Verfügung zu stellen und sie in aller Heimlichkeit von dannen ziehen zu lassen. Sobald dieser Teil des Planes jedoch mit Erfolg abgeschlossen gewesen war, hatte Hreeza sich plötzlich hoch über den Wolken in einem hin und her schwingenden Netz wiedergefunden – und abrupt ihre Meinung geändert. Dies zu überleben, davon war die alte Katze überzeugt, das war der wirklich heikle Teil. Sie hatte sich jedoch geirrt. Nach mehreren Tagen, die sie damit zugebracht hatte, durch Regen und Kälte zu schleichen, immer hungrig, in beständiger Angst vor Entdeckung, wäre Hreeza freudig wieder zurück in das Netz geklettert – solange am Ende der Reise nur ein warmes Feuer und eine ausgiebige Mahlzeit auf sie gewartet hätten. Ihre Genesung in der Zitadelle des Himmelsvolkes hatte sie schrecklich verweichlicht, dachte die alte Katze angewidert.

Nichtsdestotrotz hatte Hreeza ausgeharrt. Sie hatte die Außenbezirke des Territoriums, das ihr Volk beherrschte, wieder und wieder durchmessen, hatte die schwer faßbaren Chueva aufgespürt, die Einsamen, Ausgestoßenen, die man aus dem Clan verbannt hatte, weil sie zu alt waren, zu krank oder einfach unfähig zu jagen. Seit die gnadenlose Gristheena die Herrschaft an sich gerissen hatte, gab es mehr Chueva als je zuvor. Nach und nach hatte Hreeza sie gefunden: furchtsame, gehetzte, niedergedrückte Geschöpfe, deren Leben oft nur noch an einem seidenen Faden hing. Sie hatte auf sie eingeredet, hatte geschmeichelt, gelockt, genörgelt, hatte ihnen zugesetzt und sie drangsaliert. Sie hatte für sie gejagt, hatte ihnen eine sichere Zuflucht besorgt und hatte sie schließlich zu der seltsamsten Armee, die es je gegeben hatte, um sich geschart. Und nun hatte sie sie zurückgebracht, mitten hinein in das Herz Stahlklaues – um Gristheena zu stürzen oder zugrunde zu gehen.

»Du alte Närrin!« murmelte Hreeza vor sich hin, als sie nun in Stahlklaues Krater hinunterblickte und die dort versammelten Scharen derer sah, die einst ihr eigenes Volk gewesen waren. Was war nur in sie gefahren? In dem sicheren Wissen, daß es ihr nicht gelingen würde, die kleine Schar von Chueva lange zusammenzuhalten – entweder würde man sie entdecken, da sie so viele waren, oder sie würden einer nach dem anderen den Mut verlieren und beschämt davonschleichen – in diesem sicheren Wissen also hatte Hreeza beschlossen, so bald wie möglich zuzuschlagen. Als sie von ihren Spioninnen hörte, daß im Krater eine große Katzenversammlung stattfinden sollte, hatte sie dem Schicksal für diese glückliche Fügung gedankt. Aber als sie jetzt einen Blick auf ihre Gegner warf, alles Katzen in der Blüte ihrer Jahre, durchtrainiert und wohlgenährt, verließ sie plötzlich der Mut, und sie begann zu glauben, daß die Reise durch die Luft in diesem Netz ihren Verstand getrübt haben mußte. Wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzte, würde sie die erbärmliche Schar ihrer Anhänger, die in der kurzen Zeit schon so abhängig von ihr geworden waren, in den sicheren Tod führen.

Hreeza seufzte. Vielleicht hatten diejenigen, die sie Feiglinge geschimpft hatte, doch recht. Vielleicht wäre es wirklich besser, sich mit gesenktem Kopf davonzuschleichen und einfach in die Nacht zu verschwinden. Vielleicht sollte sie ihre Anhänger mitnehmen und sich irgendwo ein neues Zuhause suchen, fern von hier, in einem anderen Land. In den Bergen in der Nähe von Aerillia war genug Platz, und jetzt, da sie mit den Geflügelten reden konnte, würde man sich vielleicht miteinander arrangieren können …

Da plötzlich trat unten in der Arena, begleitet von zwei großen Katzen, eine zweibeinige Gestalt in Erscheinung. Sie hinkte, ihr Rücken war gekrümmt, und sie stank nach Wahnsinn und Bosheit. Hreezas Schnurrhaare zuckten neugierig, und sie öffnete den Mund, um eine bessere Witterung zu bekommen. Was in aller Welt … Dann fingen ihre scharfen Ohren das Geräusch eines hohen, dünnen Wimmerns auf, jämmerlich und schwach. Ein leiser Duft drang zu ihr herüber, so unverkennbar und voller Erinnerungen, daß Hreeza spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. In Aerillia hatte sie mit Aurians verzaubertem Sohn gespielt; wenn die Magusch anderweitig beschäftigt war, hatte sie, Hreeza, sich um Wolf gekümmert, wie sie sich um das Kind einer anderen Katze gekümmert hätte.

Plötzlich waren alle Gedanken an Flucht und Rückzug vergessen. Hreeza sprang auf die Füße, und die alte Kriegerin stieß ein Brüllen aus, in dem ein solcher Zorn lag, daß sogar die Berge erbebten. Ganz so, als wäre sie plötzlich wieder jung und kräftig, sprang sie von der luftigen Höhe ihres Verstecks hinunter – und wie ein einziger gewaltiger schwarzer Sturzbach folgten die Chueva ihr auf dem Fuß, die Nackenhaare auf ihren knochigen Rücken aufgestellt, die Augen erfüllt von einem feurigen Glühen, die Köpfe stolz erhoben und auf den Lippen ihren eigenen, unerschrockenen Schlachtgesang.

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