15 … und durch Luft

»Es tut mir leid, Kleines – ich kann keinen Schritt weitergehen. Ich muß mich eine Weile ausruhen.« Vannors Stimme war schwach vor Müdigkeit und Schmerz, und Zanna konnte das Zittern seines Körpers spüren, während er, auf ihre Schulter gestützt, durch den Tunnel wankte.

»Ist gut, Vater. Wenn du nur noch ein ganz kleines Weilchen aushalten könntest, würden wir bestimmt ein Zimmer finden, in dem wir uns ausruhen können, wie wir das schon ein paarmal getan haben«, erwiderte Zanna, die sich zwang, einen fröhlichen Ton anzuschlagen. Um seinetwillen versuchte sie, sich ihre eigene Erschöpfung nicht anmerken zu lassen, genausowenig wie die Ängste und Sorgen, die sie quälten. Sie hatten sich in diesem Labyrinth kalter, feuchter Tunnel total verirrt. Sowohl ihre Kraft als auch ihre spärlichen Vorräte gingen rasch zur Neige; und ihr Vater hatte mit seinen Verletzungen schon genug eigene Probleme, mit denen er fertigwerden mußte. Nach jeder Rast, die sie bisher eingelegt hatten, hatte sie immer länger gebraucht, um ihn wieder auf die Beine zu bringen, und er mußte sich jetzt auch immer häufiger ausruhen. Zanna hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, sich seine Verletzung anzusehen – er wollte weder darüber reden, was die Magusch ihm angetan hatten, noch wollte er ihr erlauben, den Verband an seiner Hand zu erneuern –, aber sie wußte, daß es schlimm sein mußte. Er hätte Ruhe gebraucht, die richtige Pflege und einen Arzt – und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich sein Zustand so sehr verschlechtern würde, daß er seinen Verletzungen erliegen würde.

Zanna hob ihre Kerze ein Stückchen höher und suchte den Korridor nach dem dunkleren Schatten der nächsten Tür ab. Die alten Archive unterhalb der Bibliothek waren mit Nischen durchsetzt, mit Alkoven und Kammern jeder Größe; einige waren so geräumig, daß das Kerzenlicht der Flüchtlinge sie nicht mal ganz zu erhellen vermochte, und andere wiederum so klein, daß Vannor und seine Tochter zwischen den uralten Büchern und den verstaubten Regalen voller verfallender Pergamentrollen kaum Platz fanden. Letztere waren Zanna allerdings weitaus lieber. Sie mochten zwar überfüllt und unbequem sein und äußerste Vorsicht mit der Kerze erfordern, damit die Papiere nicht in Brand gerieten, aber sie waren wärmer, weniger zugig und schienen außerdem viel sicherer zu sein. Sie bereitete sich keine Sorgen darüber, was hinter dem kleinen, sicheren Kreis ihrer flackernden Kerze verborgen sein mochte. Sie hatte mit angehört, wie Eliseth sich darüber beklagte, daß Finbarr, der frühere Archivar, zwar mit Hilfe von Zaubersprüchen dafür gesorgt hatte, daß keine Ratten, Küchenschaben und ähnliches Getier hier eindringen konnten, daß aber die Magie jetzt langsam nachließ, weil sich niemand mehr darum kümmerte, sie aufrechtzuerhalten. Aber es war nicht der Gedanke an kleine Tiere, der Zanna angst machte. Was sie umtrieb, war vielmehr die unerschütterliche Überzeugung, daß außer ihr und ihrem Vater noch irgend etwas hier unten war. Etwas Unsichtbares, Unbekanntes, aber doch unaussprechlich Böses.

»Ach, um Himmels willen«, murmelte Zanna bei sich. »Stell dich nicht so an. Wenn du deine Phantasie mit dir durchgehen läßt, kriegen wir ganz bestimmt Schwierigkeiten.« Statt dessen legte sie einen Arm um ihren Vater und führte ihn zu dem nächsten dunklen Eingang, der von dem Tunnel abzweigte.

Zu Zannas Ärger stellte sich heraus, daß die dunkle Öffnung ein Alkoven war und nicht der erhoffte Eingang zu einem Zimmer. Mit einem von Vannors deftigsten Flüchen auf den Lippen drehte sie sich um und wollte gerade wieder in den Tunnel zurückkehren, als das Licht ihrer Kerze zufällig auf einen funkelnden Gegenstand am Boden fiel – das stumpfe, kalte Leuchten dunklen, verrosteten Eisens. Sie gab Vannor ihren Korb und ließ ihn für einen Augenblick im Tunnel allein, wo er sich an die Mauer lehnen konnte, während sie versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen – und um ein Haar drei tiefe Stufen hinuntergestürzt wäre. Auf dem Boden in der Ecke des Alkovens – nicht mitten in der Wand, wo Zanna sie erwartet hätte – befand sich eine schmale Holztür.

Sie war natürlich verschlossen. Angesichts der Tatsache, daß dieser Eingang offensichtlich ein Geheimnis war, hatte Zanna nichts anderes erwartet. Trotzdem erzürnte es sie. Weil ihr der Zugang zu dem dahinterliegenden Raum verwehrt war, hatte sie das Gefühl, unbedingt sehen zu müssen, was darin verborgen war – und es kam ihr keinen Augenblick lang in den Sinn, daß eine Tür an diesem tief unter der Erde liegenden Tunnel möglicherweise aus einem guten Grund verschlossen war: Um Dinge fernzuhalten – und andere Dinge festzuhalten. Sie wußte, daß es unvernünftig war, aber plötzlich stand diese verschlossene Tür für all die anderen Demütigungen, Schmähungen und Beleidigungen, die sie von den Magusch erlitten hatte, seit sie in die Akademie gekommen war. Die Tür war ein Symbol der Macht, ein Symbol für das, was diese Leute ihrem Vater angetan hatten und für alles, was sie Zannas Rasse verweigert hatten. Sie suchte sich einen sicheren Halt für ihre Füße, legte ihre Schulter an die Tür und versetzte ihr einen kräftigen Stoß. Niemand hätte überraschter sein können als sie selbst, als die Tür unverzüglich mit einem protestierenden Knarren nachgab und Zanna Hals über Kopf in die Dunkelheit dahinter stürzte.

Die Kerze ging natürlich aus. Sie fiel ihr aus der Hand, erlosch und rollte weg. Zanna blieb liegen, erschrocken, mit blauen Flecken am ganzen Körper und atemlos. An die Stelle ihres gerechten Zorns trat plötzlich eisige Angst. Was hatte sie da getan?

Aber nach den Ereignissen dieser Nacht entdeckte sie eine Zähigkeit an sich, von der sie bisher nichts gewußt hatte. Mach dich nicht lächerlich, sagte sie sich. Wie viele verschlossene und vergessene Kammern mußte es in diesem altertümlichen Labyrinth unter der Akademie wohl geben? Das Schloß war alt – es war eingerostet und halb verrottet, das war alles, und selbst ihre geringe Kraft hatte ausgereicht, um es zu sprengen. Außerdem mußte sie praktisch denken. Es war ein Raum, in dem sie sich ausruhen konnten.

»Zanna?« Es war die quengelnde Stimme eines alten Mannes, und das entsetzte sie noch mehr als ihr Sturz in der Dunkelheit. Ihr Vater war immer so energisch gewesen. Sie hatte nie darüber nachgedacht, daß er eines Tages alt werden würde …

»Keine Angst – ich bin hier. Ich habe eine Treppenstufe übersehen, das ist alles.« Zanna erhob sich mühsam, hatte aber keine Vorstellung davon, in welche Richtung sie gehen mußte. Die Dunkelheit war absolut undurchdringlich. Sie war froh, daß sie sich um Vannor kümmern mußte, sonst hätte ihr die schleichende Angst, die in ihr aufstieg und sie zu überwältigen drohte, wahrscheinlich den Verstand geraubt. Es lag ihr auf der Zunge, ihn darum zu bitten, eine neue Kerze anzuzünden, aber dann fiel ihr wieder ein, daß ihm das mit seiner verletzten Hand unmöglich war. Zanna holte tief Luft. »Vater. Ich bin in Ordnung, aber ich habe die Kerze verloren. Könntest du bitte weiterreden oder rufen, um mich zu dir zurückzuleiten?«

»Natürlich kann ich das tun, Kleines.« Zu ihrer Erleichterung klang er jetzt schon wieder mehr wie der unverwüstliche Mann, der er einst gewesen war. »Hab keine Angst. Folge einfach dem Klang meiner Stimme …« Obwohl man aus seinen Worten die Anstrengung heraushören konnte, die es ihn kostete, den Schmerz in seiner verwundeten Hand zu unterdrücken, riß sich Vannor jetzt um seiner Tochter willen zusammen. Zanna spürte, daß ihr Vater plötzlich wieder ein wenig mehr Zutrauen zu sich selbst gefaßt hatte, und war überglücklich.

»Habe ich dir eigentlich jemals erzählt, wie ich Leynard kennengelernt und mein ursprüngliches Abkommen mit den Nachtfahrern getroffen habe? Das war so …«

Zu jeder anderen Zeit hätte die Geschichte ihres Vaters Zanna ganz und gar in den Bann gezogen. Jetzt galt ihre alleinige Aufmerksamkeit Vannors Stimme selbst. Sie hoffte aus vollem Herzen, daß sie die Richtung, aus der die Stimme zu ihr drang, richtig einschätzte, und stolperte immer weiter, wobei ihre Hände blind ihre Umgebung abtasteten. Es war nicht leicht. Zuerst beging sie mehrere Fehler, bis die immer leiser werdenden Worte bewiesen, daß sie in die falsche Richtung gegangen war. Nach einer Weile schien ihr Gehör jedoch, dadurch daß sie nichts sehen konnte, auf unnatürliche Weise schärfer zu werden. Auch andere Sinne kamen jetzt stärker zur Geltung als sonst: Sie spürte die kalte Liebkosung der Zugluft, die durch die offene Tür auf ihre Haut drang, und den metallischen Geruch des Blutes von der Hand ihres Vaters.

»Und da standen wir nun, alle piekfein angezogen für das Wintersonnwendfest – bis auf Forral und die Lady Aurian, die – ob du’s glaubst oder nicht – sogar an diesem Festtag ihr Schwerttraining absolviert hatten! Wirklich zwei komische Vögel. Na ja, deiner Stiefmutter gefiel das Ganze überhaupt nicht, das kann ich dir sagen – und als einer der Soldaten an die Tür kam und sagte, sie hätten einen Flüchtling eingefangen …«

Zanna hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie kannte diese Geschichte noch nicht – und sie betraf Aurian. Aber im Augenblick diente sie ihr nur als Leitstrahl, der sie in Sicherheit bringen sollte.

»Der arme Junge – sie bezeichneten ihn zwar als Knecht, aber das Wort Sklave hätte besser gepaßt. Die Lady Aurian hat ihn jedenfalls beschützt und in ihre Obhut genommen und später dann auch in ihren Dienst – was sich am Ende übrigens wirklich ausgezahlt hat, da Anvar sie rettete, als …«

Zanna fluchte, als sie über eine Stufe stolperte, sich ihre ohnehin schon aufgeschürften Hände aufriß und sich außerdem eine schmerzhafte Wunde am Knie zuzog. »Vater?« rief sie.

»Ich bin hier, Kleines.« Seine Stimme war tröstlich nah, genauso wie die Hand, die eine Sekunde später nach ihr griff.

Zanna wagte nicht, ihre Erleichterung zu zeigen, damit er nicht herausfand, welche Angst sie zuvor ausgestanden hatte. »Kannst du mir den Korb geben?« fragte sie Vannor. Sobald sie diesen in der Hand hielt, tastete sie nach einer neuen Kerze und dann nach der Schachtel mit den Zündhölzern. Endlose Minuten schienen zu vergehen, bis sie es schaffte, die Kerze zu entzünden, nur um anschließend herauszufinden, daß sie ihr nicht viel helfen würde, da sie sich mittlerweile in einen anderen, größeren Raum verirrt hatten. Doch allein die Tatsache, wieder etwas sehen zu können, war schon ein Trost.

»Komm, Vater – wir werden uns jetzt etwas ausruhen.« Zanna führte ihren Vater die Stufen hinunter und hinein in den Raum, der von ihren Stimmen widerhallte. Sie führte ihn nur ein paar Schritte weit, so daß er vor der Zugluft im Eingang sicher, demselben jedoch noch nahe genug war, um im Ernstfall schnell fliehen zu können. Dann sorgte sie dafür, daß er sich auf den Boden setzte und mit dem Rücken an die Wand lehnte.

Vannor seufzte. »So ist es schon besser«, murmelte er. Er griff nach der Flasche, die sie ihm hingehalten hatte, und nahm einen Schluck Wasser, während Zanna den Korb durchstöberte, um etwas Brot und Käse für ihn zu suchen. Als sie sich ihm wieder zuwandte, war er jedoch bereits fest eingeschlafen.

Ganz sanft entwand Zanna die Flasche seiner schlaffen Hand. Dann nahm sie selbst einen Schluck, knabberte hungrig an einem kleinen Stück Brot und ließ sich schließlich auf den Boden nieder, um über den schlummernden Kaufmann zu wachen.

Es erwies sich als überraschend einsam, die einzige Wächterin in der Dunkelheit zu sein, aber trotz ihrer Erschöpfung hatte Zanna das Gefühl, daß jemand Wache halten mußte. Außerdem hätte die seltsam beunruhigende Atmosphäre der einsamen Katakomben es ihr ohnehin unmöglich gemacht, zu schlafen. Wenn sie sich doch nur von dem Gefühl befreien könnte, nicht allein zu sein, von dem Gefühl, daß irgend jemand – oder irgend etwas – in der Dunkelheit auf sie und ihren Vater lauerte!

»Nun, was es auch ist, ich hoffe, es weiß, wie man hier rauskommt«, murmelte sie energisch und versuchte mit Hilfe ihres gesunden Menschenverstandes neuen Mut zu finden. »Denn wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können.«

Es hatte keinen Sinn. Mit der Zeit wurde das Gefühl in ihr immer stärker, bis der Gedanke schließlich unerträglich wurde, herumzusitzen und darauf zu warten, daß irgendein namenloses Etwas über sie herfiel. Und um die Dinge noch zu verschlimmern, bereitete ihr der unwiderstehliche Drang, sich zu erleichtern, wachsendes Unbehagen. Verdammt, dachte Zanna, und wünschte, sie hätte das Wasser nicht getrunken. Das mußte natürlich ausgerechnet jetzt passieren! Wo konnte sie hingehen? Es schien ihr ein unverzeihliches Sakrileg zu sein, einen Raum voller alter und wahrscheinlich unbezahlbar kostbarer Bücher für diesen Zweck zu mißbrauchen. Aber andererseits schied es absolut aus, in den zugigen, offenen Korridor hinauszugehen, wo ihr Vater sie nicht sehen konnte. Sie mußte irgendeine Ecke finden, dachte sie, und versuchen, möglichst wenig Schaden anzurichten.

Also nahm sie noch eine Kerze aus dem schnell dahinschwindenden Vorrat in ihrem Korb, zündete sie an und stellte sie dann auf den nackten Stein zu Vannors Füßen. Geleitet von diesem dürftigen Lichtschimmer, der sie später wieder in Sicherheit bringen sollte, setzte sich Zanna in Bewegung. Unsicher tastete sie sich an der Wand des Raumes entlang und war noch nicht weit gelangt, als sie ihren voreiligen Entschluß auch schon bedauerte. Die riesige, von Echos widerhallende Dunkelheit lastete auf ihr und erschreckte sie ein ums andere Mal, bis ihre Nerven flatterten. Da war es wieder, dieses leise Rascheln und Scharren außerhalb der Reichweite ihrer kleinen Flamme … Einmal stolperte sie über einen unordentlichen Stapel Bücher und hätte fast ihre Kerze verloren.

Das reicht jetzt, sagte sich Zanna. Es war ohnehin eine törichte Idee gewesen, hier durch die Dunkelheit zu irren, wo sie sich eigentlich ausruhen und sich um ihren Vater kümmern sollte. Und dann kam ihr plötzlich ein entsetzlicher Gedanke. Was wäre, wenn sich in ihrer Abwesenheit irgendein entsetzliches Etwas an ihren schlafenden Vater herangeschlichen hatte? Sie warf einen Blick zurück über die Schulter und konnte den zarten Lichtschimmer seiner Kerze erspähen, so daß sie sich ein wenig beruhigte. Dennoch hatte sie ihn jetzt lange genug allein gelassen. Hastig suchte sie sich eine geeignete Stelle, wo die Wand scharf abbog und in einen anderen Alkoven führte, in dem keine Bücher zu liegen schienen. Dann hockte sie sich schnell auf den Boden, um sich zu erleichtern. Als sie wieder aufstand, drehte sie sich halb um – und das Licht ihrer Kerze fiel in den dunklen Tiefen des Alkoven auf die große, dünne Gestalt eines Mannes, der direkt vor ihr stand. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske des Entsetzens, und in seinen glasigen Augen spiegelte sich die flackernde Flamme ihrer Kerze wider.


Die beiden Magusch und ihre Gefährten wichen vor der erstickenden Staubwolke zurück, die zu ihnen heraufdrang und suchten Zuflucht in den oberen Kammern des Turms. Dort verweilten sie kurz. Einige von ihnen setzten sich auf den Boden, andere lehnten sich erschöpft an die Wand; sie alle waren noch ganz außer Atem von dem Entsetzen und den Anstrengungen des Kampfes. Obwohl niemand von ihnen ernsthaft verwundet worden war, war keiner völlig unbeschadet aus der Schlacht hervorgegangen. Nach ein paar Sekunden holte Iscalda eine Wasserflasche aus einer der Satteltaschen und begann, ein altes Hemd in Streifen zu reißen, denn es lag auf der Hand, daß die Magusch im Augenblick zu erschöpft war, um ihre Gefährten mit Hilfe ihrer Magie zu heilen. Aurian und Anvar, die einzigen, die bisher von Bohans Tod wußten, klammerten sich für eine Weile aneinander, teilten ihre Erleichterung darüber, daß der andere in Sicherheit war, und gleichzeitig ihren Schmerz über den Tod ihres Freundes. Viel zu früh hob Aurian den Kopf von Anvars Schulter.

»Verzeih mir, Basileus«, hörte er sie zu dem Moldan sagen. »Ich hoffe, ich habe dir nicht allzu weh getan, aber ich hatte keine andere Wahl.«

»Ich verstehe.« Die Stimme des Elementarwesens klang düster. »Es war keine große Verletzung für ein Wesen von meinen gewaltigen Ausmaßen – aber doch eine unwillkommene Erinnerung an die Kräfte, über die deine Rasse verfügen kann. In eben diesem Augenblick schlagen die Xandim an einer anderen Stelle auf meine Knochen ein, um sich einen Weg zu euch zu bahnen, aber dafür mache ich nur diese Männer verantwortlich, nicht euch. Trotzdem glaube ich, daß ihr Zauberer jetzt besser von hier weggeht – um unser aller Willen.«

»Es tut mir leid.« Aurian seufzte. »Du hast recht.« Dann spürte Anvar, wie sie sich in Gedanken Shia zuwandte.

Aurian brauchte ihren ganzen Mut, um die Frage zu stellen, denn sie fürchtete, daß sie die Antwort bereits kannte. »Shia – was ist mit Wolf? Er ist doch nicht …?«

»Nein. Er ist in Sicherheit. Khanu bringt das Junge und die beiden Wölfe, die es beschützen, zu Chiamhs Turm.«

Eine schwindelerregende Woge der Erleichterung überflutete Aurian. Sie fühlte sich fast ein wenig schuldig, weil sie trotz Bohans Tod solches Glück empfinden konnte.

»Was ist Bohan passiert?« fragte sie leise.

»Er ist abgestürzt.« Die Gedankenstimme der Katze klang belegt vor Kummer. »Ich glaube, der Felsvorsprung hat unter seinem Gewicht nachgegeben. Ich habe versucht, ihn zu retten, aber …« Ihre Gefühle überwältigten sie, und sie konnte nicht weitersprechen.

»Und ich habe ihn dort hinausgeschickt.« Obwohl sie diesmal laut sprach, war die Stimme der Magusch kaum mehr als ein Flüstern. Plötzlich keuchte sie, fluchte und löste sich ruckartig aus Anvars Umarmung, um ans Fenster zu stürzen. »Shia – was ist mit dem Felsvorsprung?«

»Ein ganzes Stück weit weggebrochen – genau wie eure Brücke. Ihr werdet auf diesem Weg nicht entkommen können.«

Aurian stellte fest, daß ihre Gefährten sich mittlerweile um sie geschart hatten und ebenfalls aus dem Fenster spähten.

»Wir haben versucht, es euch zu erklären«, sagte Iscalda jetzt. »Die Bretter waren nicht mehr da …«

Die anderen bedrängten die Magusch jetzt so sehr, daß sie plötzlich in Panik geriet. Sie sah sich schon selbst in die Tiefe stürzen. »Zurück!« rief sie und riß sich von dem Anblick des schrecklichen Abgrundes los; sie zitterte bei dem Gedanken an Bohans tödlichen Sturz auf die Felsen unter ihnen. Nur mit größter Mühe konnte sie ihre Gedanken von dem grauenhaften Ereignis abwenden. Sie mußte sich jetzt darauf konzentrieren, wie sie die augenblickliche Gefahr überwinden konnten.

»Jeder nimmt mit, was er braucht«, befahl sie. Dann lief sie hinüber zu ihrem Bett und den Gepäckstücken, die daneben lagen, schob sich den Stab der Erde in den Gürtel und durchstöberte eine der Taschen nach der Pfeife, mit der man die Himmelsleute herbeirufen konnte.

»Hier – nimm meine.« Anvar, der sich die Harfe nun wieder sicher auf seine Schultern geschnallt hatte, war ihr einen Schritt voraus.

»Gib du ihnen das Signal.« Aurian wollte sich nicht noch einmal aus diesem Fenster beugen, nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Als sie den Inhalt der Tasche wieder zurückstopfte, hörte sie den ersten schrillen Pfiff durch die Dunkelheit hallen. Sie konnte nur hoffen, daß sich diese verflixten Geflügelten ausnahmsweise einmal beeilten. »Wieviel Zeit haben wir noch?« fragte sie Basileus.

»Genugwenn ihr schnell seid.«

»Das ist ja ein toller Trost«, murmelte die Magusch gereizt, achtete aber gleichzeitig darauf, ihre Gedanken vor Basileus abzuschirmen.

»Gibt es denn nichts, womit ich euch helfen könnte?« drang Shias Stimme in Aurians Gedanken. »Es ist ein weiter Sprung in der Dunkelheit, aber ich glaube, ich könnte es zum Fenster schaffen …«

»Nein! Laß das!« Aurian konnte den Gedanken nicht ertragen, noch einen Freund an die grausam scharfen Steine auf dem Boden der Schlucht zu verlieren. »Keine Angst – die Himmelsleute kommen.«

»Da mußt du aber Glück haben.« Shias Gedankenstimme klang mürrisch und abfällig. »Ich bin in jenem Augenblick zwar gerade um mein Leben gelaufen, aber ich habe eindeutig gesehen, wie diese gefiederten Verräter weggeflogen sind, als die Xandim angriffen.«

»Was?« Aurian stieß einen so derben Fluch aus, daß sogar Parric überrascht die Augenbrauen hob.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?« fragte er.

»Die verdammten Himmelsleute haben uns im Stich gelassen«, brauste Aurian auf.

Parric warf ihr einen wissenden Blick zu, und sie hätte ihn am liebsten auf der Stelle erwürgt. »Nun sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, nach allem, was du neulich erzählt hast. Man muß wissen, wie man die Leute behandeln muß, wenn man ein echter Führer sein will. Du kannst nicht einfach …«

»Das ist wirklich ein kluger Rat, Parric, vor allem da er von dem Mann kommt, der die Xandim so wunderbar zu behandeln wußte, daß sie uns angegriffen haben«, erwiderte die Magusch. Wutschnaubend kehrte sie ihm den Rücken zu und ging zu Anvar ans Fenster. Das Schlimme war, daß sie wußte, daß der Kavalleriehauptmann recht hatte. Ohne Rabe, die ihnen gebieten konnte, hatten sich die geflügelten Begleiter, die die Königin den Magusch mitgegeben hatte, in wachsendem Maße als störrisch und aufsässig erwiesen; und je weiter sie sich von ihrem Heim in den Bergen entfernten, um so offensichtlicher hatte es ihnen widerstrebt, ihre Pflicht zu tun. Trotzdem war dieser feige Verrat, gerade in dem Augenblick, in dem sie sie am dringendsten brauchten, ein schwerer Schlag für Aurians Pläne. Jetzt bereute sie die vernichtenden Worte, die sie am Tag nach Wolfs Entführung zu ihnen gesagt hatte, bitter. Damals hatte die mangelnde Hilfsbereitschaft der Geflügelten Aurian so erzürnt, daß ihr Temperament mit ihr durchgegangen war. Aber obwohl die Geflügelten rastlos und alles andere als bußfertig wirkten, hatte Aurian doch geglaubt, die Sache mit der Zeit wiedergutmachen zu können. Unglücklicherweise hatte sie durch Elewins Tod und den Angriff der Xandim genau diese Zeit nicht gehabt.

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Iscalda. Das rußverschmierte Gesicht der Xandimfrau hatte das bleiche, starre Aussehen eines Menschen, der am Ende seiner Kraft angelangt war.

Zum Glück für Aurian, die keine Antwort bereit hatte, sprang Schiannath in die Bresche. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, werden wir kämpfen.« Er zog sein Schwert und trat neben die Magusch. Sein Mut und die tröstliche Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter munterten Aurian etwas auf, aber was für ein schrecklicher Gedanke – es wäre so sinnlos, wenn sie hier in diesem fremden Land wie gefangene Ratten sterben würden!

»Also dann stirb eben nicht«, murmelte sie bei sich. »Es muß einfach einen Ausweg geben.«

Auch Anvar gab nicht auf. Er beugte sich immer noch aus dem Fenster und blies mit aller Kraft, die seine Lungen hergaben, auf der Pfeife. »Kommt schon, ihr mißgestalteten, gefiederten Ungeheuer«, hörte sie ihn zwischen zwei Pfiffen keuchen.

»Beeilt euch lieber.« Die Stimme des Moldan drang so hart wie Eisen in ihre Gedanken. »Sie haben sich den Weg ins Treppenhausfreigekämpft. Sie brauchen nur noch die Trümmer von deinem Steinschlag wegzuschaffen …«

»Ach?« erwiderte Aurian grimmig. »Nun, ich hoffe, du hast noch viele Steine übrig, Basileus, denn wenn sie mit diesem Steinschlag fertig sind, kann ich ihnen leicht mit einem weiteren dienen.«

»Zauberin, ich warne dich – ich werde dir nicht erlauben, mich noch einmal zu verletzen.« Es war das erste Mal, daß sie den Moldan so wütend erlebte.

»Du hast doch gesagt, es würde dir nicht sehr weh tun – und du weißt, daß ich dir niemals weh tun würde, wenn ich eine andere Wahl hätte«, erwiderte Aurian. Aber noch während sie ihn um Verständnis bat, eilte sie auch schon energisch auf die Tür zu.

Anvars Triumphschrei ließ sie jedoch abrupt stehenbleiben. »Aurian – da sind sie. Da sind sie!«

Die Magusch rannte zurück zum Fenster, wo die schweren Vorhänge jetzt nach innen geweht wurden, und die Luft vibrierte unter dem gewaltigen Donnerschlag großer Schwingen. Von überwältigender Erleichterung erfüllt, nahm Aurian ihren Seelengefährten in die Arme. »Gut gemacht, Anvar. Wenn du nicht so beharrlich gewesen wärest … Und jetzt schnell, alle wie ihr da seid. Wir müssen hier raus und dürfen keine Zeit verlieren …«

»Das dürfen wir wirklich nicht, wenn ihr wollt, daß wir euch bei eurer Flucht helfen. Wir sind nur noch zu zweit – die anderen sind nach Aerillia zurückgeflogen.«

Aurian drehte sich um und sah die Gestalt eines geflügelten Kriegers, der waghalsig auf dem Fenstersims kauerte. Hinter ihm schwebte eine weitere Gestalt – aber nur eine einzige. Aurian spürte ein flaues Gefühl im Magen. Wenn sie sich beeilten, hatten sie vielleicht gerade noch genug Zeit – sofern man diesen Geflügelten noch trauen konnte. »Ich bin euch unendlich dankbar für eure Loyalität«, sagte sie zu dem geflügelten Mann. »Aber warum …?«

Er hob eine Augenbraue. »Warum wir geblieben sind? Weil wir unserer Königin Rabe treu ergeben sind und wir ihr einen heiligen Eid geschworen haben.«

»Und außerdem«, fügte der andere geflügelte Krieger – eine Frau – hinzu: »Wir sind euch erdgebundenen Zauberern etwas schuldig dafür, daß ihr Schwarzkralle getötet und den Winter beendet habt, ganz zu schweigen von der Rettung unserer Königin.«

Das reichte Aurian. Sie brauchte nur eine Sekunde, um Iscalda auf das Fenstersims zu manövrieren. Die beiden Himmelsleute konnten sie nicht weit tragen – nur an einen sicheren Ort auf dem Berg jenseits der gefährlichen Felsvorsprünge –, denn normalerweise waren sie zu viert und hatten ein Netz, um eine Last zu befördern, die so schwer war wie ein Mensch.

Die beiden Geflügelten nahmen Iscalda bei den Armen und zogen sie dann hinauf in die Luft; die Anstrengung, mit ihrer ungewohnten Last an Höhe zu gewinnen, ließ sie heftig mit den Flügeln schlagen.

Während sie mit Iscalda unterwegs waren, zogen die anderen mit Hilfe von Strohhalmen aus ihren Matratzen Lose, um den Streit aus der Welt zu schaffen, wer als nächster abfliegen sollte. Aurian und Anvar bestanden darauf, das Schlußlicht zu bilden, weil sie mit ihren Zauberkräften die größte Chance hatten, sich gegen die Xandim zu verteidigen, falls diese früher als erwartet angreifen sollten. Keiner ihrer Kameraden wollte sie jedoch im Stich lassen. Chiamh war der nächste und ließ sich nur zum Gehen bewegen, weil er die anderen verteidigen und in Sicherheit bringen konnte, falls den Magusch etwas zustoßen sollte. Ein wutschnaubender Parric folgte ihm, und dann kamen Yazour, Sangra und Schiannath an die Reihe. Als auch sie fort waren, konnte man die Xandim, die sich ihren Weg durch die Trümmer bahnten, bereits deutlich hören.

Nun waren nur noch die beiden Magusch übrig. Während die Geflügelten Schiannath über den Abgrund flogen, wandte sich Anvar an Aurian. »Du gehst als nächste«, sagte er zu ihr. »Ich möchte bitte keine Streitereien deswegen.«

Aurian machte den Mund auf, um zu protestieren, aber er kam ihr zuvor. »Drei Gründe. Erstens, das Ganze hat begonnen als Kampf gegen Miathan, und das ist dein Kampf. Und wenn es stimmt, was der Drache gesagt hat, kann keiner außer dir dem Flammenschwert gebieten. Zweitens braucht Wolf seine Mutter. Drittens …« Er grinste. »Falls sie den Durchbruch schaffen, kann ich sie aufhalten, indem ich sie mit der Harfe aus der Zeit herausnehme.«

»Das kannst du nur mit einer begrenzten Anzahl von Leuten tun«, wandte Aurian ein, »und für eine begrenzte Zeit. Selbst mit Hilfe der Harfe würde es dich zu große Kraft kosten.«

»Für kurze Zeit könnte ich es schaffen, und mit etwas Glück brauche ich nicht länger. Wenn du diejenige bist, die das Flammenschwert führen soll, Aurian, dann müssen wir dich in Sicherheit bringen, damit du deine Aufgabe eines Tages erledigen kannst. Du weißt, das ich recht habe.«

Aurian zog eine Grimasse. »Verdammt – ich hasse es, wenn du recht hast.«

Nur allzubald kündigte das Geräusch von Flügelschlägen die Ankunft der Himmelsleute an. Als sie wartend vor dem Fenster schwebten, bemerkte Aurian, daß ihre Gesichter vor Müdigkeit und Anstrengung bleich und ausgezehrt waren. Sie konnte nur beten, daß sie noch die Kraft für zwei weitere Flüge aufbrachten. Dann drehte sie sich noch einmal zu Anvar um, zog ihn heftig in ihre Arme und fragte sich, wie sie jemals die Kraft aufbringen sollte, ihn gehen zu lassen. Sie sah ihm tief in die Augen, die ihr aus der schwarzen Maske von Ruß und Qualm, die sein Gesicht verschmiert hatten, strahlend blau entgegenleuchteten. Schließlich küßte sie ihn leidenschaftlich und murmelte schroff: »Paß auf dich auf, sonst kriegst du es mit mir zu tun.«

Anvar grinste hinterhältig. »Keine Sorge. Nachdem ich so lange gewartet habe, will ich dich jetzt auf keinen Fall wieder verlieren.«

Er half ihr auf das Fenstersims hinauf, wo sich die starken Hände der Himmelsleute um ihre Handgelenke legten. »Paßt mir gut auf diese Frau auf – sie ist etwas ganz Besonderes«, versicherte er ihnen.

»Wir haben bisher noch nie etwas fallen gelassen«, erwiderte der weibliche Krieger kichernd. Bevor Aurian Zeit für eine scharfe Antwort fand, erhoben sich die Geflügelten in die Luft – und die Magusch spürte, wie ihr Magen rebellierte, als sie plötzlich über einem unergründlichen Abgrund baumelte und nur zwei Hände, die sie festhielten, sie vor dem tödlichen Sturz bewahrten.

Das war viel schlimmer als das Netz. Dort hatte sie wenigstens ein wenig Substanz zwischen sich und der leeren Luft gehabt. Diesmal gab es nichts als den Abgrund unter ihren hin und her schwingenden Füßen, und ihre Armmuskeln schienen protestierend aufschreien zu wollen, da sie ihr gesamtes Gewicht tragen mußten. Wie die beiden Himmelsleute sich fühlten, die diesen Flug jetzt schon mehrfach hinter sich gebracht hatten, das wagte Aurian sich nicht vorzustellen. Sie mußten große Schmerzen haben – und ganz bestimmt bald am Ende ihrer Kraft angelangt sein. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie sie plötzlich nicht mehr festhalten konnten. Der kalte Wind blies ihr entgegen, ließ ihre Augen tränen und peitschte ihr die feuchten Locken ins Gesicht, und natürlich hatte sie keine Hand frei, um sich die Haare oder die Tränen wegzuwischen. Wo fliegen sie nur hin? dachte sie voller Panik und hätte die Geflügelten auch gefragt, wäre ihr eine solche Ablenkung nicht zu riskant erschienen. Wir müßten doch langsam da sein! Und noch während sie das Ende ihrer eigenen, wilden Flucht herbeisehnte, wünschte sie sich verzweifelt, die beiden Geflügelten könnten endlich zurückkehren, um auch Anvar zu retten.

Und dann war es vorbei. »Wir sind da!« rief eine schrille Stimme durch den tobenden Wind und das Trommeln schlagender Flügel, und plötzlich spürte Aurian, wie sie losgelassen wurde, wie sie stürzte … und schmerzhaft auf Händen und Knien auf durchnäßter Erde landete, nachdem sie vielleicht einen halben Meter tief gefallen war.

»Aurian – bist du in Ordnung?« Die Stimme gehörte Chiamh. Einen Augenblick später war er neben ihr und versuchte, sie hochzuziehen.

Aurian riß sich von ihm los. »Laß mich in Ruhe«, murmelte sie undankbar und begrub ihr Gesicht in dem feuchten, nach Morgendämmerung duftenden Gras. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als der gesegneten, wunderbaren Erde so nah wie nur möglich zu sein. Eine köstliche Sekunde lang streckte sie sich dort aus, bis ihre Sorgen sie wieder auf die Beine brachten. Ihre Gefährten umringten sie – sie konnte ihre müden, rußverschmierten Gesichter jetzt ganz deutlich sehen. Zu ihrer Überraschung – denn sie hatte während des ganzen Fluges die Augen fest geschlossen gehalten – wurde der Himmel im Osten bereits hell. Ein schwacher Hauch von Kupfer strich bereits über die gezackten Gipfel von Stahlklaue und verlieh dem gequälten Berg vor dem Hintergrund des saphirfarbenen Himmels einen unheimlichen, unirdischen Schimmer.

Dann konnte Aurian plötzlich an gar nichts mehr denken, denn eine riesige, schwarze Gestalt stürzte auf sie zu, und eine Sekunde später lag sie wieder auf dem Boden – flach auf dem Rücken diesmal –, und Shia schlang die gewaltigen Tatzen um ihren Körper und strich ihr mit dem stoppeligen, schwarzen Gesicht über die Wangen, wobei sie die ganze Zeit über so laut schnurrte, daß es auf dem ganzen Berg zu hören sein mußte. »Du bist in Sicherheit! Ich dachte schon, ich hätte dich auch verloren!« Dann zog Shia sich ein wenig zurück und funkelte Aurian mit ihren feurigen, goldenen Augen wütend an. »Tu das nie wieder – versuch nie wieder, mich fernzuhalten, wenn du in Gefahr bist!«

»Ich werde mich bemühen«, versprach Aurian atemlos und war sich gleichzeitig ziemlich sicher, daß das eine Lüge war. Mühsam brachte sie sich in eine sitzende Position, bevor sie die Arme um Shias Hals schlang. »Ich bin so froh, dich zu sehen!«

Die große Katze preßte sich an sie, und Aurian wußte, daß sie in ihrem Kummer um Bohan Trost suchte. »Er war der erste«, sagte die große Katze leise. »Abgesehen von Anvar seid ihr beiden, du und Bohan, die einzigen gewesen, die von Anfang an dabei waren, von dem Augenblick an, als ich meine Freiheit wiedererlangte.«

»Und er war dein Freund«, erwiderte Aurian. »Ich weiß, wie nah du ihm gestanden hast. Er war auch mein Freund, Shia, und sobald wir die Gelegenheit dazu haben, werden wir um ihn trauern, wie es sich gehört.« Jetzt jedoch machte Anvar ihr größere Sorgen. Für Bohan konnte sie nichts mehr tun, aber solange sie hoffen durfte, daß ihr Seelengefährte noch lebte …

Und er lebte tatsächlich noch. Da sie so mit Shia beschäftigt gewesen war, war ihr das erste ferne Dröhnen von großen Flügeln entgangen, aber jetzt konnte Aurian es hören, und sie konnte auch den schwarzen Punkt sehen, der sich von Norden am Himmel näherte. Kurze Zeit später ließen die beiden Geflügelten Anvar direkt vor ihr fallen. Er sah bleich und müde aus, war aber unverletzt und eindeutig lebendig. Dank sei den Göttern, dachte Aurian, während sie sich aus der Umarmung der Katze befreite und sich mit der gleichen Heftigkeit auf Anvar stürzte, mit der sich vorher Shia auf sie gestürzt hatte. »Du bist hier!« Sie wußte, wie lächerlich das klingen mußte, aber das war ihr egal. »Du bist gesund!« Sie ließ Anvar los und sah ihn prüfend an. »Es ist doch alles in Ordnung mit dir, oder? Die Xandim sind nicht durchgekommen?«

»Nein – aber sie waren kurz davor.« Dann ging Anvars angespannte Miene in ein Grinsen über. »Die Gesichter würde ich gerne sehen, wenn diese Meute auf ein leeres Zimmer stößt.«

»Sie werden sich schon irgend etwas dabei denken, aber in der Zwischenzeit sollten wir uns beeilen, von hier zu verschwinden.« Die Stimme kam von Chiamh. »Wenn sie meine Abwesenheit bemerken, werden sie mich mit Sicherheit zuerst in meinem Tal suchen.«

»Hast du nicht gesagt, sie hätten Angst, an den stehenden Steinen vorbeizugehen?« wandte Aurian ein.

»Ja – aber wenn irgend möglich, werden sie versuchen, mich gar nicht erst so weit kommen zu lassen.«

»Das stimmt.« Aurian blickte auf und stellte fest, daß einer der Himmelsleute neben ihr stand. »Während unseres letzten Fluges haben wir eine Schar berittener Männer gesehen, die auf den Klippenweg zueilten.«

»Verflucht!« rief Aurian. »Wird denn das nie aufhören?«

»Nicht sobald jedenfalls«, erwiderte Chiamh leise. »Nicht bevor der morgige Tag dämmert und nach einer abermaligen Herausforderung ein neuer Rudelfürst gewählt ist. An diese Entscheidung müssen sie sich halten – und das werden sie auch tun, solange der Sieger ein Sproß unseres Volkes ist. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir nur überleben – und hoffen, daß der Sieger unser Freund sein wird.«

Aber zunächst einmal durften sie keine Zeit mehr verlieren. Von jetzt an bestand ihr oberstes Ziel darin, daß Tal des Todes zu erreichen, bevor die Xandim ihnen den Weg versperren konnten. Chiamh, Iscalda und Schiannath erboten sich, in ihre Pferdegestalt zu schlüpfen, und es wurde beschlossen, daß Iscalda Yazour nehmen sollte, Chiamh seine alte Freundin Sangra, und Schiannath, der größer und stärker war als das Windauge, würde die beiden Magusch auf seinem Rücken reiten lassen. Damit blieb nur Parric übrig, und Aurians Herz blutete für ihn, denn er, ein Kavalleriehauptmann und der Rudelfürst der Xandim, würde gezwungen sein, mit den Himmelsleuten zu fliegen, während die anderen reiten konnten. Im Augenblick hatte sie jedoch keine Zeit, um über verletzte Gefühle nachzudenken. All diese Erwägungen mußten beiseite geschoben werden. Zunächst ging es einfach nur ums Überleben. Obwohl Aurian wußte, daß Parric Soldat genug war, um diese Tatsache zu begreifen, lief ihr doch beim Anblick seines Gesichtes eine Gänsehaut über den Rücken. Irgendwie war sie ganz sicher, daß die Sache noch ein Nachspiel haben würde.

Noch während Aurian über Parrics mißliche Lage nachdachte, hoben die Himmelsleute mit dem Kavalleriehauptmann bereits ab. Chiamh und Iscalda hatten sich schon verändert. Ein brauner Hengst und eine weiße Stute standen vor den Gefährten und warteten ungeduldig auf ihre Reiter. Schiannath sah die Magusch an und grinste breit, so daß seine Zähne weiß aufblitzten. »Mach dich bereit – ich verspreche, du sollst den besten Ritt deines Lebens bekommen.«

Und mit diesen Worten begann er bereits, sich zu verändern. Seine Gestalt schien zu zerfließen, schimmerte und verwandelte sich, und plötzlich stand dort – wie ein Schatten in der Dunkelheit – ein großes, stolzes Streitroß mit einem grau gescheckten Fell, schwarzen Beinen, schwarzer Mähne und schwarzem Schweif. Schiannath senkte seinen muskulösen, elegant geschwungenen Hals und warf seine mitternachtsfarbene Mähne zurück. Für Aurian wirkte es wie eine Aufforderung. Sie sprang auf seinen warmen, breiten Rücken und spürte, wie Anvar sich mit ein wenig mehr Mühe hinter sie setzte. Die anderen waren bereits aufgestiegen.

Dann ging es los. Shia lief wie ein zusätzlicher Schatten neben ihnen her und konnte mit dem Tempo der Pferde mühelos Schritt halten, während die Sonne am Horizont aufstieg und das Plateau mit einem Meer neblig-bernsteinfarbenen Lichtes überflutete. Wie auf dem Kamm einer goldenen Welle ritten sie durch das Land; die Hufe der Pferdeleute donnerten über den Boden und wirbelten Tauspritzer wie kleine, funkelnde Diamanten auf dem smaragdgrünen Gras auf, und die silbernen Spitzen der Berge ragten hoch über ihren Köpfen in den Himmel, wie um den neuen Tag zu krönen.

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