2 Die Reise beginnt

Im Mondlicht sahen die farnüberwucherten grauen Steine des Turms von Incondor aus, als hätte man sie in Silber getaucht. Auf dem Hügel zwischen dem alten zerfallenden Steinhaufen und den zupackenden Schattenfingern des Dickichts war jeder Grashalm des blütenübersäten Rasens scharf umrissen in einem Helldunkel aus tiefen Schatten und frostigem Licht, fast so, als hätte sich der Winter auf leisen Sohlen heimlich zurückgeschlichen. Aber die Luft schwirrte von dem prickelnden Duft des Frühlings – ein Versprechen, daß die Tage gnadenloser Kälte ein Ende hatten, obwohl die Nachtwinde noch immer so kühl waren, daß die beiden geflügelten Boten dankbar für die Wärme ihrer dicht an den Körper gezogenen Flügel waren.

Die Kuriere des Himmelsvolkes, die auf Befehl von Königin Rabe und den beiden erdgebundenen Magusch hier sein mußten, hockten wie ein paar häßliche Kobolde auf einem hohen Vorsprung in dem verfallenen Mauerberg auf der Rückseite des Turms, so weit weg wie möglich von den flügellosen Fremden, deren Gesellschaft man ihnen aufgezwungen hatte. Wegen ihrer Abneigung, zusammen mit den Nordländern im Turm zu schlafen, hatten sie sich einen Platz auf dem Dach gesucht, wo man vor der warmen Mauer des Schornsteins einen notdürftigen, überdachten Schuppen für sie gebaut hatte – aber die ständigen Rundgänge der aufs Dach abkommandierten Wachen hatten sie immer wieder in ihrem Schlaf gestört, und die Helligkeit der Nacht mit ihrem funkelnden Mond, der gerade erst seinen Zenit überschritten hatte, machte sie ruhelos. Schließlich waren sie an diesen schwindelerregend hohen Ort zwischen Himmel und Erde geflohen, wo sie in Frieden nachdenken und mit leiser Stimme über die augenblicklichen Veränderungen reden konnten, die sich während der vergangenen beiden Tage in ihrer Stadt ereignet hatten.

Abgesehen von den monotonen Schritten des Wachpostens, der seine Runde auf dem Dach über ihnen ging, regte sich nichts in der vom Mond überfluteten stillen Landschaft. Nach einer Weile wurde das leise Gespräch der Boten immer abgehackter und wich schließlich schläfrigem Schweigen. Dann, mitten in dem tiefen Frieden der Nacht, war plötzlich ein winziger Laut zu hören – ein schwaches, hohes Quietschen, mit dem die Tür des Turmes sich öffnete.

Die beiden Himmelsleute waren sofort hellwach, versteiften sich und sahen einander mit angstvoll aufgerissenen Augen an. Sie trauten diesen erdgebundenen Fremden immer noch nicht ganz, und jemand, der mitten in der Nacht herumschlich, konnte nichts Gutes im Schilde führen! Schweigend und verstohlen zogen die Boten die langen Messer aus ihren Scheiden, und strafften ihre Schwingen zum Flug. Leise Schritte waren zu hören … jemand stahl sich auf ihre Seite des Turms herüber!

Der Nachtschwärmer konnte von Glück sagen, daß das Mondlicht so hell war. Sobald die Himmelsleute die Silhouette der Gestalt erkannten, die sich an sie heranpirschte, steckten sie ihre Waffen weg, entspannten ihre Haltung, und auf ihren Gesichtern wich die Erschrockenheit einem belustigten Erstaunen. Wie merkwürdig: Es war die kleine Frau, die den Drang zu verspüren schien, jeden im Lager zu bemuttern – die Frau, die sie immer wieder mit so köstlichen Speisen verwöhnte! Der einzige Erdenkriecher von allen, in dem die Himmelsleute keine Bedrohung sahen.

»Was im Namen Yinzes kann sie nur vorhaben?« zischte der eine der geflügelten Kuriere seinem Begleiter zu. Bei dem Klang seines Flüsterns blickte die Erdenkriecherin auf, legte einen Finger auf die Lippen, um die beiden Himmelsleute schweigen zu heißen, und winkte sie zu sich herunter. »Aerillia, Aerillia«, flüsterte sie drängend, zerrte an dem Arm des ihr am nächsten stehenden Himmelsmannes und zeigte zuerst auf sich und dann auf das dunkle Gewirr von Maschen, das ihr Transportnetz war und das nun sicher am Fuß des Turmes lag. Einige Sekunden lang hatten die geflügelten Kuriere Mühe zu glauben, was diese kleine Frau da offensichtlich von ihnen verlangte. Schließlich jedoch sahen sie einander an. »Sie will, daß wir das Netz holen und sie nach Aerillia bringen?«

Sein Begleiter zuckte mit den Schultern. »Nichts anderes kann sie meinen.«

Der erste geflügelte Bote warf einen kläglichen Blick auf Nerenis rundliche Gestalt und reckte seine drahtigen Arme. »Warum ausgerechnet sie?« Er seufzte. »Hätten sie nicht einen von den anderen schicken können, um Yinzes willen?«


Aurian, deren Augen vor Konzentration ganz schmal geworden waren, spähte in die trügerische, schattige Düsternis des vollgestopften Tunnels und segnete wieder einmal die Götter für die Gabe der Nachtsichtigkeit, die allen Magusch angeboren war. »Würdest du die Fackel bitte ein wenig zur Seite nehmen?« murmelte sie über ihre Schulter hinweg Cygnus zu. »Ich arbeite hier in meinem eigenen Schatten.«

Neben sich spürte die Magusch Anvars Schulter, als dieser sich vorbeugte, um einen besseren Blick in die schmale Kluft zwischen den heruntergestürzten Steinen zu werfen. »Das ist die Stelle, die wir brauchen«, sagte er. »Da – siehst du? Wo diese große Felsplatte sich schräg verkantet hat. Wenn wir sie nur irgendwie aufrichten könnten, müßte sie die anderen eigentlich abstützen …«

»Vorsicht!« Aurians lauter Ausruf wurde um ein Haar von dem unheilvollen, knirschenden Geräusch über ihren Köpfen übertönt. Als ihr Seelengefährte sich vorgebeugt hatte, um ihr jene Stelle zu zeigen, hatte selbst diese kleine Bewegung ausgereicht, um das dürftige Gleichgewicht der Steine ins Wanken zu bringen. Wie ein einziges Wesen schleuderten die beiden Maguschs nun ihre magischen Schilde nach oben, um die in Bewegung geratenen Steine abzustützen. Nach einem schier endlosen Augenblick wich das knirschende Scharren von Stein auf Stein tiefem Schweigen und ließ nur das flüssige Muster eines Stroms aus Kies und Staub zurück, der durch die Risse sickerte.

Der letzte Funken des flackernden Fackellichts erlosch. Die Maguschs lehnten sich aneinander, eingehüllt in eine Dunkelheit, die nur ihre Augen durchdringen konnten. Sie keuchten vor Anstrengung. »Verdammt!« murmelte Anvar. »Das war knapp.«

»Das hat er offensichtlich auch gedacht.« Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wies Aurian auf das leere Stück des Tunnels hinter sich, durch den sich ihr geflügelter Begleiter, wie nicht anders zu erwarten war, davongemacht hatte.

»Diese Himmelsleute!« Anvar zog eine angewiderte Grimasse, obwohl die Magusch wußte, daß er ihrem erschrockenen Begleiter genausowenig Vorwürfe machte, wie sie es tat. Oder tat sie es doch? Aurian runzelte die Stirn. Diese verrückte Idee, die Ruinen des priesterlichen Archivs unter dem Tempel Incondors zu erkunden, um vielleicht irgendwelche Hinweise zu finden, die sie zum Flammenschwert führen konnten, war von Cygnus gekommen. Am Abend zuvor, als sie bei einer Flasche Wein mit dem geflügelten Arzt zusammengesessen und alles besprochen hatten, war ihnen die Idee ganz vernünftig erschienen, aber nachdem sie sich nun durch diesen unsicheren Tunnel gegraben hatten, wußten sie, auf welch gefährliches Unternehmen sie sich da eingelassen hatten. Cygnus mußte die Gefahren, die hier lauerten, doch gekannt haben? Fest stand jedenfalls, daß er keinen Augenblick gezögert hatte, seine eigene Haut zu retten, als das Dach einzustürzen begann. Aurian schüttelte den Kopf. Ich bin zu argwöhnisch geworden, dachte sie. Warum sollte uns Cygnus etwas antun wollen, nachdem wir ihn von Schwarzkralle befreit und seine Königin gerettet haben? Es konnte nur ehrliche Angst gewesen sein. Obwohl sie und ihr Gefährte die Gruppe von Anfang an mit ihrer Magie abgeschirmt hatten, wußte sie, daß es den Himmelsleuten sehr schwerfiel, Vertrauen in etwas zu setzen, das sie nicht einmal sehen konnten.

Die Notwendigkeit, das einstürzende Dach aufzuhalten, verbot im Moment allerdings jede weitere Überlegung. Aurian blickte zu ihrem Gefährten hinüber, und die beiden Magusch teilten ein leicht gequältes Grinsen. »Glaubst du, wir schaffen es allein?« Anvars Worte waren eine Herausforderung.

»Warum nicht!« Aurian zuckte mit den Schultern. »Außerdem werden die Himmelsleute in Kürze zurück sein – wenn auch nur, um uns ein Denkmal zu errichten!«

Anvar kicherte. »Na, dann los. Was ist dir lieber? Den Schild aufrechtzuhalten oder Steine zu schleppen?«

»Der Schild«, sagte Aurian entschieden. »Da ich den Stab der Erde habe, habe ich mehr Kraft, um das Gewicht dieser Felsen über uns zu tragen.« Trotz ihrer Worte blickte sie zweifelnd hinauf zu den Tonnen von Gestein, das gefährlich über ihren Köpfen hing. »Das letzte, was wir wollen, ist doch, daß dieser ganze verdammte Berg auf uns runterfällt – was ist los?« Sie hatte einen Blick auf Anvars erschrockenes Gesicht erhascht.

»Nichts«, murmelte Anvar. »Ich mußte nur gerade an das letzte Mal denken, als ich hier unten war …« Er schauderte. »Wir können von Glück sagen, daß die Moldan tot ist.«


»Halt durch … nur noch einen Augenblick …« Anvars Stimme war hart vor Anstrengung, und Aurian, die das Gefühl hatte, das gesamte Gewicht des Berges auf ihren zitternden Schultern zu tragen, wußte genau, wie ihm zumute war. Der große, schräg verkeilte Felsblock, den Anvar aus den übrigen Steinen in seiner Umgebung herausgelöst hatte, schwankte auf seinem Sockel hin und her und begann sich langsam aufzurichten, getrieben von der schieren Willenskraft des Magusch. Aurian sah zu, wie ihr Seelengefährte sich an den heikelsten Teil der Operation machte, nämlich die massiven Steine genau in die richtige Position zu manövrieren, um das eingesackte Tunneldach zu stützen. Beinahe geschafft und …

»Herr! Herrin!« Der Klang eiliger Schritte hallte durch den Tunnel, schnitt wie eine Klinge durch Aurians angespannte Konzentration und zerstörte das delikate Gleichgewicht einander widerstrebender Kräfte, das Anvar benutzte, um den Felsblock zu bewegen. Die große Steinplatte fiel krachend vornüber, und gerade einen Sekundenbruchteil, bevor das Dach auf sie herunterstürzte, riß Aurian ihren brüchig gewordenen Schild wieder hoch und spürte, wie Anvar das ganze Gewicht seiner Kraft der ihren hinzufügte. Nach einem einzigen schnellen Blickwechsel flohen sie zurück durch den Tunnel, den sie mit so großer Mühe geöffnet hatten, und prallten mit dem Boten zusammen – wer immer es auch sein mochte. Aurian griff nach einem durch die Luft schlagenden Arm und zerrte den Himmelsmann hinter sich her, bis sie kurz darauf alle drei aus dem Tunnel heraus und in helles Tageslicht traten. Hinter ihnen war ein donnerndes Krachen zu hören, und lose Steine stürzten die zerstörten Wände des Tempels hinunter, während der Boden unter ihnen zu zittern begann. Dann hörte man nichts mehr außer Stille – und sah nichts mehr außer der Staubwolke, die aus dem dunklen Schlund des Tunnels stieg und das fahle Licht des frühen Tages verfinsterte.

»Du verdammter Narr!« fauchte Aurian und stürzte sich auf den glücklosen, bebenden Boten. »Du hättest uns um ein Haar alle umgebracht.« Ohne auf die gestammelten Entschuldigungen des Himmelsmannes zu achten, sah sie sich nach Cygnus um, der wirklich mehr Verstand hätte haben müssen, als irgendwelche Leute in den Tunnel hineinschlendern zu lassen, solange dort magische Kräfte am Werk waren. Sie war sicher, einen flüchtigen Blick auf ihn erhascht zu haben, als sie aus dem Tunnel getreten war, aber jetzt war er verschwunden – wahrscheinlich würde er so lange unauffindbar bleiben, bis sie und Anvar es geschafft hatten, ihre schlimmste Wut anderweitig abzureagieren.

Anvar, in dessen blauen Augen eisiger Zorn stand, blickte in die Mündung des Tunnels und versengte die Luft mit Flüchen. Dann legte er Aurian einen Arm um die Schultern und seufzte erbittert. »Das wär’s wohl«, murmelte er. »Da unten werden wir jetzt nichts mehr finden, ohne den ganzen Berg abzutragen.«

Aurians Mut sank. »Nun ja, es war ohnehin nur eine winzige Hoffnung, daß wir da unten wirklich etwas finden würden, das uns zum Flammenschwert führen könnte. Irgendwie werden wir es schon schaffen, Liebster.«

»Wir müssen«, pflichtete Anvar ihr grimmig bei. »Wir haben keine andere Wahl.«

Hand in Hand standen die beiden da und spähten verdrossen zu der dunklen Mündung des zusammengebrochenen Tunnels hinüber. Nach einer Weile bemerkte Aurian den geflügelten Boten, der sich immer noch ängstlich in ihrer Nähe hielt und eindeutig versuchte, genug Mut zusammenzuraffen, um die Aufmerksamkeit (und wahrscheinlich den Zorn) der beiden Magusch zu erringen. Seufzend drehte sich Aurian zu dem Himmelsmann um. »Na und?« blaffte sie. »Spuck es aus, Mann! Was ist so schrecklich wichtig, daß du unser aller Leben dafür riskieren mußtest?«

Der Bote erbleichte unter ihrem vernichtenden Blick. »Herrin«, sprudelte er vor. »Hier ist jemand aus Incondors Turm, der Euch sehen möchte. Sie besteht darauf, auf der Stelle mit Euch zu reden.«

»Sie?«

Anvar runzelte verblüfft die Stirn. »Im Augenblick ist nur eine einzige Sie im Turm, wenn man die Xandim nicht mitzählt, und das ist Nereni. Aber sie würde doch nicht einmal im Traum daran denken …«

»Es muß Nereni sein«, unterbrach ihn Aurian. »Wer sonst könnte zu uns nach Aerillia kommen? Es könnte natürlich eine der Xandim-Frauen sein, denke ich – aber ich bezweifle, daß Parric eine Fremde zu uns schicken würde. Aber wenn es Nereni ist, und wenn sie tatsächlich diesen ganzen Weg geflogen ist, und das auch noch allein, dann muß es sich um etwas Dringendes handeln. Wir sollten besser gehen und feststellen, was sie will.«


Nereni schlang taube Finger um das dünne Metall des Kelchs und nahm einen weiteren Schluck von dem warmen gewürzten Wein, in der Hoffnung, daß ihre Hände dann endlich aufhören würden zu zittern. Der Mut der Verzweiflung, der sie so weit getrieben hatte, drohte ihr langsam, aber sicher zu entgleiten. Die Reise durch die Luft in dem hauchdünnen, schwingenden Netz war ein Alptraum gewesen, der ihre furchtbarsten Phantasien in den Schatten gestellt hatte. Zu Anfang war es ihr gar nicht so schlimm erschienen, solange die Dunkelheit noch ihre Umgebung unsichtbar machte und ihre Gedanken ganz und gar ausgefüllt waren mit dem Zorn über ihren unvernünftigen, maultierstörrischen Ehemann und der kalten schrecklichen Furcht, daß Eliizar sie wirklich zwingen würde, sich zwischen ihm und Aurian zu entscheiden – den beiden Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte. Schließlich jedoch hatte das Unbehagen in der eiskalten Luft sie von ihren Sorgen abgelenkt. Dann hatte der Sonnenaufgang ihre geflügelten Träger eingeholt und Nereni, die unklugerweise hinuntergeschaut hatte, war ein schwindelerregender Blick auf gezackte Gipfel zuteil geworden, die so weit – so entsetzlich weit – unter ihr lagen. An dieser Stelle hatte sie sowohl ihr Unbehagen als auch ihre Sorgen vergessen und einfach nur die Augen geschlossen und angefangen zu beten.

Der Alptraum hatte ein jähes Ende gefunden, als sie unsanft auf einer harten Oberfläche abgesetzt wurde. Leise Verwünschungen vor sich hin murmelnd, öffnete Nereni die Augen und stellte fest, daß sie sich auf einem schmalen Balkon ohne jegliches Gitter befand. Auf der einen Seite lag eine gewaltige Masse kunstvoll behauener Steine, die sich als die Mauer eines Turms erwiesen. Auf der anderen Seite … Nereni unterdrückte ein Keuchen und riß ihren Blick schnell von der scheinbar endlosen Schlucht los.

Eine hohe gewölbte Tür aus zerbeultem Kupfer führte vom Balkon in den Turm hinein. Einen Augenblick lang verwirrte Nereni die ungewöhnliche Konstruktion, denn Metalltüren mußten doch schwer sein, sperrig und kalt, aber dann wurde ihr klar, daß Holz auf diesen kahlen Gipfeln wahrscheinlich sehr rar war, während man im Gerippe der Berge sicher problemlos Metall abbauen konnte. Einer ihrer geflügelten Träger zeigte mit einer spöttischen Verbeugung und einem Grinsen, das Nereni ihm am liebsten aus seinem selbstgefälligen Gesicht geschlagen hätte, auf die Tür. Jetzt ärgerte sie sich darüber, daß sie ihn hatte sehen lassen, wie sehr der Flug sie erschreckt hatte. Der andere Himmelsmann erwies sich jedoch als freundlicher. Er tätschelte ihr tröstend den Arm und befreite sie, nachdem er sich zwischen Nereni und den Rand des Abgrunds gestellt hatte, aus den Maschen des Netzes. Dann half er ihr, sich hinzustellen – auf eingefrorene Füße, in denen genausoviel Gefühl war wie in zwei Eisblöcken. Schwer auf seinen Arm gestützt, humpelte sie, so schnell sie konnte, in die Kammer jenseits der Landeplattform, stolperte, als ihr Führer ihren Arm losließ – und fuhr erschreckt zusammen beim Anblick der gewaltigen schwarzen Gestalt, die aus dem Schatten auf sie zuschoß.

»Shia!« rief Nereni überglücklich. Es schien so lange her zu sein, daß sie sie große Katze das letzte Mal gesehen hatte – nicht seit jener entsetzlichen Nacht, in der der schwache Prinz Harihn, dessen Geist von dem bösen Zauberer Miathan beherrscht worden war, seine Soldaten auf den Turm von Incondor gehetzt hatte. Um ehrlich zu sein, hatte Nereni, als Shia aus dem Turm geflohen war, um den kostbaren Erdenstab in Sicherheit zu bringen, keinen Augenblick geglaubt, die Katze jemals wiederzusehen. Jetzt schämte sie sich für ihre Zweifel und bückte sich, um Shia zu umarmen, während die Katze ihren riesigen Kopf an ihrer Hüfte rieb und die kleine Frau beinahe umgeworfen hätte.

»Du hast es geschafft!« rief Nereni. »Du wundervolles, tapferes Geschöpf – wie ist es dir nur gelungen? Den Stab so viele Wegstrecken zu tragen, durch Kälte und Hunger und größte Härten …« Ihre Stimme verlor sich, als sie plötzlich ihre Umgebung wahrnahm – und zwei weitere große Katzen, die den größten Teil des Platzes innerhalb der Kammer einzunehmen schienen. Eine der Katzen hatte sich in tiefem Schlaf zusammengerollt, auf einem mit einer Daunendecke versehenen kreisförmigen Ding, das die Himmelsleute wohl als Bett benutzten, während die andere Katze in der Nähe saß und Nereni beobachtete, die funkelnden goldenen Augen rund vor Neugier.

Die kleine Frau erstarrte, und ihr Herz hämmerte wie wild – dann warf Shia ihr einen fragenden und einigermaßen entrüsteten Blick zu, bevor sie ihren Kopf an dem der anderen Katze rieb. Nereni kam sich ziemlich töricht vor, als sie endlich begriff, daß diese ehrfurchtgebietenden Tiere Freunde von Shia waren und daß sie von ihnen nichts zu befürchten haben würde. Nichtsdestoweniger fühlte sie sich sicherer, wenn sie ihnen nicht zu nahe kam. Shia war eine alte, vertraute Kameradin, doch diese fremden, wilden und undurchschaubaren Tiere konnten ganz anders sein – und Nereni war vollkommen allein mit den Katzen. Von Aurian und Anvar war nichts zu sehen.

Nereni, die plötzlich zutiefst verunsichert war, fragte sich, was sie als nächstes tun sollte. Ihre geflügelten Träger, die offensichtlich Angst vor den Katzen hatten, hatten sich hastig zurückgezogen. Hilflos sah die kleine Frau Shia an und wünschte, sie könnte mit der Katze sprechen, wie Aurian und Anvar es taten. »Also, was soll ich jetzt tun?« murmelte sie.

Sie brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten – nur gerade lange genug, um sich mit den Zutaten, die sie neben dem Ofen fand – der einzigen Wärmequelle in der Kammer – ein wenig Wein zu wärmen. Während sie dort saß und versuchte, ihren schwindenden Mut wiederzufinden, hörte Nereni das dumpfe Schlagen von Flügeln draußen und den Aufprall, der ihr verriet, daß jemand auf der Plattform gelandet war. Shia fauchte laut und lange, und in ihren Augen funkelte ein bedrohliches Licht, als die Tür aufsprang und Rabe eintrat.

Das geflügelte Mädchen sah ganz anders aus als das verwahrloste Kind in dem geflickten Rock, halb Frau, halb Kind, an das Nereni sich erinnern konnte. Jetzt trug Rabe eine üppige glutrote Robe von raffiniertem Schnitt, der ihre Flügel und ihre übrigen Gliedmaßen frei ließ, damit sie fliegen konnte. Auf ihrem dunklen, lockigen Haar prangte eine Krone aus sanft funkelndem Blattgold. Unübersehbare Linien des Kummers gaben ihrem Gesicht eine unerwartete Reife, und hinter ihren Augen lauerte der Schatten einer bitteren Traurigkeit, die niemals vergehen würde.

Einen Augenblick lang spürte die mütterliche Frau, wie ihr Herz sich vor Mitleid zusammenkrampfte angesichts des Leides in den Zügen des jungen Mädchens. Dann mußte sie wieder an Eliizar denken, der verletzt und eingekerkert in dem dunklen Verlies unten in Incondors Turm gelegen hatte. Sie erinnerte sich auch an die Qualen, die Bohan ausgestanden hatte, angekettet an die Wand, seine Handgelenke eine schwärende Masse blutiger Wunden unter seinen Fesseln. Sie dachte an die arme Aurian, die inmitten von Angst und Aufruhr ihr Kind zur Welt bringen mußte, und schauderte bei dem Gedanken an den Augenblick absoluten Entsetzens, als die Realität sich verzerrt und das Kind der Magusch seine Gestalt in Nerenis Händen verändert hatte. Die Lippen der kleinen Frau wurden schmal. Als Rabe einen zögernden Schritt auf sie zu tat, offensichtlich unsicher, wie sie willkommen geheißen würde, hob Nereni die Hand und schlug dem geflügelten Mädchen mit aller Kraft ins Gesicht.

Rabe nahm den Schlag entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl in ihren großen dunklen Augen Tränen standen. »Mir wäre es lieber, du würdest mich hundertmal schlagen, Nereni, als mich mit einer solchen Verachtung in den Augen anzusehen.« Die Stimme des geflügelten Mädchens zitterte und verriet solche Qual, daß Nerenis Herz um ein Haar weich geworden wäre – hätten nicht die Ereignisse der vergangenen Monate die kleine Frau so sehr verändert, daß sie sich kaum selbst wiedererkannte. »Glaubst du denn, daß du irgend etwas anderes als Verachtung verdient hast?« gab sie unumwunden zurück. »Ich habe dich geliebt wie eine Tochter, Rabe, aber du hast mich ohne zu zögern verraten und hättest mich sterben lassen – und Eliizar und Bohan mit mir.«

»Nein!« keuchte Rabe. »Harihn hat es mir versprochen! Ich wußte nicht …«

»O doch, das hast du«, fuhr Nereni unerbittlich fort. »Du hättest es besser wissen müssen – und du hast es auch gewußt, tief in deinem Herzen, daß du dich auf das Wort Harihns nicht verlassen konntest – das Wort eines Fremden –, der dir wichtiger war als die Sicherheit derer, die dich liebten und für dich sorgten, als du allein und voller Angst warst. Hätte der Prinz nicht Verwendung gehabt für Bohan, Eliizar und mich, wir wären auf der Stelle niedergemetzelt worden – und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, gab dir das noch lange nicht das Recht, die Magusch an ihre Feinde zu verraten. Denn welches Schicksal ihnen bevorstand, wußtest du ganz genau!«

Rabe wand und krümmte sich unter Nerenis anklagendem Blick. »Aber mein Volk litt, und die Magusch wollten mir nicht helfen …«

»Du törichtes Mädchen!« schnaubte Nereni. »Natürlich hätten sie dir geholfen – sobald Aurians Kräfte zurückgekehrt wären. Du warst nicht die einzige, die zu dieser Zeit in Schwierigkeiten steckte, erinnerst du dich? Wenn du nur deinen gesunden Menschenverstand benutzt hättest, statt dich wie ein verwöhntes, verdorbenes kleines Kind …« Weiter gelangte sie nicht, denn ihre Worte gingen in Rabes hemmungslosem Weinen unter.

»Verzeih mir …«, schluchzte das geflügelte Mädchen.

»Warum sollte ich?« fuhr Nereni sie an.

Rabe holte zitternd Luft. »Weil du die einzige Mutter bist, die ich noch habe …«

Als sie Rabes gequälte, flehende Worte hörte, wurde Nereni mit einem Mal bewußt, daß sie dem Schmerz und der Angst der vergangenen Monate erlaubt hatte, zuviel Macht über sie zu gewinnen. Verspätet fiel ihr ein, daß Rabe für die Konsequenzen ihrer Torheit schweres Leid erfahren hatte, denn der böse Hohepriester hatte das Mädchen nicht nur grausam und entsetzlich verstümmelt, er hatte außerdem auch seine Mutter getötet.

Schließlich triumphierten Nerenis mütterliche Instinkte über ihren Zorn – und, wie sie ein wenig kläglich dachte, wahrscheinlich auch über ihren gesunden Menschenverstand. Sie seufzte und legte ihre Arme um das weinende Mädchen. »Na, na«, murmelte sie mit rauher Stimme. »Wir können doch nicht zulassen, daß die Königin der Geflügelten flennt wie ein verirrtes Kälbchen! Komm, trockne deine Tränen, Kind. Vergiß nur niemals, daß du nicht die einzige bist, die unter den Folgen deiner Torheit zu leiden hatte! Bemüh dich, deine Fehler wiedergutzumachen, dann wirst du feststellen, daß dir die Leute mit der Zeit verzeihen – und schließlich wirst du vielleicht sogar in der Lage sein, dir selbst zu verzeihen.«

»Schöne Worte, Nereni – wenn auch ein wenig optimistisch!« Nereni erschrak, als sie Anvars Stimme wiedererkannte. Die beiden Magusch waren unbemerkt hinzugetreten und standen nun im Eingang. Die Frau sah, wie Rabe unter Anvars steinernem Blick zusammenzuckte, und erschauerte. Hier war jedenfalls einer, der dem geflügelten Mädchen nicht so bald verzeihen würde! Rabe, die Anvars Feindseligkeit spürte, verabschiedete sich hastig und verließ die Kammer.

»Nereni!« Alle Kälte wich aus Anvars Augen, als er einen Schritt vortrat, um sie zu umarmen. Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte Nereni fest, daß sein altes, breites Grinsen zurückgekehrt war. Wie glücklich sie war, ihn in Sicherheit und wohlauf zu sehen! Und zumindest hatten die Schrecknisse, die er erlebt hatte, den Magusch nicht vollkommen verbittert. Nein, dachte Nereni, es ist nur Rabe, die er haßt, und zwar mehr wegen der Dinge, die Aurian und ihrem Kind angetan wurden, als wegen seiner eigenen schlimmen Erlebnisse.

»Aber was in aller Welt hat dich hierhergeführt?« erkundigte sich Aurian ängstlich, als sie nun ihrerseits die kleine Frau in die Arme nahm. Als ihr der Ernst ihrer Mission wieder einfiel, fühlte Nereni sich auf seltsame Weise getröstet von der Unerschütterlichkeit der beiden Magusch. »Es geht um Eliizar«, stieß sie hervor. »Aurian – er will, daß wir euch verlassen!«

Stück um Stück kam nun die ganze Geschichte heraus. Aurian, die Hand in Hand mit einem ernst dreinschauenden Anvar vor ihr saß, runzelte die Stirn. »Was? Er will heute aufbrechen, ohne dir auch nur die Gelegenheit zu geben, uns Lebewohl zu sagen?«

Nereni nickte. »Jharav und seine Leute haben Vorbereitungen getroffen, heute morgen in Richtung Wald aufzubrechen. Jetzt werden sie wahrscheinlich schon nach mir suchen …« Sie versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen. Angesichts des zornigen Funkeins in Aurians Augen rutschte Nereni unbehaglich auf dem zerbrechlichen Hocker hin und her, der für die Möbelstücke der Himmelsleute ein typisches Beispiel war, und kämpfte mit dem unangenehmen Gefühl, Verrat an ihrem Mann zu begehen. »Eliizar hat Angst«, versuchte sie, ihn zu entschuldigen. »Krieg und Entbehrung, das sind Dinge, mit denen kann er umgehen, aber Hexerei …« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Etwas an eurer Magie raubt ihm seinen Mut und seine Kraft – vor allem nach dem, was mit dem Kind geschehen ist –, so daß er seine Furcht hinter Zorn und Gepolter verbirgt. Was soll ich nur tun, Aurian?« flehte sie. »Ich liebe Eliizar – ich kann ihn nicht verlassen, nicht um alles in der Welt –, aber wie könnte ich dich und Anvar im Stich lassen, nachdem ich euch doch ebenfalls so sehr lieb gewonnen habe? Ich fühle mich so zerrissen …«

Aurian kniete neben ihr nieder und griff nach Nerenis Händen. »Was möchtest du denn tun?« fragte sie.

»Ich möchte, daß wir alle zusammenbleiben«, erwiderte Nereni einfach. »Ich möchte, daß ihr mit mir zurückkehrt und Eliizar diesen Unsinn ausredet.«

Anvar hatte dem Gespräch mit wachsendem Unwillen zugehört. Er wollte Eliizar und Nereni nicht als Kameraden verlieren, aber je mehr er über die Alternativen nachdachte … »Nereni, bist du sicher?« fragte er besorgt. »In gewisser Hinsicht hat Eliizar recht. Es wäre sicherer für euch, wenn ihr mit euren Landsleuten in den Wald zurückkehren würdet. Da, wo wir hingehen, wird es ganz bestimmt neue Kämpfe geben – und so, wie ich Eliizar kenne, wird er dann ganz bestimmt mitten drin sein. Willst du dieses Risiko wirklich auf dich nehmen? Wenn ihm irgend etwas zustoßen sollte, was würde dann aus dir werden, einsam und allein in einem fremden Land?«

»Nun, dann würden wir uns natürlich um sie kümmern!« Aurians Stimme war schroff vor Empörung.

»Solange wir dazu in der Lage sind«, sagte Anvar düster. »Es gibt keinerlei Garantien, daß wir selbst überleben werden. Und was ist mit Eliizars Angst vor Magie? Sobald wir nach Nexis zurückkehren, ist das nämlich genau das, worum es bei diesem Kampf gehen wird.«

»Soll das heißen, du willst, daß wir gehen?« fragte Nereni mit leiser Stimme, in der mühsam zurückgehaltene Tränen zitterten.

Anvar haßte sich dafür, die Hoffnung zerstören zu müssen, die seine Seelengefährtin in das Herz der kleinen Frau gepflanzt hatte. Aber so war es am besten … »Ja«, erwiderte er schonungslos. »Das will ich.«

»Anvar – aber warum?« Bis auf diesen einen gequälten Satz war Nereni ausnahmsweise bis zur Sprachlosigkeit entsetzt. Der Schmerz in ihrem Gesicht ließ Anvar zurückprallen. Aurian funkelte ihn auf eine Weise an, als wolle sie ihm das Fleisch von den Knochen streifen. »Anvar – was tust du da, verdammt noch mal?« Ihre Gedankenstimme hallte schrill in seinem Kopf wider.

Anvar seufzte. »Das wäre das beste für Eliizar und Nereni.« Seine eigene Gedankenstimme klang vor Kummer gedämpft. »Es mag nicht das sein, was du dir wünschst, oder das, was Nereni und ich uns wünschen – aber bedenke doch die Alternativen, Aurian. Das ist ihre größte Chance, diese ganze Sache zu überleben.«

Aurian biß sich auf die Lippen. Anvar konnte sehen, wie sehr es sie danach verlangte, seinen Argumenten zu widersprechen, aber … »Verflucht, du hast recht«, sagte sie leise zu ihm und wandte sich ab – aber nicht schnell genug, um das Glitzern von Tränen in den Augen vor ihm verbergen zu können. Als sie sich jedoch wieder zu Nereni umdrehte, hatte sie ihre Gefühle vollkommen unter Kontrolle. »Anvar und Eliizar haben recht«, sagte sie entschlossen. »Ich werde dich so sehr vermissen, liebste Freundin, aber wir müssen an eure Zukunft denken. Sobald unsere Mission erfüllt ist …«

»Lüg mich nicht an, Aurian!« brauste Nereni auf. »Wir werden uns nie wiedersehen.« In ihren Augen stand ein zorniges Funkeln. »Der Schnitter verfluche dich – ich bin zu dir gekommen, weil ich mir deine Hilfe erhofft habe – und nicht das! Bedeuten wir dir denn gar nichts mehr? Eliizar und ich waren gut genug, um dir durch die Wüste zu helfen und durch die Berge, die dahinter lagen – und im Wald hattest du ebenfalls Verwendung für uns, als es darum ging, Vorräte anzulegen und Kleider zu nähen …« Nerenis Stimme brach fast vor Erbitterung. »Aber jetzt, da deine anderen Freunde aus dem Norden hergekommen sind, willst du uns nicht länger um dich haben!« Sie brach in Tränen aus.

»Nereni, das ist nicht wahr!« rief Aurian.

»Das ist es ganz bestimmt nicht.« Anvar sprang auf die Füße und wollte einen Arm um die Schultern der kleinen Frau legen, die ihn trotz seiner beharrlichen Versuche abschüttelte. »Nereni – hör mir zu«, sagte er. »Aurian und ich werden weit nach Norden reisen, über den Ozean hinweg, und uns stehen Gefahren bevor, die viel größer sind als alles, was wir bisher erlebt haben. Ehrlich, wenn es an mir läge …« Er lächelte kläglich. »Nun, wenn auch nur die geringste Chance auf Erfolg bestünde, würden Aurian und ich auf der Stelle mit euch in den Wald zurückkehren, um uns in Frieden ein neues Leben aufzubauen. Aber das ist unmöglich. Wir müssen weitermachen, müssen uns Härten und Gefahren stellen – aber es würde uns sehr helfen zu wissen, daß wenigstens einige unserer Kameraden in Sicherheit sind.«

»Aber ihr braucht mich«, protestierte Nereni. »Wer wird sich um euch kümmern? Ich werde ganz krank vor Sorge sein – und was ist mit dem Kind …«

»Wolf ist ein weiterer Grund, warum du gehen solltest«, sprach Aurian sanft auf sie ein. »Du weißt doch, mit welchem Entsetzen Eliizar das arme Kind betrachtet.« Ihre Augen funkelten bei diesem Gedanken, aber sie brachte sich mit einem tiefen Atemzug rechtzeitig unter Kontrolle. »Das ist natürlich nicht Eliizars Schuld. Du weißt, daß Wolf als ein normales menschliches Kind geboren wurde – du warst dabei –, aber Eliizar hat ihn nie so gesehen, wie er am Anfang war. Er möchte nicht, daß du irgend etwas mit dem Baby zu tun hast, und ich möchte mich nicht zwischen euch stellen. Außerdem«, fuhr die Magusch schmeichelnd fort, »wirst du so viele Leute haben, um die du dich kümmern kannst, daß du gar keine Zeit haben wirst, dir übermäßige Sorgen um Anvar und mich zu machen. Die überlebenden Soldaten sowie Harihns Gefolge sind im Wald zurückgeblieben. Es sind genug Leute da, um eine blühende kleine Kolonie aufzubauen. Und die wird Führer brauchen, Nereni. Wenn Anvar und ich durchkommen und der Welt den Frieden zurückbringen, wird es in Zukunft eine ungeheure Hilfe für uns sein, Verbündete im Süden zu haben.« Sie lächelte. »Du wirst sehen, das nächste Mal, wenn wir uns treffen, kehren wir zurück, um den König und die Königin des Waldes zu besuchen!«

»Jawohl – wenn wir alle so lange leben«, erwiderte Nereni säuerlich, aber der Zorn war aus ihrer Stimme gewichen, und Anvar hoffte, daß sie sich vielleicht doch langsam für die Idee, mit den anderen zurückzubleiben, würde erwärmen können.

»Du tust es also?« drang er in sie. »Für uns?«

»Habe ich eine Wahl?« fuhr Nereni ihn an.

Aurian legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Natürlich hast du eine Wahl«, sagte sie. »Wenn du wirklich mit uns kommen willst, geht das für mich in Ordnung – aber ich habe so das Gefühl, daß du es ohne Eliizar tun müßtest. Ist das wirklich das, was du willst?«

Nereni verbarg, solchermaßen besiegt, ihr Gesicht in den Händen. »Nein«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Anvar sah eine einzelne Träne zwischen ihren Fingern hindurchsickern. Aurian, die ebenfalls Tränen in den Augen hatte, kniete nieder, um die Frau zu umarmen, die ihr an so vielen schweren Tagen eine treue Freundin gewesen war. »Es wird schon alles gut werden«, murmelte sie. »Es ist das beste so – du wirst sehen. Und das nächste Mal, wenn wir uns treffen, sind all diese Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt, und Wolf wird wieder ein menschlicher Junge sein …« Sie drehte sich zu Anvar um. »Würde es dir etwas ausmachen, uns einen Augenblick allein zu lassen, Anvar? Wenn du Rabe herholen lassen würdest, damit wir uns von ihr verabschieden können, könnten wir auch dafür sorgen, daß Nereni zurückgebracht wird.«

»Ich kümmere mich darum«, erwiderte Anvar. »Wir sollen uns besser beeilen. Eliizar wird …«

»Eliizar wird kein Wort sagen«, unterbrach ihn Aurian. »Nicht, nachdem ich mit ihm gesprochen habe, ganz bestimmt nicht!«

»Dann gehst du also auch mit?«

»Ja – um mit Parric zu reden. Außerdem würde ich mich gerne von Eliizar verabschieden und Wolf holen. Willst du auch mitkommen?«

»Und ob ich das will.«

Nachdem der Magusch den Raum verlassen hatte, achtete er sorgfältig darauf, seine Gedanken vor seiner Seelengefährtin abzuschirmen. Er wollte Aurian nicht über Gebühr beunruhigen, aber … Außerdem mußte Anvar unbedingt mit Eliizar reden – um eine Warnung weiterzugeben.

Der Besitz der Windharfe hatte Anvar ein übernatürliches Bewußtsein für Wettermuster beschert, und zwar über große Entfernungen hinweg. Als die Magusch der Welt den Frühling zurückgaben, hatte es dabei eine unglückliche Nebenwirkung gegeben, die Aurian nicht bewußt geworden war. Die tödlichen Sandstürme über der Edelsteinwüste waren völlig zum Erliegen gekommen. Mit einem Schaudern erinnerte sich Anvar an Xiang, den grausamen tyrannischen König der Xandim. Als die beiden Magusch seinen Fängen zusammen mit seinem Sohn Harihn entkommen waren, hatte Aurian es geschafft, den König so in Angst und Schrecken zu versetzen, daß er sie nicht verfolgte. Mittlerweile jedoch, so glaubte Anvar, mußte sich die Furcht gelegt haben. Xiang war ein rachsüchtiger Mann – es schien undenkbar, daß er nicht versuchen würde, ihnen früher oder später nachzusetzen. Und jetzt, da die Wüste wieder sicher war, war der Weg nach Norden frei – und führte direkt durch das große bewaldete Tal, in dem Eliizar und die anderen sich ansiedeln wollten. Wenn Xiang kommen sollte … Anvar schauderte. Jemand mußte Eliizar warnen.


Weiche Wogen morgendlichen Nebels drifteten um den Sockel von Incondors Turm. Das Klirren der Gebisse und das ungeduldige Aufstampfen von Pferdehufen schallten weit durch die kühle, feuchte Luft, während tief in ihre Umhänge gehüllte Gestalten mit gedämpften Stimmen in der frühmorgendlichen Stille hin und her liefen, um die letzten Vorkehrungen für ihre Abreise zu treffen. Andere wie Jharav, der alte Hauptmann der Khazalim, hatten die Dinge besser organisiert als ihre säumigen Kameraden und saßen nun schon ungeduldig wartend auf ihren Pferden. Am Rande des kleinen Wäldchens, fernab von der aufgeregten Hektik im Turm, wurden traurige Abschiedsworte gewechselt.

»Es tut mir so leid, daß du nicht mit uns kommen kannst – aber ich verstehe deine Gründe.« Anvar drückte Eliizars Hand. »Gute Reise, mein Freund. Paß auf dich auf – und auf Nereni.« Mit diesen Worten blickte er hinüber zu der kleinen Frau, die ganz in ihrer Nähe in ein Gespräch mit Aurian vertieft war. »Du hast eine ganz besondere Frau, Eliizar. Wenn du in den vor euch liegenden Tagen herausfindest, daß sie voller Überraschungen steckt, versuch zu verstehen, wie sehr sie sich in diesen letzten harten Monaten verändert hat.« Der Magusch grinste trocken. »Es ist seltsam – aber das gemeinsame Umherwandern mit Aurian hat anscheinend immer eine solche Wirkung auf die Leute.«

Eliizar schüttelte kläglich den Kopf. »Es wird mir sicher nicht leichtfallen, mich an die Veränderung zu gewöhnen. Wie sie einfach davongegangen ist, ganz allein, nach Aerillia – ausgerechnet meine furchtsame Nereni! Aber wie könnte ich böse auf sie sein?« Hilflos breitete er die Hände aus. »Ich hatte solche Angst, daß ihr etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte oder …« Anvar konnte den Kampf in seinen Zügen sehen, als er versuchte, seine nächsten Worte auszusprechen. »Oder daß sie mich verlassen hätte wegen meiner Feigheit«, fuhr der Schwertmeister leise fort.

Anvar legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du bist kein Feigling, Eliizar«, versicherte er dem älteren Mann. »Es gehört eine große Portion Mut dazu, seinen Ängsten ins Gesicht zu sehen, wie du es getan hast. Und unglücklicherweise bin ich davon überzeugt, daß du immer noch eine Rolle in den vor uns liegenden Kämpfen zu spielen hast.« Er hatte die erste Gelegenheit genutzt, um Eliizar beiseite zu nehmen und dem Schwertmeister von seinen Befürchtungen bezüglich eines Angriffs des rachsüchtigen Khazalim-Königs zu berichten.

Nun nickte Eliizar ernst – aber in seinem gesunden Auge stand ein Zwinkern, und Anvar war sicher, daß sich der alternde Krieger auf die Aussicht eines neuen Kampfes freute. »Ich werde deine Warnung nicht vergessen«, versicherte er dem Magusch. »Wenn er von der Wüste heranzieht, muß Xiang seine Armee durch unser Tal führen – eine ausgesprochen schmale Schlucht.« Er bleckte die Zähne und zeigte ein unbarmherziges Grinsen. »Wir mögen ihnen zwar zahlenmäßig unterlegen sein, aber unser Wald ist wie geschaffen für einen Hinterhalt – wir werden es mit ihnen aufnehmen, gleichgültig, wie viele sie sind! Wenn Xiang anrückt, werden wir ihm ein Willkommen bereiten, das er so bald nicht vergißt!«

»Du bist ein guter Mann, Eliizar!« Anvar schlug ihm auf den Rücken. »Vergiß aber nicht, daß zwei geflügelte Boten bei euch bleiben. Falls ihr also irgendwelche Schwierigkeiten habt, schickt einen Hilferuf nach Aerillia …«

»Wir brauchen keine Hilfe von diesen geflügelten Verrätern«, prahlte der Schwertmeister stolz. Wie Anvar fiel es ihm ausgesprochen schwer, Rabes Verrat zu verzeihen – aber der Magusch wollte auf keinen Fall, daß Eliizars Abneigung gegen die Himmelsleute ihn eines Tages sein Leben kostete.

»Hör mir jetzt gut zu«, begann Anvar mit fester Stimme. »Ihr werdet zahlenmäßig unterlegen sein, Eliizar, und zwar ganz deutlich. Laß dich von deinem Stolz nicht in die Irre führen …« Als Aurian sich näherte, brach er abrupt ab. Es lag ihm überhaupt nichts daran, daß sie sich auch noch wegen dieser Sache ängstigte. Glücklicherweise sprudelte Nereni gerade in diesem Augenblick einen Strom allerletzter Anweisungen hervor, die seine Worte übertönten.

»Und sieh zu, daß das kleine Kerlchen nicht naß wird«, sagte sie. »Und vergiß nicht, ihn warmzuhalten, Aurian – sag diesem Bohan, er soll ja aufpassen, daß der Kleine keinem Zug ausgesetzt wird. Und …«

»Mach dir keine Sorgen, Nereni«, protestierte Aurian mit einem Lächeln. »Er ist ein Wolf, vergiß das nicht – ein zähes kleines Ding! Aber keine Angst – wir werden uns so gut wie nur irgend möglich um ihn kümmern.« Dann wandte sie sich an Eliizar. »Alles fertig zum Aufbruch?«

Der Schwertmeister nickte. Der Abschied war kurz und traurig. Nereni schlang ihre Arme zuerst um Anvar, dann um Aurian, als wolle sie sie nie wieder loslassen, und weinte bittere Tränen. Dann riß sie sich mit dem ersten Fluch von ihnen los, den Anvar jemals von ihr gehört hatte, und rannte, dicht gefolgt von Eliizar, zu den wartenden Reitern hinüber.

Als die beiden ihre Pferde erreichten, sah Anvar eine hagere Gestalt, die immer noch ein wenig hinkte und sich jetzt aus der Traube der Zuschauer löste und Eliizar die Hände auf die Schultern legte, um ihn nach Kriegermanier in die Arme zu schließen. Neben sich hörte der Magusch Aurian vor Erleichterung seufzen. »Yazour hat also schließlich doch nachgegeben«, murmelte sie. »Ich bin ja so froh.«

Auch Anvar freute sich. Yazour hatte Eliizars Trennung von ihrer Gruppe mit tiefer Mißbilligung betrachtet. Er hatte den alten Krieger immer hoch geachtet, und deshalb hatte ihn die Schwäche des Schwertmeisters um so mehr enttäuscht.

Als die Gruppe der Khazalim hügelabwärts davonzog, ging der junge Krieger auf die Magusch zu. »Das wär’s dann also«, murmelte er.

»Yazour – bist du sicher, daß du ohne sie nicht allzu einsam sein wirst?« fragte Aurian. »Jetzt, da Eliizar und Nereni fort sind, hast du alle Landsleute bis auf Bohan verloren. Wenn du deine Meinung ändern und mit ihnen gehen möchtest – nun, Anvar und ich wären furchtbar traurig, dich zu verlieren, aber wir würden es verstehen.«

»Lady, hältst du mich für einen schmollenden Feigling?« Yazour machte ein beleidigtes Gesicht. »Ihr seid meine Kameraden – wo ihr hingeht, da gehe auch ich hin!« Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt steif davon.

Aurian seufzte und legte den Kopf an Anvars Schulter. »Ich mußte es doch sagen, oder?«

»Na ja«, tröstete Anvar sie, »ich glaube, das mußtest du.« Dann schlossen sich seine Arme fester um sie, und er genoß das Gefühl ihrer Nähe. »Yazour fühlt sich nur deshalb unbehaglich, weil Eliizar nicht mehr da ist. Er wird schon darüber hinwegkommen.« Plötzlich befiel ihn ein vages Gefühl von Unbehagen, und er blickte auf und über Aurians Schulter hinweg. Nicht weit von ihnen entfernt, am Rande des Dickichts, stand Parric und beobachtete sie. Der Gesichtsausdruck des kleinen Kavalleriehauptmanns war kalt und hart wie Stein. Als er Anvars Blick auffing, wandte er sich hastig ab und verschmolz mit dem Grün der Sträucher. Ein Schaudern lief das Rückgrat des Magusch hinab, kalt wie ein Finger aus Eis.


Drei Tage nach ihrer wunderbaren Errettung verlangte Hreeza, sehr zur Überraschung von Aurian und Shia, das Kind zu sehen, das ihr das Leben gerettet hatte.

»Bist du sicher?« erkundigte sich die Magusch zweifelnd, die mit Shia am Bett der alten Katze saß. Hreezas Worte hatten ihre Aufmerksamkeit mit jäher Plötzlichkeit erregt, denn Aurian hatte dem gemurmelten Gedankengespräch der beiden Katzen kaum Beachtung geschenkt. Sie hatte über die Ereignisse des vergangenen Tages nachgegrübelt, als sie und Anvar mit Nereni von Rabes geflügelten Trägern zum Turm von Incondor zurückgebracht worden waren.

In sehr kurzer Zeit hatten die Kameraden eine Unmenge von Dingen regeln müssen. Die beiden Magusch hatten Chiamh und Yazour, obwohl diese bitter protestierten, wieder Parrics Streitmächten unterstellt, denn der kleine Kavalleriehauptmann brauchte dringend Übersetzer für die so verschiedenartigen Menschen, die unter seiner Obhut zu der Festung der Xandim zurückreiten sollten. Aurian kicherte leise vor sich hin. Typisch Parric! Nur er konnte es fertigbringen, plötzlich über eine Rasse zu herrschen, deren Sprache er nicht mal beherrschte!

Nachdem sie sich voller Kummer von Nereni und Eliizar verabschiedet hatten, hatten die beiden Magusch dafür gesorgt, daß ihnen zwei geflügelte Kuriere folgten – für den Fall, daß irgendwelche unvorhergesehenen Dinge eintraten. Erst als das alles getan war, hatte Aurian Zeit gefunden, ihr Kind mitsamt seinen wölfischen Pflegeeltern herzuholen – und Bohan zu beschwichtigen, der fest entschlossen war, den kleinen Wölfling nicht mal für kurze Zeit allein zu lassen. Es war ihm jedoch keine andere Wahl geblieben, denn die geflügelten Träger waren nicht in der Lage, einen Menschen seiner enormen Größe zu transportieren. Statt dessen mußte der Eunuch Parric begleiten, und zwar auf dem stämmigen, gleichmütigen Pferd, das ihn schon den ganzen Weg durch die Wüste getragen hatte. Er würde die Magusch in der Feste der Xandim wiedersehen.

Während sich der Kavalleriehauptmann auf die langsamere Reise per Pferd in das Land der Xandim begab, plante die Magusch, nach Aerillia zurückzukehren und die Erdmagie ihrer Mutter zu benutzen, um das Wachstum der neuen Ernte zu beschleunigen, die die Himmelsleute zur Zeit anpflanzten – und außerdem hatte sie noch immer eine Menge Dinge mit Rabe auszutragen. Daneben mußte sie sich mit Anvars fortgesetzter Feindseligkeit gegenüber der frischgekrönten Königin des Himmelsvolkes auseinandersetzen, aber mit der Zeit würde sie auch dieses Problem lösen. Inzwischen galt Aurians Sorge der Frage, wie sie die Pflegeeltern ihres Kindes dazu überreden konnte, ihr Rudel zu verlassen, sich in einem Netz nach Aerillia tragen zu lassen – und, was noch schwieriger war, die geflügelten Träger dazu zu überreden, die Wölfe überhaupt mitzunehmen. Als schließlich alles geregelt war und die beiden Magusch eigentlich in die Stadt des Himmelsvolks zurückkehren konnten, war Aurian so sehr mit den Nerven am Ende gewesen, daß sie sich am liebsten alle Haare einzeln ausgerissen und laut geschrien hätte.

Hreezas Worte verbannten jedoch all diese Dinge aus ihren Gedanken. Die alte Katze schien sich, obwohl sie immer noch den größten Teil der Zeit verschlief, schon weitgehend erholt zu haben, aber vielleicht hatte die böse Erfahrung vor ein paar Tagen ihren Verstand getrübt … Aurian hob fragend eine Augenbraue und sah Shia an, die das gedankliche Gegenstück zu einem Achselzucken zurückgab.

»Ich hätte gedacht«, meinte die Magusch vorsichtig, »daß du für den Augenblick genug hast von allen Himmelsleuten.« Nach dem, was Hreeza durch die uralten Feinde ihres Volkes erlitten hatte, hatte sie bisher mit unverhohlener Feindseligkeit auf alle Geflügelten reagiert, die ihre Kammer betraten.

Shia ging die Sache, wie es für sie so kennzeichnend war, viel direkter an. »Was willst du von dem Balg?« wollte sie wissen. »Sei still, du alte Närrin; du mußt dich ausruhen. Hast du vergessen, daß wir dich um ein Haar verloren hätten?«

»Nein, das habe ich nicht vergessen.« Hreezas Gedankenstimme war zwar schwach und müde, verriet aber doch einen Funken ihres alten Kampfgeistes. »Das ist auch der Grund, warum ich meine Retterin sehen möchte. Wäre dieses geflügelte kleine Mädchen nicht gewesen, wäre ich wirklich zugrunde gegangen, und wie du sehr wohl weißt, Shia, geht es mir gegen den Strich, eine Schuld unbeglichen zu lassen. Ich muß mich bei der Kleinen bedanken – und da es mir zutiefst zuwider ist, einem Sproß dieses geflügelten Abschaums verpflichtet zu sein, möchte ich die unerfreuliche Angelegenheit so bald wie möglich hinter mich bringen.«

»Pah! Mich täuschst du nicht!« erwiderte Shia. »Dazu kenne ich dich zu gut, Hreeza. Du verbirgst etwas vor uns, oder ich will ein Klumpen Xandim-Pferdefleisch sein! Na komm schon – spuck es aus!« Als Hreeza auch weiterhin verstockt schwieg, begann die jüngere Katze von neuem: »Ich werde Aurian nicht erlauben, das Kind holen zu lassen, bevor du mir nicht sagst, was du im Schilde führst.«

Hreeza murmelte irgendwelche unverständlichen Worte, doch sie wußte, wann sie geschlagen war. »Also schön«, gab sie widerwillig nach, »aber du wirst mir nicht glauben.« Sie warf Shia einen herausfordernden Blick zu. »Die Himmelsleute können uns hören, Shia – sie haben die Fähigkeit, unsere Gedankensprache zu verstehen, genau so wie die Magusch!«

Aurian, die diesem Gespräch lauschte, stieß einen verblüfften Ausruf aus, aber Shia schwieg. Sie war zu überrascht, um etwas zu sagen. Nach einem Augenblick hatte sie sich jedoch wieder gefaßt. »Unfug!« brauste sie auf. »Delirium – das ist es gewesen und sonst nichts! Du hast es dir eingebildet!«

»Hab’ ich nicht!« fauchte Hreeza. »Ich habe um Hilfe gerufen, das habe ich dir doch erzählt – und dieses geflügelte Kind hat mich gehört!«

Aurian, der Shias angeborener Haß auf die Geflügelten fehlte, begriff viel schneller als ihre Freundin, welche Möglichkeiten dieses neue Wissen offenbarte. »Aber wenn die beiden Rassen miteinander reden können, dann muß es doch gewiß eine Möglichkeit geben, Frieden zwischen euch zu stiften«, meinte sie vorsichtig.

»Niemals!« zischte Shia. Mit flammenden Augen wandte sie sich an Aurian. »Was ist mit unseren dahingemetzelten Leuten? Hast du so schnell die Felle vergessen, die die Himmelsleute dir und Anvar gegeben haben, damit ihr euch warmhalten konntet? Hast du vergessen, wie Rabe uns betrogen hat und uns beinahe alle umgebracht hätte – einschließlich deines Kindes? Den Geflügelten kann man nicht trauen! Sie sind niedrige, verräterische, mordlustige …«

»Pssst.« Hreezas Stimme setzte Shias fauchender Schimpftirade ein jähes Ende. »Das Abschlachten unseres Volkes hat lange genug gedauert«, erklärte die alte Katze. Mit einem mitleidigen Blick betrachtete sie die sprachlose Shia und seufzte. »In meinem Herzen stimme ich dir voll und ganz zu, meine Freundin – aber mein Kopf sagt mir, daß dieser Krieg zwischen unserem Volk und den Geflügelten aufhören muß. Das Sterben unserer Rasse hat lange genug gedauert – und ich würde niemals einer anderen Katze wünschen, so leiden zu müssen, wie ich es getan habe. Irgend jemand muß diesen sinnlosen Feindseligkeiten Einhalt gebieten – und wenn das geflügelte Mädchen eine Hoffnung für die Zukunft bedeutet, dann laß uns diesen Vorteil nutzen!« Sie konnte ihren Kopf vor Erschöpfung kaum aufrecht halten und legte ihn nun auf ihre ausgestreckten Pfoten. »Genug, Shia – ich bin müde. Während ich schlafe, mußt du meine Worte bedenken – suche auch Khanu und sprich mit ihm darüber. Dann, wenn ich wieder wach bin, mußt du nach dem kleinen Mädchen schicken.«

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