Das Rebellenlager zu finden war für Vannor eine leichte Aufgabe. Genau wie sie es beim letzten Mal für ihn getan hatten, öffneten ihm die Bäume einen Pfad, der in die Richtung führte, die er einschlagen mußte. Der Rebellenführer sah sich um – und war plötzlich von Herzen glücklich, trotz der Gefahr, die auf sie lauerte und trotz des unheilvollen Rumorens des Sturmes über ihm. Er war also doch nicht nutzlos; sein Leben war doch nicht vorbei gewesen, als er seine Hand verloren hatte! Parric hatte ihm beigebracht, wie man mit der linken Hand kämpfte, und obwohl er zu klug war, um sein Leben jetzt schon diesen gerade erst erworbenen Fähigkeiten anzuvertrauen, hatte er seine erste Schlacht durchgestanden, ohne sich Schande zu machen oder sein Leben dabei zu verlieren. Abgesehen davon war der Ausdruck maßlosen Zorns auf Eliseths Gesicht, als sie ihn, Vannor, gesehen hatte, die ganze Mühsal wahrhaftig wert gewesen.
Überdies war Vannor froh, wieder in dem Tal zu sein, das ihm und seiner kleinen Schar von Rebellen Zuflucht gewährt hatte. Wie freute er sich doch darauf, sie alle wiederzusehen – vor allem Dulsina, die mittlerweile sicher ganz krank vor Sorge um ihn war. Zweifellos tat er gut daran, auf ein paar bissige Bemerkungen von ihrer spitzen Zunge gefaßt zu sein, die gewiß nicht ihresgleichen kannte. Vannor grinste. Er würde sie aussprechen lassen und sie dann so fest umarmen, daß sie keine Luft mehr bekam und ihn nicht länger beschimpfen konnte.
Mit vor Freude zwinkernden Augen wandte sich der Rebellenführer an Parric, der sich dafür entschieden hatte, neben ihm zu reiten, da er es sich nicht nehmen ließ, Vannors verletzliche rechte Seite zu decken. »Es ist wirklich schade, daß du durch deine Reise nach Süden all das, was bisher geschehen ist, verpaßt hast. Aber jetzt sag mir, was hältst du von unserem Wald?«
Der Kavalleriehauptmann sah ihn finster an. »Ehrlich gesagt, mag ich ihn überhaupt nicht«, erwiderte er zu Vannors großer Überraschung. »Ich hasse diese verfluchten Bäume – sie sind mir unheimlich. Bäume sollten, wenn du mich fragst, hübsch an ihrem Platz bleiben und nicht herumstreifen und Äste auf die Leute niederkrachen lassen, ganz egal, ob sie uns damit da draußen das Leben gerettet haben. Wer steckt hinter dieser ganzen Sache – hast du dir diese Frage jemals gestellt? Und wie sollen wir sicher sein, daß dieser jemand auch weiterhin auf unserer Seite stehen wird?«
»Ach, na komm schon, Parric«, protestierte Vannor. »Natürlich steht der Wald auf unserer Seite – er hat es von Anfang an getan, seit ich damals die Rebellen hierhergebracht habe und die Wölfe zusammen mit den Bäumen Angos und seine Söldner getötet haben.«
»Nun, selbst wenn das so ist«, wandte der Kavalleriehauptmann halsstarrig ein, »haben wir keine Garantie dafür, daß der Wald uns gegen Eliseth beschützen kann. Wenn du mir nicht glaubst, warum wirfst du dann nicht einen Blick hinter dich?«
Gehorsam schaute Vannor über die Schulter. Weit hinten, an der Ostgrenze des Waldes, hob sich eine dicke, schwarze Rauchsäule dem düsteren Himmel entgegen.
»Tharas Fluch soll sie treffen! Was stellt dieses Miststück Eliseth mit meinem armen Tal an?« In dem unirdischen Reich der Phaerie saß Eilin in dem seltsamen Palast des Waldfürsten und preßte ihr Gesicht an das geheimnisvolle Fenster, von dem aus man die Welt der Sterblichen betrachten konnte. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf die schrecklichen Ereignisse in ihrem Wald gerichtet, als sie hinter sich plötzlich den Klang hastiger Schritte hörte.
»Du hast mich rufen lassen?« In Hellorins Stimme schwang eine nicht zu überhörende Gereiztheit mit. Zweifellos war er es nicht gewohnt, daß man in seinem eigenen Land so herrisch nach ihm schickte. Eilin dagegen ließ sich nicht beeindrucken, da ihr Maguschtemperament hitzig genug war, um es mit den schlimmsten seiner Wutanfälle aufnehmen zu können. Sie lief auf ihn zu und zerrte ihn die Stufen zu dem großen, kreisförmigen Fenster hinauf.
»Sieh dir das an!« verlangte sie, und ihre Stimme brach fast vor Zorn und Gram. »Sieh nur, was da draußen geschieht! Nach all den Jahren, die ich dort gearbeitet habe, um das Tal wieder fruchtbar zu machen, zerstört Eliseth jetzt den Wald. O hör nur, wie die Bäume schreien! Ich habe ihre Schreie bis in meine Träume hinein vernommen, und als ich erwachte und hierherkam, um nachzusehen … Und wo steckt D’arvan? Warum läßt er das zu? Mein Fürst, wir müssen sie aufhalten!«
»Nur Mut, Eilin.« Hellorins Finger schlossen sich um ihre Schultern. In der Stimme des Waldfürsten lag grimmige Schärfe. »Wir können nichts tun, um sie aufzuhalten. Wir Phaerie sind hier gefangen, hilflos – es sei denn …« Plötzlich flammte ein seltsames, wildes Licht in den unergründlichen Tiefen seiner Augen auf. »Warum greift die abtrünnige Maguschfrau den Wald an? Meine Herrin, hast du daran gedacht, nach deiner Tochter Ausschau zu halten?«
»Aurian? Hier?« rief Eilin und führ herum, um noch einmal durch das Fenster zu schauen. Sie konzentrierte ihren Willen auf ihre Tochter, und das Bild des brennenden Waldes verschwand im Nebel. Als der Nebel sich hob, zeigte das Fenster ihr … »Gütige Götter – da ist sie! Sie ist auf dem Weg zu meiner Insel, zusammen mit Anvar und vielen Fremden.«
Plötzlich wurde Eilin grob zur Seite geschoben, und der Waldfürst preßte sein Gesicht an die Kristallscheiben, bevor er ein freudiges Gebrüll anstimmte. »Die Pferde! O Phaerie, in dieser frohen Stunde sind unsere Rösser zurückgekehrt!« Er drehte sich zu der Magusch um, und seine Augen leuchteten in einem Gesicht, das vor Erregung und wilder Freude brannte. »Eilin, das kann nur eines bedeuten! Deine Tochter ist gekommen, um das Flammenschwert für sich zu beanspruchen, wie es vorhergesagt wurde – und wenn sie es an sich nimmt, werden die Phaerie endlich, endlich wieder frei sein!«
»Falls sie es erringen kann, meinst du«, murmelte Eilin mit einer Stimme, die zu leise war, als daß er sie hätte hören können. Sie wandte sich von Hellorin ab, damit er ihr Stirnrunzeln nicht sah. Sie dachte nicht an die Phaerie, sondern an die armen Pferdeleute da draußen, die sich plötzlich wieder in einfache Tiere verwandeln würden, falls Aurian das Schwert errang. Und mehr als das, sie machte sich Sorgen um D’arvan, der dem Angriff auf den belagerten Wald standhalten mußte. Hatte Hellorin vergessen, daß sein einziger Sohn da draußen war und um sein Leben kämpfte? Und was war mit Maya, die gegen ihre Tochter kämpfen mußte, obwohl die beiden Frauen enge Freundinnen waren? Aber vor allem anderen war ihr Herz erfüllt vor Angst um Aurian, der die gefährliche Aufgabe bevorstand, das Flammenschwert zu erringen. Eilin, die ihre Ohren vor den Freudenschreien der Phaerie verschloß, wandte sich wieder zu dem Fenster und begann zu beten.
D’arvan hetzte durch den sturmdunklen Wald auf die Rauchsäulen zu, die sich am östlichen Rand des Tales erhoben, und in seinen Ohren hallten die Todesschreie der Bäume wider. Noch während er seinem Ziel entgegenlief, wußte er, daß er zu spät kommen würde. Die Gedanken des Magusch waren voller Bitterkeit. Sein Vater und die Lady Eilin hatten ihm vertraut, aber er, D’arvan, hatte als Wächter versagt. Um solche Zerstörung anzurichten, mußte Eliseth über Kräfte gebieten, die die seinen bei weitem überstiegen. Es schien, als hätte Aurian recht gehabt – die Wettermagusch mußte es irgendwie geschafft haben, Miathan den Kessel der Wiedergeburt zu stehlen. Und was kann ich tun, dachte er verzweifelt, um es mit diesem alten Artefakt der Hohen Magie aufzunehmen?
Er wußte, daß er gar nichts tun konnte. Seine einzige Hoffnung mußte darin bestehen, daß es Aurian gelang, das Flammenschwert zu erringen. Er mußte sofort zur Insel zurückkehren, wohin er von Anfang an hätte gehen sollen. Es schien, daß er heute unter einem bösen Stern stand, denn wie auch immer er sich entschied, seine Entscheidung war falsch: Fluchend warf er einen letzten, verzweifelten Blick auf den brennenden Saum des Tales, bevor er sich wieder dem See zuwandte – und mit einem Entsetzensschrei auf den Lippen erstarrte. Der Brand hatte den oberen Rand der Felsen erreicht, obwohl er sich fest darauf verlassen hatte, daß die steilen Steinwände das Feuer aufhalten würden. Aber schon begannen die brennenden Bäume in sich zusammenzustürzen und krachten wie mit Flammenschwänzen versehene Kometen in den Abgrund. Grauer Qualm stieg auf und verdüsterte den Himmel, als die Bäume unten ebenfalls Feuer fingen und ein weiterer entsetzlicher Gedanke D’arvans benommenes Bewußtsein durchdrang – denn das Tal war Heim und Zuflucht für so viele, wilde Geschöpfe.
Selbst die Luft stöhnte unter der Last ungezählter Vögel, die sich jäh zum Himmel aufgeschwungen hatten und mit mitleiderregendem Piepen ihre Kreise zogen, wobei sie in der allgemeinen Verwirrung immer wieder miteinander zusammenstießen. Das Unterholz begann sich zu regen und zu rascheln, während Mäuse und anderes Getier um ihr Leben liefen, und Schlangen hinaus ins Freie schossen, deren gegabelte Zungen hin und her flackerten, um den Qualm zu kosten. Eichhörnchen sprangen kreischend durch die Zweige hoch über dem Boden. Die ersten erschrockenen Tiere jagten an dem Magusch vorbei und flüchteten vor dem sich ausbreitenden Feuer. Hirsche sprangen die Waldwege hinunter, und ihre weißen Schwänze zuckten vor Angst. Wölfe jagten wie ein grauer Nebel, der sich um die Bäume schlängelte, hinter ihnen her. Verschlafene Dachse, verwirrt von dieser seltsamen Nacht, stolperten durch das Gebüsch. Hasen und Kaninchen hoppelten – ausnahmsweise ohne um ihr Leben fürchten zu müssen – hin und her, denn ihre Feinde, die flinken Wiesel und Hermeline und die eleganten, kühnen Füchse waren ganz damit beschäftigt, sich vor den Flammen in Sicherheit zu bringen. D’arvan fand schließlich seine Geistesgegenwart wieder und rief den erschrockenen Kreaturen zu: »Lauft zu den Seen, o Waldbewohner! Sucht das Wasser – dort ist Sicherheit für euch alle!«
Dann machte er hastig kehrt, um seinen eigenen Rat zu befolgen, als er plötzlich ein mitleiderregendes Wimmern aus dem nahen Gebüsch hörte. D’arvan rannte durch den immer dichter werdenden Qualm auf die dünne Stimme zu. Dann steckte er, ohne einen Gedanken an seine eigene Haut zu verschwenden, eine Hand durch das Gewirr des Dornengestrüpps, tastete über den Boden, berührte etwas Pelziges – und förderte ein kleines Wolfsjunges zutage, das kaum älter als zwei Monde sein konnte. Es schien dem Feuer schon bedrohlich nah geraten zu sein, da einige Flecken seines dunkelgrauen Pelzes von den durch die Luft fliegenden Funken bereits versengt waren. »Wie bist du denn hierhergekommen?« murmelte D’arvan überrascht. »Hat das Feuer deine Eltern erschreckt, und haben sie dich vergessen?« Aber ihm blieb keine Zeit mehr, sich zu wundern. Also schob er das sich windende Wolfskind in die Tasche seines Gewandes und floh in Richtung See.
Als sich Aurian und ihre Gefährten vorsichtig ihren Weg hinunter in den Krater bahnten, schien sich der Kreis der Ereignisse im Leben der Magusch zu schließen, und sie fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als sie, ein kleines Mädchen mit zerzausten Haaren und schmutzigen Knien, Forral zum ersten Mal hinunter ins Tal geführt hatte. Heute, an diesem dunklen Tag, schien er ihr besonders nah zu sein.
Ungeduldig schüttelte Aurian den Kopf. Und selbst wenn er hier wäre, dachte sie, würde er dir als allererstes sagen, daß du mit diesen Tagträumereien aufhören mußt! Dafür stand im Augenblick zuviel auf dem Spiel. Aurian warf einen sorgenvollen Blick über die Schulter zu der östlichen Grenze des Tales hin, über der dunkler Rauch hing. »Beeilt euch!« drängte sie die anderen mit leiser Stimme weiter. »Es sieht so aus, als rücke Eliseth langsam näher.«
Nur allzu bereitwillig beschleunigte Schiannath seinen Schritt, aber es gab keinen richtigen Weg durch das Wirrwarr des Waldes, und das Unterholz war so dicht und das Wurzelwerk so gefährlich, daß die Pferde nicht galoppieren konnten. Aurian fluchte. Es schien, als hätten die Bäume im Augenblick zuviel mit sich selbst zu tun, um ihnen einen vernünftigen Weg zu öffnen. Also dachte sie hastig nach, legte dann eine Hand auf den Stab der Erde und griff mit ihrem Willen nach dem Wald.
Kaum hatte sie den Stab berührt, da hätte es die Magusch beinahe von Schiannaths Rücken hinuntergerissen, als der volle Zorn und der Schmerz der Bäume in ihre Gedanken schoß. Das ganze Tal stand in Flammen! Verzweifelt streckte sie dem Wald ihre Kräfte entgegen, um ihn zu beruhigen, und bat die Bäume, ihr einen Weg freizugeben und sie hindurchzulassen. »Kämpft nicht gegen das Böse!« sagte sie zu ihnen. »Beschützt euch! Wenn ihr vor euren brennenden Brüdern flieht und sie mit einem kahlen, offenen Ring umgebt, wird das Feuer keine weiteren Opfer mehr unter euch finden. Laßt Eliseth zum See durch, wenn sie es denn will. Öffnet ihr unbedingt einen Weg, aber seht zu, daß es ein langer ist.«
Plötzlich grinste Aurian. »Sie kennt das Tal nicht. Führt sie auf Umwegen in die Irre und haltet sie so lange wie nur möglich auf – aber sobald sie ungeduldig wird, laßt sie zum See durch, und ich werde mich um sie kümmern. Viele von euch waren mir in meiner Kindheit gute Kameraden. Ich habe unter euch gespielt, und ihr habt mich mit euren Zweigen beschützt. Ich möchte heute nicht noch mehr von euch verlieren.«
Von den Bäumen erklang ein leises Rascheln der Zustimmung wie eine sanfte Brise in den Zweigen. Die Magusch hörte, wie ihre Gefährten aufkeuchten, als plötzlich ein breiter Weg vor ihnen lag. Als Aurian an der Spitze ihrer kleinen Truppe auf den Weg ritt, senkten die Bäume des Tals ihr zu Ehren kurz die Zweige.
»Folgt mir!« rief Aurian. »Zum See!« Schiannath wieherte schrill und bäumte sich auf, bevor er in einem halsbrecherischen Galopp der Mitte des Tales entgegenstürmte.
Das Rebellenlager war in Aufruhr. Seine Bewohner rannten herum, rafften ihre spärlichen Besitztümer zusammen und schickten sich an, aus dem brennenden Tal zu flüchten. Dulsina schien überall gleichzeitig gebraucht zu werden; um zu beruhigen, zu helfen, zu organisieren und zu raten. Fional und Hargorn halfen ihr bei der Evakuierung – der jüngere Bogenschütze tat jedenfalls sein Bestes, aber er schien eine ungeheure Fähigkeit zu haben, ihr pausenlos im Weg zu stehen. Hargorns kampferprobtes Bellen jedoch erwies sich als äußerst nützlich, und Dulsina war froh, daß der alte Soldat die Nachtfahrer verlassen hatte, sobald seine Wunde verheilt war. Anschließend hatte er eine Gruppe von Flüchtlingen aus Nexis hergebracht, die sich zu den Rebellen gesellen wollten.
Vannor hörte schon aus der Ferne die gebrüllten Befehle, während er an der Spitze seiner Xandimkrieger durch die Bäume eilte. »Diese Stimme kenne ich doch!« rief er. »Das ist …«
»Es ist Hargorn!« schrie Parric überglücklich und versuchte, sein Reittier zu größerer Geschwindigkeit anzuspornen, bevor ihm ein wenig zu spät einfiel, daß er auf einem Xandim ritt. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich hastig. Das Pferd wieherte und schüttelte gereizt den Kopf, beschleunigte jedoch trotzdem seinen Schritt.
Als sie den Waldrand erreichten, sahen sie, daß die Lichtung, auf der sich das Rebellenlager befand, voller in panischer Angst durcheinanderrennender Leute war, die an irgend etwas zerrten oder schoben, Dinge einpackten oder umpackten und ansonsten versuchten, alles gleichzeitig zu tun. Es schien unmöglich, in diesem Chaos eine ganz bestimmte Gestalt zu erspähen, aber trotzdem wanderte Vannors Blick unbeirrbar zu der hochgewachsenen, dunkelhaarigen Gestalt Dulsinas hinüber.
»Dulsina!« brüllte er, und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ich bin wieder da!«
Die Reaktion fiel anders aus, als er erwartet hatte. Absolutes Schweigen breitete sich auf der Lichtung aus, während alle sich umdrehten, um ihn mit offenem Mund anzustarren. Und Dulsina – seine tapfere, vernünftige, umsichtige Haushälterin – wirbelte herum, um ihn anzusehen, und ihr Gesicht war totenblaß vor Schreck. »Vannor!« wisperte sie und brach ohnmächtig auf dem Boden zusammen.
»Steht nicht einfach da rum!« brüllte Vannor. »Will ihr denn keiner helfen?« Mit diesen Worten sprang er von seinem Pferd und rannte, dicht gefolgt von Parric, auf Dulsina zu. Als er sie erreichte, öffnete sie bereits wieder die Augen, und Hargorn half ihr, sich aufzusetzen. Und als der alte Soldat Vannor ansah, hatten seine Augen einen verdächtigen Glanz.
»Ich dachte, du wärst tot«, stieß er hervor. »Bern sagte, die Magusch hätten die Absicht gehabt, dich zu töten.«
»Ich …«, setzte Vannor zu einer Antwort an.
»Du gedankenloser, holzköpfiger Idiot!« unterbrach Dulsina ihn wütend, und ihre Augen sprühten Funken vor Zorn. »Hast du wenigstens Zanna gefunden? Wo hast du während der vergangenen Monate gesteckt, verdammt noch mal? Hast du überhaupt nicht darüber nachgedacht, welche Sorgen wir wegen dir haben?«
Plötzlich entschied Vannor, ihrem Gekeife ein vorzeitiges Ende zu setzen. Er schlang die Arme um Dulsinas Taille und preßte sie so fest an sich, daß sie schließlich protestierend kreischte.
»Ja, ich habe das Mädchen gefunden«, sagte er, »oder sie hat mich gefunden, um genau zu sein. Sie ist in Sicherheit – bei deiner Schwester.«
Nur widerwillig ließ Vannor Dulsina schließlich los und wandte sich an die wartenden Rebellen. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er zu ihnen. »Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit – wir müssen so schnell wie möglich zum See. Nehmt nur alle Waffen, die ihr tragen könnt, und laßt den Rest von diesem Zeug, wo er ist. Holt die Pferde – diejenigen, die keine Pferde haben, müssen sich ein Pferd mit einem der anderen teilen. Steht nicht einfach mit offenem Mund da rum – bewegt euch!«
Während die Rebellen sich beeilten, seinen Anweisungen Folge zu leisten, drang schließlich etwas, das Hargorn gesagt hatte, wieder an die Oberfläche von Vannors Gedanken. Er packte den alten Soldat beim Arm und hielt ihn fest. »Hargorn, wer, zum Teufel, ist dieser Bern?«
Hargorn zuckte mit den Achseln. »Nur so ein Flüchtling aus Nexis, der vor einer Weile zu uns gestoßen ist. Er sagte, du hättest ihn mit einer Botschaft zu uns geschickt. Aber er glaubte, die Magusch hätten vorgehabt, dich zu töten.«
Vannors Miene verfinsterte sich, als ihm klar wurde, daß sich die Rebellen übel hatten übertölpeln lassen.
»Wenn ich so darüber nachdenke«, fügte Dulsina mit vor Zorn geschärfter Stimme hinzu, »habe ich Bern nicht mehr gesehen, seit das Feuer ausgebrochen ist.«
»Das überrascht mich gar nicht«, erwiderte Vannor, aber er hatte das ungute Gefühl, daß sie noch von ihm hören würden, wo immer dies auch sein mochte.
Neben der Brücke wartete das Einhorn. Für jene, die Augen hatten, sie zu sehen, leuchtete Maya in der schattenhaften Düsternis des umlagerten Tales heller als der Abendstern, aber niemand außer D’arvan konnte ihre Schönheit wahrnehmen, und sie spürte, daß er weit fort war, obwohl er nun schnell zu ihr zurückkehrte. Aber noch schneller kam ein anderer – der Eine, mit dessen Schicksal das ihre so eng verbunden war. Das Einhorn stellte die Ohren auf und wandte seinen prächtigen Kopf so heftig nach Osten, daß seine silberne Mähne im Wind flatterte. In der Ferne, auf der anderen Seite des Sees, konnte sie eine Gruppe von Reitern aus den Bäumen heraustreten sehen. Zwei Gestalten ritten Seite an Seite, beide eingehüllt in eine schimmernde Aura magischer Kraft. Maya hätte sie sofort erkannt, doch das Einhorn sah in ihnen nur Eindringlinge, die verbotenes Gebiet betraten, ein Gebiet, das sie verteidigen mußte. Aber – das Einhorn scharrte verwirrt auf dem Boden, und sonnenlichtgleiche Funken stoben von seinen glänzenden Hufen – es konnte unmöglich zwei Kräfte geben. Welcher von ihnen war der Eine, derjenige, der sie, indem er das Schwert errang, endlich befreien – oder in den Tod schicken würde? Bevor sie das nicht wußte, würde sie wohl mit beiden kämpfen müssen.
Aurian krampfte sich das Herz im Leib zusammen, als sie aus dem Wald auf das offene Gelände am See trat und sah, daß die Insel jetzt des Turmes beraubt war, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter und Forral die frühen Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Sie drehte sich zu Anvar um, der neben ihr ritt. »Der Turm!« rief sie. »Er ist fort. Warum hat Chiamh mir das nicht gesagt, als er uns von seiner Vision berichtete?« Sie wußte, daß ihr Vorwurf unvernünftig war, aber sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand ihre Kindheit gestohlen. Obwohl sie den Turm in den vergangenen Jahren kaum einmal besucht hatte, hatte ihr das Wissen, daß er hier stand, immer eine Art von Sicherheit gegeben.
Anvar sah sich nach dem Windauge um, das in seiner menschlichen Gestalt auf Iscalda ritt, die sich geweigert hatte, sich von ihrem Bruder zu trennen. »Wie hätte er dir davon erzählen können, da er doch gar nicht wissen konnte, daß es überhaupt jemals einen Turm gegeben hat?« fragte Anvar vernünftig. »Hellorin hat es mir erzählt, aber ich habe es vergessen«, fügte er entschuldigend hinzu. »Der Turm wurde zerstört, als Davorshan hierherkam, um deine Mutter zu töten. Die Lady Eilin weiß es«, fügte er hinzu, um sie zu trösten. »Sie schien sich nicht weiter darüber aufzuregen.«
Aurian antwortete nicht. Sie starrte immer noch zu der kleinen Insel hinüber, wo einst der Turm gestanden hatte. »Ich kann keine Spur von dem Schwert entdecken«, murmelte sie besorgt. Als sie näher heranritten, sah Anvar jedoch, wie Aurians Augen sich weiteten und ihr Blick schärfer wurde. »Anvar«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang schrill vor Aufregung. »Es ist da. Chiamh hatte recht – das Schwert ist auf der Insel! Spürst du es nicht?«
»Ich spüre überhaupt nichts«, antwortete Anvar stirnrunzelnd. »Vielleicht kannst nur du seine Gegenwart wahrnehmen, weil du der Eine bist, für den es geschaffen wurde.« Er trat entschlossen auf die kleine, grüne Schlange der Eifersucht, die sich in seinem Hinterkopf regen wollte. Sie konnten nicht beide das Artefakt erringen, und schließlich war dies von Anfang an Aurians Feldzug gewesen. Außerdem schien das Schwert nach dem, was Hellorin ihm erzählt hatte, von allen Artefakten der Macht dasjenige zu sein, das mehr Last als Segen brachte.
Während sie sich unterhielten, hatten sie den See umrundet, und endlich kam eine schmale Holzbrücke in Sicht. »Ich bin froh, daß wenigstens die Brücke noch steht«, sagte Aurian, deren Sinn fürs Praktische wieder die Oberhand gewonnen hatte. »Ohne die Brücke hätten wir Probleme gehabt, hinüberzukommen – der See ist an dieser Stelle sehr tief.«
Ihre Worte gingen in dem Donnern sich nähernder Hufe unter. Aurian sah sich gehetzt um – es war niemand da. Aber die Hufschläge kamen immer näher, wurden lauter und lauter. »Gebt acht!« rief Aurian und zog den Stab der Erde aus ihrem Gürtel, aber es war zu spät.
Plötzlich taumelte Schiannath, als hätte eine unsichtbare Macht ihn beiseite gestoßen. Aurian beugte sich nach hinten und versuchte, ihm mit Hilfe ihres Gewichtes Halt zu geben – und als er sich wieder erholte, hörte sie einen schrecklichen Schrei: Ein Pferd in Todesangst. Esselnath, der Xandim, der Anvar getragen hatte, rollte sich in offensichtlichen Qualen über den Boden, und sein glänzendes, haselnußbraunes Fell war vom Rot seines Blutes gefärbt; seine Eingeweide traten aus einer länglichen Wunde in seinem Bauch hervor, der aussah, als wäre er von einem Schwert aufgeschlitzt worden.
Anvar, der es geschafft hatte, rechtzeitig von dem wild um sich schlagenden Pferd abzuspringen, erhob sich gerade mühsam vom Boden, als sich der Klang von donnernden Hufen abermals näherte. »Schiannath!« schrie Aurian und das große Pferd fuhr herum und galoppierte auf ihren Seelengefährten zu. Sie packte Anvar am Handgelenk und riß ihn hinter sich auf Schiannaths Rücken, als etwas Unsichtbares an ihnen vorbeischoß. Aurian spürte deutlich den Luftzug, der ihr die Haare ins Gesicht wehte.
Die Magusch blickte über die Schulter zurück und wagte es kaum, hinzusehen, aber Anvar saß unverletzt hinter ihr und starrte fassungslos auf den gezackten Riß in seinem Ärmel. »Ihr Götter!« rief er. »Was ist das?«
Was immer es auch war, es stürzte abermals auf sie zu. Die übrigen Xandim sprengten in alle Richtungen. Einer von ihnen stürzte mit durchbohrter Brust zu Boden, und sein Reiter stand nicht wieder auf. Shia sprang in die Richtung, aus der die Hufschläge kamen, und wurde aufheulend zurückgeschleudert. Khanu rannte wild fauchend zu ihr hinüber, während sich die große Katze mühsam wieder aufrichtete. Chiamh galoppierte auf Iscaldas Rücken auf die beiden Magusch zu. Seine Augen flammten auf, von einem silbernen Licht erfüllt, da er seine Andersicht angenommen hatte.
Als das Hämmern der unheimlichen Hufe wieder lauter wurde, wartete Schiannath bis zur letzten Sekunde, bevor er sich zur Seite stürzte – aber das Gewicht der beiden Reiter verlangsamte ihn, und er kreischte auf, als auf seiner Schulter wie aus dem Nichts eine dünne, rote Linie entstand, aus der Blut tropfte. Die Hufschläge verlangsamten sich, nahmen Kurs auf das Windauge und dann …
»Ich sehe es!« schrie Chiamh. »Ich sehe es – es ist ein Einhorn!«
Und auf einmal waren keine Hufschläge mehr zu hören. Nur die schlanke, in Leder gekleidete Gestalt der benommenen Maya stand plötzlich auf dem Gras.
Aurian stieß einen Freudenschrei aus und ließ sich in Windeseile von Schiannaths Rücken gleiten.
»Warte!« Anvar bückte sich, um sie am Arm festzuhalten, »das könnte ein Trick sein!«
»Es ist kein Trick.« Maya schien sich ihrer eigenen Stimme seltsam unsicher zu sein. »Ich war der Wächter.« Ihre Stirn legte sich in Falten, und es kostete sie sichtbare Anstrengung, sich zu erinnern. »In Gestalt des Einhorns habe ich euch nicht erkannt.« Sie blickte voller Bedauern auf die Körper der Xandim, die im Gras lagen, und auf Shia, die sich noch immer ihre verletzte Seite leckte, bevor sie aufschaute, um Maya einen zornigen Blick zuzuwerfen. »All das tut mir so leid, aber ich konnte nicht anders. Mir blieb nichts anderes übrig, als euch anzugreifen. Hellorin hat mir aufgetragen, das Schwert zu verteidigen, aber er sagte, wenn ich für irgend jemanden außer D’arvan sichtbar würde, würde meine Wächterschaft enden und ich könnte wieder meine menschliche Gestalt annehmen. Er sagte, daß der Eine eine Möglichkeit finden würde, mich zu sehen.«
Sie wandte sich an Chiamh. »Bist du der Eine?«
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte das Windauge entschieden. »Es ist Aurian – der Drache hat es ihr gesagt. Ich war nur derjenige, mit dessen Hilfe sie dich sehen konnte.«
»Aber wie war es möglich, daß du mich sehen konntest?« fragte Maya. »Niemand konnte mich sehen!«
Aurian hatte sich gerade dieselbe Frage gestellt.
»Oh, ich kann mit meiner Andersicht alle möglichen Dinge sehen«, erwiderte das Windauge fröhlich. »Ich kann selbst den Wind wahrnehmen, und ein Einhorn aus Licht sollte mir da keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Wenn ich nicht so kurzsichtig wäre, hätte ich dich früher gesehen und uns eine Menge Schwierigkeiten erspart.« Er seufzte sehnsüchtig. »Aber es tut mir leid, daß die anderen dich nicht sehen konnten. Du warst so unendlich schön …«
»Womit du wohl sagen willst, daß ich es jetzt nicht mehr bin«, fauchte Maya. »Na ja, jetzt ist wohl alles wieder so, wie es früher war.« Sie hielt Aurian die Hände hin. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen.«
Und Aurian lief ihrer Freundin entgegen, um sie in die Arme zu schließen.
»Wie weit ist es denn noch bis zu diesem verfluchten See?« murmelte Eliseth gereizt. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, einen Eingang zwischen den Bäumen zu finden, schien sie nun schon seit einer Ewigkeit durch diesen düsteren Wald zu streifen. Außerdem hatten ihre törichten Begleiter sich offensichtlich verirrt – aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Sie hatten ihren Zweck erfüllt, und nachdem Eliseth den Wald bezwungen hatte, fühlte sie sich wieder siegesgewiß. Mit Hilfe des umgestalteten Kessels stand ihr eine solche Macht zu Gebote …
Eliseth zog den angelaufenen Kelch aus der Tasche ihres Gewandes und sah ihn nachdenklich an. Wer hätte gedacht, daß ein so kleines Ding eine solche Macht besitzen könnte? Und jetzt wurde der Kelch von irgend etwas angelockt und auf den See zugezogen. Konnte es sein, daß dort noch ein anderes Artefakt verborgen war? Das würde sicherlich erklären, wie es kam, daß diese elende Eilin genug Macht gehabt hatte, um Davorshan zu ermorden. Eliseth runzelte die Stirn. Nun, sie würde es bald herausfinden. Sie hatte eines der Artefakte seinem rechtmäßigen Besitzer gestohlen; es sollte nicht weiter schwierig sein, noch eins zu stehlen, vor allem nicht von Eilin. Jedenfalls würde es nicht weiter schwierig sein, wenn sie nur diesen verfluchten See endlich fände …
Sie war auf dem schmalen, gewundenen Pfad noch nicht viel weiter gekommen, als sie die Hilfeschreie hörte. Eliseth gab ihrem schweißnassen Pferd noch einmal die Sporen und sah, als sie um eine Ecke bog, eine vertraute Gestalt, die hilflos in den Zweigen eines Baumes hing, welche sich immer fester um sie zuzogen.
»Bern!« fauchte die Wettermagusch. »Was, zum Teufel, hast du hier zu suchen? Ich habe dir befohlen, bei den Rebellen zu bleiben.«
»Das wollte ich ja auch«, jammerte Bern. »Aber als sie das Feuer sahen, wollten sie das Lager verlegen. Ich wußte, daß du es sein mußtest, Herrin, und ich wollte dich warnen. Bitte hol mich hier herunter.«
»Du hättest sie begleiten sollen, du Narr!« sagte Eliseth. »Woher soll ich jetzt wissen, in welche Richtung sie gehen?«
Dennoch drehte sie sich zu dem Baum um und hob mit einer drohenden Geste die Hand. »Laß ihn runter«, fauchte sie, »sonst …«
Mit einem vernehmlichen Aufprall fiel Bern, der vor Erleichterung den Tränen nahe war, zu Boden. »Oh, ich danke dir, Herrin!« Er stand mit einiger Mühe wieder auf und schien plötzlich nicht mehr weiterzuwissen. »Was machen wir jetzt?«
»Nun, ich gehe zum See, du elender Sterblicher«, herrschte Eliseth ihn an. »Wenn du mit mir kommen willst, mußt du sehen, daß du mit mir Schritt hältst – ich werde nicht auf dich warten. Ich habe langsam genug davon, durch diesen verfluchten Wald zu irren.« Sie runzelte die Stirn. »Wenn die Bäume mich nicht endlich durchlassen, werde ich sie verbrennen, wie ich es mit den anderen auch getan habe.«
»Aber das ist doch gar nicht nötig, Herrin«, wandte Bern ein. »Sieh nur – der Weg ist direkt da drüben.«
Die Wettermagusch drehte sich um, schaute in die Richtung, in die er zeigte, und fluchte heftig. »Der Weg war vorher nicht da. Bist du sicher, daß er der richtige ist?«
»Er führt in die richtige Richtung, Herrin. Wenn du mir folgst, führe ich dich hin.«
Eliseth zuckte mit den Achseln. Nun, das war immer noch besser, als pausenlos durch den Wald zu irren, wie sie es bisher getan hatte.
»Dann geh schon«, sagte sie zu Bern. »Und beeil dich! Außerdem solltest du eines nicht vergessen – wenn du mich in die Irre führst, werde ich dafür sorgen, daß es dir leid tut.«
»Keine Sorge, Herrin – ich kenne den Weg.« Mit diesen Worten ging er los und stolperte mühsam vor ihr her über den Waldweg. Eliseth zuckte noch einmal mit den Achseln und folgte ihm.
Aurian ging langsam über die Brücke, und ihre Schritte hallten hohl auf den Holzplanken wider. D’arvan sah sie vom Seeufer aus, wo er das kleine Wolfsjunge einen Augenblick zuvor sicher abgesetzt hatte. Sein Herz machte vor Erleichterung einen Sprung, als er am Ufer in einer Traube von Leuten seine Maya entdeckte, gesund und munter – und wieder in menschlicher Gestalt. Bisher also hatte Aurian Erfolg gehabt. Das hätte er sich eigentlich denken können. Aber der nächste Teil – das Erringen des Schwertes – würde sich als schwieriger erweisen. Ängstlich eilte er zu ihnen und erinnerte sich plötzlich daran, daß sie ihn nicht sehen konnten. Bei den Göttern, es war so lange her … Also unterdrückte er einen Freudenschrei und begann zu laufen; das Wolfsjunge, das auf sich allein gestellt ins Gebüsch gewandert war, hatte er ganz vergessen.
Cygnus kreiste über dem See und erblickte die kleine Gruppe von Zuschauern an der Brücke. Dort war Aurian, die ganz allein auf die Insel zuging – und dort Anvar, der ein kleines Stück von den anderen entfernt am Rand des hölzernen Brückenbogens stand und seinen Blick fest auf die immer kleiner werdende Gestalt der Magusch geheftet hatte. Er war jetzt allein und obendrein abgelenkt… Cygnus lächelte. Endlich war seine Chance gekommen, die Harfe der Winde an sich zu bringen! Also schoß der geflügelte Mann in einer steilen Kurve auf sein ahnungsloses Opfer zu.
Vannor führte seine Rebellen aus dem Wald heraus und sah die Szene, die sich an der Brücke abspielte. Was, um alles in der Welt, taten die Magusch da? War das Schwert irgendwo auf der Insel versteckt? Dann versetzte Parric ihm einen Stoß in die Rippen. »Vannor – da drüben!«
Der Kaufmann schaute über den See und sah, daß Eliseth am anderen Ufer zwischen den Bäumen hervortrat. Sie schien ungefähr genausoweit von der Brücke entfernt zu sein wie er. Vannor fluchte. Es hatte keinen Sinn, seinen Freunden eine Warnung zuzurufen. Sie würden ihn aus dieser Entfernung wahrscheinlich nicht hören, und außerdem konnte es möglicherweise verheerende Auswirkungen haben, wenn er Aurians Konzentration in diesem Augenblick störte.
»Komm – wir müssen Anvar warnen«, sagte er zu dem Xandim, den er ritt, und das Pferd galoppierte los, gefolgt von den übrigen Rebellen. Eliseth auf der anderen Seite des Sees hatte sie jetzt ebenfalls erblickt und ihrem Pferd die Sporen gegeben. Aber wer von ihnen würde sein Ziel als erster erreichen?
Als Aurian die Brücke überquerte, nahm sie nichts von den Dramen war, die sich um sie herum abspielten. Das Schwert der Flammen rief jetzt nach ihr; es beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Aber sie wußte, daß es nicht leicht sein würde, es zu erringen. Es mußte auf jeden Fall eine Art Probe oder eine Herausforderung geben – so war es bei den anderen Artefakten auch gewesen. Plötzlich war sie froh, daß sie Anvar trotz seines Protests dazu bewogen hatte, zurückzubleiben. Diese Sache konnte gefährlich werden, und sie würde für die vor ihr liegende Aufgabe ihre ganze Konzentration brauchen.
Als sie die Brücke hinter sich hatte, erblickte Aurian einen großen, grauen Felsbrocken, der an der Stelle lag, an der einst der Turm gestanden hatte. Sie runzelte die Stirn. Woher war dieses Ding gekommen? Vorher war es jedenfalls nicht dort gewesen. Es war aus Granit, einem Stein, der sich sehr von dem schwarzen Basalt des Tals unterschied, auf dem das Fundament von Eilins Turm erbaut worden war. Die Magusch näherte sich ihm vorsichtig, während der Kriegsgesang des Schwertes immer lauter in ihren Gedanken widerhallte. Dann streckte sie ganz langsam eine Hand aus, um den massiven Fels zu berühren – und er verwandelte sich unter ihren Fingern in einen riesigen Kristall, in dem ein Licht pulsierte, das von frischem Blut dunkelrot gefärbt war. In den dumpf leuchtenden Facetten des Juwels konnte sie die funkelnden Umrisse eines Schwertes erkennen, jenes Schwertes, das einzig und allein für ihre Hand geschaffen war und das ihr mit seiner harten, metallischen Stimme die Bitte zurief, es aus seinem Gefängnis zu befreien.
Aurian lächelte, aber eine warnende Stimme hielt sie zurück. So einfach konnte das doch unmöglich sein? Das Erringen des Stabes war außerordentlich schwierig gewesen …
Dennoch streckte die Magusch die Hände aus und legte sie auf den Kristall. Mit ihren Heilerinnensinnen suchte sie nach Schwächen innerhalb der Gitterstruktur des Steines, wie sie es vor langer, langer Zeit in den Tunneln unter Dhiammara getan hatte. Mühelos fand sie die Stelle und stieß mit all ihren Kräften zu, um die Kristallstruktur zu zerschmettern. Mit einem seufzenden Wispern zerfiel das Juwel zu funkelndem Staub, und das Flammenschwert sprang in Aurians Hand.
Von einer Woge feuriger Macht erfüllt, die sie mit qualvoller Ekstase zu verzehren schien, ließ sich Aurian auf die Knie fallen. Die Welt um sie herum verblaßte, und es gab nur noch den pulsierenden, blutroten Nebel, während das Lied des Schwertes laut durch ihre Gedanken hallte.
»Du bist der Eine, wie es prophezeit ist, und du hast mich gefunden. Aber bevor du über meine Macht verfügen darfst, mußt du mich zuerst erringen, wie du den Stab der Erde errungen hast. Es muß ein Blutband zwischen uns geben, Kriegerin – ein Opfer. Das erste Blut, das ich trinke, muß das Lebensblut eines Menschen sein, den du liebst. Dann – und nur dann – werde ich mich dir unterwerfen.«
Aurian schrak entsetzt zurück und nahm plötzlich wieder die Welt um sich herum wahr. »Was?« brauste sie auf. »Ich werde nichts Derartiges tun!« Die Warnung des Leviathan kam ihr wieder in den Sinn. »Wie soll ich dich im Namen des Guten benutzen«, fragte sie, »wenn ich dich durch einen so unaussprechlichen Akt in meinen Besitz bringen muß?«
»Dann bin ich verwirkt, und du hast versagt.«
Und plötzlich wandelte sich alles gleichzeitig zum Schlechten.
Wie ein Donnerschlag hallte es über den See, als die Phaerie, angeführt von der hünenhaften Gestalt Hellorins, am Ufer auftauchten.
»Frei!« rief er. »Nach all diesen langen Ewigkeiten sind wir endlich wieder frei. Der Eine hat versagt, hat es nicht geschafft, das Schwert für sich zu erringen. Daher sind wir von unserem Treueeid ihm gegenüber entbunden. Kommt, meine Freunde, wir müssen reiten!«
Eilin, die an seiner Seite war, stieß einen Protestschrei aus, aber der Waldfürst beachtete sie nicht.
Vor Aurians entsetzten Augen nahmen die Xandim, die ihr so treu gefolgt waren, ihre Pferdegestalt an, und ihre Angstschreie gellten durch das Tal. Die Phaerie bemächtigten sich ihrer, beanspruchten einen nach dem anderen für sich – alle bis auf Schiannath und das Windauge, die der Brücke am nächsten waren. Die beiden galoppierten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Holzbretter der Brücke, denn sie wußten, daß sie auf der anderen Seite des Wassers vor der Macht des Phaeriefürsten sicher waren.
»Nein!« rief D’arvan, dessen Stimme vor Zorn brach. »Laß sie in Ruhe, Vater!«
Hellorin stieß ein wütendes Heulen aus und schwang sich auf Iscalda, die der Körpergröße ihres Reiters entsprechend riesige Ausmaße angenommen hatte. »Wir reiten!« schrie er. »Laßt die Welt zittern – denn die Phaerie reiten wieder!« Und dann waren sie fort, jagten in die sich auftürmenden Wolken hinauf und ließen nur das Geräusch von Eilins Weinen zurück.
Und während Aurian noch starr vor Entsetzen war, schoß Cygnus vom Himmel herunter, stürzte sich auf Anvar und schnitt die Riemen durch, die die Harfe auf seinem Rücken festhielten. Die Magusch schrie vor Zorn auf und rannte über die Brücke, um ihrem Seelengefährten zu Hilfe zu eilen. Schon hatte sie das Flammenschwert zum Schlag erhoben – da ließ sie es entgeistert fallen, als ihr klar wurde, was sie um ein Haar getan hätte. Also zog sie ihre eigene Klinge und durchbohrte mit ihr die weißgeflügelte Gestalt. Cygnus ließ von seinem Opfer ab und rollte sich in Todesqualen durchs Gras, während sein Blut den Boden um die Windharfe befleckte und er seinen letzten Atemzug tat.
Aurian streckte ihre Sinne nach Anvar aus, der bewußtlos dalag; eine häßliche Schramme zeichnete einen dunklen Fleck auf seine Stirn.
Und so war Eliseth schneller als Aurian. Die Wettermagusch umklammerte triumphierend das Flammenschwert und ließ es nicht los, obwohl ihre Finger schwarz wurden und qualmten und ihr Gesicht sich zu einer Maske des Schmerzes verzerrte. »Ich werde es vielleicht nicht beherrschen«, schrie sie, »aber du auch nicht!«
Der kraftvolle Strahl der Macht, der von dem Flammenschwert ausging, trieb Aurian zurück. Eliseth, die noch immer über Anvar stand, holte den Gral hervor und brachte die beiden Großen Waffen mit einem dröhnenden Klirren zusammen.
»Tötet sie, o Mächte!« schrie sie, aber ihre dürftige Kontrolle über beide Artefakte führte zu einem Ergebnis, das anders ausfiel, als sie erwartet hatte.
Aurian konnte noch einen Blick auf Eliseths vor Entsetzen verzerrtes Gesicht werfen, als sich mit einer lautlosen Explosion ein großer Riß im Gewebe der Zeit auf tat. Es war, als sei die Welt auf ein gewirktes Tuch gemalt, das plötzlich in zwei Teile gerissen wurde.
Kreischend wurde Eliseth in die Kluft, die sich aufgetan hatte, hineingerissen – und Anvar mit ihr. Mit einem zornigen Aufschrei packte Aurian die Harfe der Winde und stürzte sich in den sich langsam schließenden Riß. Shia und Khanu, die beiden großen Katzen, sprangen unmittelbar hinter ihr her; Schiannath und Chiamh folgten ihnen mit schrillem Wiehern. Maya und D’arvan lösten sich aus ihrer grauenerfüllten Starre und tauschten nur einen einzigen Blick. Dann faßten sie einander bei den Händen und liefen auf das immer kleiner werdende Loch in der Zeit zu – und verschwanden ebenfalls, bevor es wie die Kiefer eines Raubtiers hinter ihnen zuschnappte.
Vannor und Parric blieben keuchend neben Yazour, der zu spät gekommen war, um seinen Freunden zu folgen, und der verstörten Eilin stehen. Eine Weile verharrten sie schweigend nebeneinander, sprachlos angesichts der Unfaßbarkeit dessen, was gerade geschehen war.
»Nun«, sagte der Kaufmann schließlich, »wenigstens ist Aurian nicht allein.«
»Und was soll ihr das nutzen?« herrschte Eilin ihn an. »Wir wissen nicht einmal, ob alle den Sprung in eine andere Zeit überlebt haben.«
»Aurian wird überleben«, sagte Vannor mit Überzeugung. »Darauf wette ich. Und da wir es wohl wissen müßten, wenn sie in die Vergangenheit gegangen wäre, kann das nur bedeuten, daß sie irgendwann in der Zukunft wieder auftauchen wird.«
Mit einem gequälten Lächeln blickte er zu der Stelle hinüber, an der Aurian verschwunden war. »Ich hoffe nur, daß ich das noch erlebe.