5 Warnende Worte

»Majestät, glaubt Ihr nicht, Ihr hättet jetzt genug Zeit auf diese erdgebundenen Zauberer verschwendet?« Elster zuckte zusammen und verfluchte sich innerlich für ihre eigene Furchtsamkeit, als in den dunklen Augen der Königin plötzlicher Zorn aufblitzte. Ich mußte natürlich wieder mal den Mund zu weit aufreißen, dachte sie.

»Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur anzudeuten, nach allem, was Aurian und Anvar für uns getan haben.« Rabe sprang von ihrem Platz auf und begann mit einer Miene, die von einem wütenden Stirnrunzeln verfinstert wurde, in ihrem reich ausgestatteten Gemach auf und ab zu laufen. »Du magst ja alt genug sein, um meine Großmutter zu sein, Elster, und du magst mir das Leben gerettet haben, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mir zu sagen, wie ich mein Königreich zu regieren habe!«

Elster zögerte, aber dann faßte sie einen Entschluß. Sie war jetzt ohnehin schon zu weit gegangen. Also konnte sie sich nun auch noch alles andere von der Seele reden. »Wenn ich es nicht tue, wer wird es dann machen?« konterte sie. »Ihr habt recht, Majestät, ich weiß wenig vom Regieren, aber ich habe viele Jahre auf dieser Welt zugebracht. Weil ich Ärztin bin, schenken mir die Leute ihr Vertrauen, und außerdem verstehe ich mich darauf, Augen und Ohren offen zu halten. Ihr seid jung, und trotz allem, was Eure Mutter Euch beizubringen versucht hat, habt Ihr kaum mehr Erfahrung im Regieren als ich. Da man Euch als königliches Kind isoliert großgezogen hat, habt ihr wenig oder gar keine Freunde im Palast. Königin Flammenschwinges Ratgeber sind alle unter Schwarzkralles Herrschaft umgekommen, und Ihr habt noch keine eigenen Ratgeber ernannt. Das ist nur eine der vielen wichtigen Verpflichtungen, die Ihr aufgeschoben habt, solange die Erdenkriecher all Eure Aufmerksamkeit und Zeit verschlungen haben. Nun, Ihr seid bisher noch nicht mal offiziell gekrönt worden, und das wird auch nicht passieren, bevor kein neuer Hohepriester ernannt ist: Noch eine Aufgabe, der Ihr Euch bisher entzogen habt. Aber seid gewarnt; wenn Ihr keine Wahl trefft, dann werden die Priester das für Euch tun – und ihre Wahl würde vielleicht eine andere sein als Eure und nicht notwendigerweise zu Eurem Besten ausfallen.«

»Verflucht – gib mir wenigstens eine Chance!« brauste die Königin auf.

»Ich tue das – aber Ihr habt Feinde in Aerillia, die das nicht tun werden.« Als die Ärztin sah, wie sich Sturmwolken auf Rabes Gesicht zusammenballten, milderte sie ihren Tadel mit einem Lächeln. »Wollt Ihr nicht wenigstens jemandem zuhören, der gerne Eure Freundin wäre? Ich biete Euch nur Informationen und Rat. Die Informationen könntet Ihr benutzen, selbst wenn Ihr beschließen solltet, den Rat in den Wind zu schlagen.«

»Was für Informationen? Und was meinst du mit Feinden? Wer wagt es, sich mir entgegenzustellen?« wollte die Königin wissen.

Völler Erleichterung darüber, daß das Mädchen endlich zu Verstand gekommen zu sein schien, setzte die Heilerin sich mit einem Rascheln ihrer schwarzweißen Schwingen bequemer auf dem spindeldürren Stuhl zurecht. Sie sah sich in Rabes behaglichem, von Lampenlicht erleuchteten Raum mit den goldbestickten Wandbehängen um und sehnte sich nach dem Frieden und der Vertrautheit ihres eigenen überfüllten, zugigen Quartiers. Doch dieses hatte sich bei dem Sturz von Schwarzkralles Turm zusammen mit dem ganzen Bezirk, in dem er gestanden hatte, zu Schutt und Asche verwandelt. Die Königin hatte Elster zum Dank dafür, daß sie ihr das Leben gerettet hatte – und sehr zum Unwillen der Heilerin selbst –, den Titel ›Königliche Leibärztin‹ verliehen. Ihr neues Quartier war viel luxuriöser und bequemer als das alte, aber es paßte Elster überhaupt nicht, daß Rabe nun ihr Kommen und Gehen kontrollieren konnte und das alleinige Anrecht auf ihre Fähigkeiten besaß; und aus langer Erfahrung wußte sie, daß es niemals bequem, friedlich oder auch nur sicher sein konnte, einem herrschenden Monarchen so nahe zu sein.

»Nun?« Rabes scharfe Stimme durchschnitt Elsters Gedanken. »Du scheinst ziemlich langsam mit deinen Antworten zu sein, denn noch vor ein paar Sekunden warst du so voller guter Ratschläge. Oder wolltest du mich nur einschüchtern?«

Elster seufzte. »Ich wünschte, ich wüßte die Namen Eurer Feinde«, gab sie zu. »Aber ich würde Euch zu größter Vorsicht raten, Majestät. Schwarzkralle hat viele heimliche Anhänger in dieser Stadt zurückgelassen. Seid wachsam gegenüber allen, in die Ihr Euer Vertrauen setzt.«

»Du hast mir nichts Neues erzählt, du nutzloses altes Weib! Wenn die Identität von Schwarzkralles Anhängern ein solches Geheimnis ist, wem kann ich dann, in Yinzes Namen, überhaupt noch trauen?« erwiderte Rabe schmollend.

Elster holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, daß die Königin – trotz all ihrer Macht – immer noch kaum mehr als ein Kind war. »Für gewöhnlich«, antwortete sie ruhig, »könnt Ihr jenen trauen, die bereit sind, sich Euren Zorn zuzuziehen, indem sie Euch unangenehme Wahrheiten sagen.«

»Wie überaus passend! In diesem Falle, nehme ich an, sollte ich dich wohl zu meinem obersten Ratgeber ernennen«, höhnte das geflügelte Mädchen.

»Ihr könntet es schlimmer treffen. Zumindest behaupte ich nicht, daß es Schwarzkralle war, der dem Winter ein Ende bereitet hat, und nicht die Magusch. Und ich streue auch keine Gerüchte aus, daß Ihr aus einer Vielzahl von Gründen nicht in der Lage seid zu regieren.«

Rabes Mund klappte auf. »Was für Gründe sollen das sein?« brachte sie mit leiser, erstickter Stimme hervor.

Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Unterhaltung hatte Elster das Gefühl, sich der vollen Aufmerksamkeit der Königin zu erfreuen. Also begann sie, die einzelnen Punkte an ihren Fingern abzuzählen: »Erstens heißt es, Aurians Zauberkünste seien nur ein Trick und Eure Flügel würden nicht mehr funktionieren, sobald die Magusch Aerillia verläßt und Euch als Krüppel zurückläßt …«

»Ungeheuerlich!« brauste Rabe auf. »Daß dies eine Lüge ist, wird sich in dem Augenblick zeigen, in dem die beiden Magusch abreisen.«

»Stimmt, aber um ihre Lügen zu verschleiern, behaupten die Leute auch, Ihr hättet Euch mit den natürlichen Feinden der Geflügelten verbündet: mit den Zauberern, den Xandim und den großen Katzen. Wegen der Vorfälle mit dem Xandim-Prinzen, der Schwarzkralles Verbündeter war …« Als Elster Rabes erschrockenes Gesicht sah, nickte sie wie zu einer stummen Entschuldigung. »Es tut mir leid, Euch Ungemach zu bereiten, Majestät, aber irgendwie hat sich diese bedauernswerte Angelegenheit herumgesprochen, und es ist besser, wenn Ihr es wißt. Es heißt, daß es wieder einmal Fremdländern gelungen sei, Euch zu übertölpeln, und daß Ihr uns an unsere Feinde verraten würdet. Die Königin, so sagen die Leute, ist zu jung und unerfahren, um das Himmelsvolk zu regieren.«

»Bei Yinze – wie können die Leute nur solche Lügen verbreiten!« Rabe schlug mit der Faust gegen die Wand, aber die Wucht ihres Schlages wurde von den schweren Wandbehängen gedämmt. »Das stimmt nicht – nichts von alledem stimmt!«

Die Heilerin verspürte den verzweifelten Wunsch, das unglückliche Mädchen zu trösten, aber die Königin zu verhätscheln würde keines ihrer Probleme lösen. Es war schwer, aber sie würde lernen müssen, mit solchen Krisen fertigzuwerden, und zwar schnell. »Also, was wollt Ihr jetzt unternehmen?« fragte Elster ruhig.

»Ich weiß es nicht«, jammerte Rabe. »Ich würde diese Leute als Verräter verhaften lassen, aber wir wissen ja nicht mal, wer sie sind … Und wie soll ich diesen gemeinen Verleumdungen begegnen? Wenn ich öffentlich dagegen protestiere, gibt das den Gerüchten nur neue Nahrung, und alles wird noch schlimmer.« Sie rang die Hände. »Ich hätte nie gedacht, daß es so schwierig ist, Königin zu sein …«

»Das muß es auch nicht«, erklärte ihr Elster gelassen. »Alles, was Ihr braucht, ist Rückhalt im Militär und bei der Priesterschaft – und erst in zweiter Linie beim Rest des Volkes.« Sie lächelte dem verzweifelten Mädchen zu und klopfte auf den Platz neben sich. »Komm her, Kind, setz dich und hör auf, dir solche Sorgen zu machen. Trink ein Glas Wein. So, und jetzt wollen wir zusammen nachdenken, ja?«

Gehorsam setzte sich Rabe hin und nahm den Kelch entgegen, den die andere Frau ihr darbot. Elster ließ ihr Zeit zu einem guten Schluck, bevor sie fortfuhr: »Als erstes schlage ich vor, stell dir einen Vorkoster ein. Als Ärztin habe ich umfangreiche Kenntnisse, was Gifte betrifft …«

Alle Farbe wich aus dem Gesicht der Königin. Sie begann zu husten.

»Es ist schon gut – ich habe nichts dergleichen getan«, übertönte Elster das Keuchen von Rabe und hoffte, daß diese ihre Lektion gelernt hatte. »Aber ich hätte es ohne weiteres tun können.«

Rabes Gesicht, das eben noch kalkweiß gewesen war, wurde schlagartig dunkelrot. »Hexe! Harpyie!« kreischte sie und stürzte sich mit ausgefahrenen Krallen auf die Ärztin. Elsters alte Knochen zeigten plötzlich eine Behendigkeit, die ihnen jahrelang gefehlt hatte, und sie umklammerte mit starken, knorrigen Händen Rabes Gelenke, die sie erst losließ, als diese wieder Ruhe gab.

»Genug!« keuchte die Ärztin und verfiel wieder in die ehrfurchtsvolle Anrede: »Verzeiht mir, Majestät, aber, das war eine Lektion, die Ihr lernen mußtet.«

Rabe funkelte sie sprachlos vor Zorn an – und dann, nach etlichen Sekunden, fand sie ihre Stimme wieder. »Wenn du mir so etwas noch einmal antust«, knurrte sie, »solltest du mich besser wirklich vergiftet haben, denn sonst lasse ich dir den Kopf abschlagen!«

»Wenn Ihr mir noch einmal Gelegenheit gebt, so etwas zu tun«, entgegnete Elster ungerührt, »möchte ich Euch vorschlagen, die Wachen mit Eurer eigenen Enthauptung zu beauftragen. Das würde nämlich Zeit sparen.«

Die Königin biß sich auf die Lippen, um eine wütende Erwiderung zu unterdrücken. Dann schüttelte sie den Kopf – und brach plötzlich in lautes Gelächter aus. »Weißt du, Elster, manchmal erinnerst du mich an Lady Aurian. Sie ist mit Dummköpfen genauso ungeduldig und geradeheraus wie du.« Ihr Gesicht wurde plötzlich nüchtern. »Und ich bin wirklich ein Dummkopf gewesen, nicht wahr? Da ich das Schicksal meiner Mutter kenne, hätte ich vorsichtiger sein müssen …« Sie runzelte die Stirn. »Aber sag mir eins: Wer würde den gefährlichen Posten eines Vorkosters der Königin annehmen wollen? Wie könnte ich einen Freund zu einem Leben in ständiger Gefahr verdammen? Und andererseits – wie könnte ich einem Feind vertrauen? Wem soll ich eine solche Aufgabe geben?«

»Cygnus.« Der Name war Elster über die Lippen gerutscht, noch bevor sie wußte, wie ihr geschah.

Rabes Augen weiteten sich vor Überraschung. »Aber warum? Du hast ihn selbst ausgebildet. Er hat dir geholfen, mir das Leben zu retten. Cygnus ist doch ein Freund – oder?«

Wie soll ich ihr das erklären? überlegte Elster. Die Königin hatte keine Ahnung, daß Cygnus für das Gift verantwortlich war, an dem ihre Mutter gestorben war. Und außerdem hatte er gebüßt und bereut – oder vielleicht nicht? Es hatte keinen Sinn. Die Ärztin mochte sich noch so sehr als törichte alte Frau beschimpfen und sich übermäßigen Argwohn vorwerfen, aber ein gewisses Gefühl des Mißtrauens gegenüber Cygnus ließ sich nicht abschütteln. Wer auch immer diese Gerüchte verbreitet hatte, wußte eindeutig zuviel – und wer wußte mehr als sie selbst und Cygnus? Andererseits konnte sie ihn ohne Beweise kaum anklagen. Nein, wahrscheinlich war der beste Platz, um den jungen Heiler von weiterem Unheilstiften abzuhalten, der Platz direkt an der Seite der Königin – wo ich ihn im Auge behalten kann, dachte Elster. Und ich werde ihn beobachten wie ein Habicht.


»Ihr müßt Geduld haben mit der Königin, meine Freunde, sie ist ja fast noch ein Kind.« Cygnus ließ seinen Blick von einer der drei Gestalten, die mit ihm am Tisch saßen, zur nächsten wandern. Aguila, der Hauptmann der Königlichen Wache, war mit Sicherheit der härteste Brocken. Der junge Arzt würde, was ihn betraf, sehr vorsichtig sein müssen, denn der Mann hatte geschworen, die Königin zu beschützen. Die beiden anderen stellten ein geringeres Problem dar: Skua, der nach Schwarzkralles Dahinscheiden zum stellvertretenden Hohepriester bestellt worden war, war überdies der Chef der Tempelwache und würde alles dafür tun, seine augenblickliche Position offiziell bestätigt zu sehen. Was den Anführer der Syntagma, Aerillias Kriegerelite betraf – nun ja, Sonnenfeder war Cygnus’ engster Freund gewesen, seit sie beide flügge geworden waren. Nach dem Unfall, der den hübschen jungen Krieger beinahe das Leben gekostet und Cygnus veranlaßt hatte, den Weg des Schwertes zugunsten des Weges der Heilung aufzugeben, war Sonnenfeders Aufstieg in den Reihen der Syntagma geradezu kometenhaft gewesen. Oft hatte der Heiler darüber nachgesonnen, daß wohl die Nähe zum Tod seinen Freund verändert hatte: nach dem Unfall stürzte er sich mit gierigen Händen auf alles, was das Leben ihm zu bieten hatte. Als der damalige Flügelmarschall, der es gewagt hatte, sich Schwarzkralle in den Weg zu stellen, durch einen mysteriösen Unfall ums Leben kam, war Sonnenfeder nur allzu bereitwillig in dessen Fußstapfen getreten.

Es war immer gut, überlegte Cygnus, Freunde in hohen Positionen zu haben. Nachdem sein erster Versuch, Aurian und Anvar loszuwerden und sich die Harfe der Winde aus dem eingestürzten Tunnel unter dem Tempel zu holen, gescheitert war, hatte er sich das Gehirn nach einer Alternative zermartert. Obwohl ihm bisher noch nichts Rechtes eingefallen war, hatte er beschlossen, daß der erste Schritt darin bestehen müsse, einen Keil zwischen Königin Rabe und die beiden Magusch zu treiben. Trennen und erobern, wie seine alten Lehrer beim Militär ihm immer vorgebetet hatten. Und heute würde er damit anfangen. Während er sich räusperte und das unangenehme Gefühl der Nervosität in seinem Magen niederkämpfte, richtete er das Wort an die anderen: »Ich habe diese Sitzung einberufen, damit wir vier darüber nachdenken können, was zum Besten unseres Volkes zu tun ist – und zum Besten der Königin natürlich«, fügte er hastig und mit einem Seitenblick auf Aguila hinzu.

Der hübsche Hauptmann mit dem lohfarbenen Haar sah ihn unbeeindruckt an. »Das will ich doch hoffen«, meinte er unverblümt. »Königin Flammenschwinges tragisches Schicksal ist eine Schande, von der sich die Königliche Wache sobald nicht erholen wird, und ich habe einen feierlichen Eid geschworen, daß ihrer Nachfolgerin so etwas nicht passieren wird. Deine heimliche Versammlung hier stinkt nach Verrat, Cygnus, und um deinetwillen solltest du mich jetzt besser schnell vom Gegenteil überzeugen.«

Cygnus fluchte innerlich. Nach Schwarzkralles Tod hatte sich für viele über Nacht das Blatt gewendet, und die Führung der Militärkräfte von ganz Aerillia hatte eine rasche Wandlung durchlaufen. Und ausgerechnet dieser loyale, gewissenhafte, niedrig geborene Holzkopf hatte die Kontrolle über die königliche Wache an sich gerissen! Jetzt mußte Cygnus schnellstens etwas einfallen, damit die Situation nicht außer Kontrolle geriet!

»Du tust mir Unrecht, Hauptmann«, sagte der Arzt mit verletzter Stimme. »Du solltest wissen, daß ich mehr als irgend jemand sonst der Königin treu ergeben bin. Also wirklich, habe ich nicht zusammen mit Elster alles daran gesetzt, ihr Leben nach dem schändlichen Angriff des Hohepriesters zu retten? Hatte Schwarzkralle nicht die Absicht, auch mich zu töten? Jeden Tag danke ich Yinze, daß Ihre Majestät jetzt in Sicherheit ist und endlich den Thron für sich beanspruchen kann, der ihr rechtmäßig gehört.« Er betrachtete die Gesichter seiner Kameraden, um die Wirkung seiner Worte abzuschätzen, und fuhr ermutigt fort:

»Was ich jetzt zu sagen habe, ist nur zum Besten der Königin und ihrer Untertanen. Kann es wirklich Gutes für Aerillia bedeuten, wenn sich seine Regentin mit fremdländischen, erdgebundenen Zauberern verbündet hat? Habt ihr denn alle die bitteren Lektionen der Verheerung vergessen?«

»Davon weiß ich nichts, aber mir scheint, daß du ein oder zwei unbequeme Tatsachen vergessen hast«, knurrte Aguila. »Zum einen haben wir den Fremden dafür zu danken, daß sie uns von Schwarzkralle befreit und Königin Rabe auf den Thron gesetzt haben. Sie haben lange und hart gearbeitet, seit sie hierherkamen, um unser Korn wieder wachsen zu lassen und ganz Aerillia vorm Hungertod zu bewahren.« Er beugte sich über den Tisch und fixierte den wutschnaubenden Cygnus mit einem brennenden Blick. »Und außerdem«, fuhr er fort, »wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, so war es Incondor, ein Geflügelter, der die Verheerung heraufbeschworen hat. Ihn trifft haargenau soviel Schuld wie den erdgebundenen Zauberer Chiannala.«

»Nun mal langsam, Freund Aguila«, warf Sonnenfeder glattzüngig ein. »Niemand würde deine Worte bestreiten, aber ich glaube, du hast unseren Freund mißverstanden. Ihm liegen nur die Interessen aller am Herzen. Die Erdenkriecher haben eine führende Rolle gespielt, das stimmt, aber was wird der Preis für ihre Hilfe sein? Im Augenblick sind sie der Grund dafür, daß Ihre Majestät ihre wichtigsten Pflichten vernachlässigt. Zu einer Zeit, da wir uns das am wenigsten leisten können, spricht sie davon, unsere Streitkräfte zu verringern und unsere Männer zum Kampf in einen fremden Krieg der Magie zu schicken.«

»Genau«, unterbrach ihn Skua. »Vergessen wir nicht, was uns in der Verheerung widerfahren ist? Nachdem wir unsere Magie verloren hatten, haben die Geflügelten geschworen, sich niemals mehr mit den Zauberern zu verbünden.« Er legte seine Hände flach auf den Tisch und blickte ernst von einem zum anderen. »Meine Freunde, ich glaube, Cygnus hat recht. Die Königin ist nur ein junges Mädchen, schutzbedürftig und außerdem dringend auf Rat und Leitung angewiesen. Es ist unsere Pflicht und Verantwortung, ihr zur Seite zu stehen – und anfangen müssen wir, indem wir sie von ihren erdgebundenen Freunden weglocken und unser Land von dieser fremdländischen Infektion befreien.«

»Das finde ich auch.« Sonnenfeder nickte. »Aguila, dein Argwohn ist völlig unangebracht. Schwarzkralle hat keine Macht mehr in Aerillia und …«

»Jawohl – aber es mag durchaus noch Leute geben, die ihn vermissen.«

Bei den Worten des Hauptmanns hob Sonnenfeder seine kupferroten Schwingen ein Stück in die Höhe und legte eine Hand auf sein Schwert. »Ich erwarte, du erklärst, wie du das gemeint hast, und entschuldigst dich«, zischte er. »Oder du machst dich bereit, deine bösartigen Verleumdungen in der Arena des Himmels zu verteidigen!«

Aguila sah ihn ungerührt an, aber auch er hatte eine Hand auf seine Waffe gelegt. »Es kommt mir so vor«, antwortete er mit trügerischer Sanftheit, »als sei der Hohepriester verantwortlich für deinen Aufstieg in deine augenblickliche Stellung. Ich möchte lediglich ein für allemal das Ausmaß deiner Loyalität der Königin gegenüber feststellen.«

Cygnus, der zu spät begriff, daß ihm die Kontrolle über diese Versammlung entglitten war, versuchte, die Spannung ein wenig zu lockern. »Bitte, meine Freunde, es besteht keinerlei Notwendigkeit für solchen Argwohn zwischen uns. Aguila, du hast den Flügelmarschall falsch eingeschätzt. Wie ihr alle wißt, war Sonnenfeder von Kindesbeinen an mein Gefährte, und wir haben uns auch im Laufe der Jahre nie aus den Augen verloren. Ich kenne die Gründe, warum er seine Stellung aus den Händen Schwarzkralles angenommen hat, denn er hat sich mir von Anfang an anvertraut. Ich war es, der ihm den Rat gab, die Beförderung anzunehmen – denn ich wußte, auf diese Weise würde seine Autorität groß genug sein, um unserem Volk im verborgenen zu helfen und die schlimmsten Pläne des Hohepriesters zu vereiteln. Was er tat, tat er aus den besten aller Gründe – so wie wir alle.«

»Ich verstehe. Nun, wenn das wirklich der Fall ist, bitte ich ihn um Verzeihung«, antwortete Aguila, obwohl Cygnus argwöhnte, daß seine Worte mehr der Vorsicht als wahrer Überzeugung entsprangen. »Ihr müßt verstehen, daß ich als Beschützer der Königin die Pflicht habe, diese Fragen zu stellen«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich gebe jedoch zu, daß es vernünftig klingt, was du sagst. Ich sehe auch keinen Sinn darin, unsere Krieger in einen fremden Krieg zu schicken, während wir unsere Position hier in Aerillia festigen sollten, und was das betrifft, werde ich mich bei Königin Rabe auf eure Seite stellen.«

Nur mit allergrößter Mühe gelang es Cygnus, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken.

»Gut«, antwortete er. »Ich bin euch allen für eure Mithilfe dankbar, und ich schlage vor, daß wir morgen der Königin unseren Fall vortragen.«


Es konnte nur ein vorübergehendes Wunder sein, dachte Rabe – aber bei Yinze, solange es anhielt, war es einfach unglaublich! Das geflügelte Mädchen, jetzt Königin des Himmelsvolkes, ließ sich aus dem warmen Aufwind, in dem sie gekreist war, herausgleiten und flog auf die niedrigeren Hänge des Aerilliagipfels zu. Sollten die Leute doch sagen, was sie wollten, dachte sie, zumindest habe ich in meiner kurzen Regentschaft dieses eine Wunder zustande gebracht.

Dort, auf den von Hand aus den Steinen gehauenen Terrassen unterhalb der Zitadelle der Geflügelten, hatten sich die Leute an ein gewaltiges Projekt der Beackerung fruchtbaren Landes gemacht, und jeder, der einer solchen Arbeit gewachsen war, angefangen von den Ältesten mit ihrem zottigen Gefieder bis hin zu den kleinsten, gerade erst flügge gewordenen Kindern, beteiligte sich an der Arbeit. Rabe blickte voller Stolz auf ihre Untergebenen hinunter, die alle emsig damit beschäftigt waren, zu roden, zu pflanzen und zu säen, und plötzlich spürte sie, wie sich ihre Raubvogelaugen mit Tränen der Dankbarkeit und Erleichterung füllten. Das alles verdanke ich den Magusch, dachte sie. Aurian und Anvar. Obwohl ich sie verraten habe, sind sie mir so großherzig zu Hilfe gekommen.

Rabe krümmte sich innerlich bei dem Gedanken an ihre Dummheit. Um ein Haar hätte sie sie alle ins Verderben gestürzt! Wie konnte ich mich nur von Aurians Feinden übertölpeln lassen? Leuten, die auch meine Feinde sind. Wie einfältig ich doch war, überlegte sie. Aurian mochte ihr vielleicht verzeihen, aber die junge Königin des Himmelsvolkes fühlte sich nicht imstande, sich selbst zu verzeihen – und das verschlimmerte ihr Schuldbewußtsein bezüglich der Neuigkeiten, die sie den Magusch mitzuteilen hatte, nur noch mehr.

»He, Rabe!«

Das geflügelte Mädchen wandte sich mit einer scharfen Bewegung in die Richtung, aus der der Ruf erklang, und sah Aurian, die neben Anvar auf einem Erdwall am Ende einer Reihe von Reben stand und ihr zuwinkte. Rabe biß sich auf die Lippen, und ihr Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken an das, was ihr jetzt bevorstand. Die Magusch würden wahrhaftig nicht glücklich sein über die Nachricht, die sie ihnen übermitteln mußte – noch ein Grund mehr, die Sache schnell hinter sich zu bringen. Sie legte ihre Flügel an, landete neben den beiden auf dem Boden und mußte sich gleich darauf auch schon wieder bei ihnen entschuldigen, weil sie ihnen mit ihrem Manöver ganze Staubwolken ins Gesicht geblasen hatte.

Aurian hustete den Schmutz aus der Kehle und wischte sich mit dem Ärmel über die tränenden Augen. »Ich stelle fest, an deinen Wirbelwindlandungen hat sich nichts geändert«, meinte sie trocken.

»Du hast recht«, gestand Rabe ein. »Meine Mutter hat immer gesagt …« Ihre Züge verzogen sich zu einer gequälten Grimasse.

»Denk nicht daran.« Aurian legte dem geflügelten Mädchen die Hände auf die Schultern. »Rabe, du kannst die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Du hast gebüßt, und was wichtiger ist, du hast aus deinen Fehlern gelernt. Jetzt tust du dein Bestes, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Du hast versprochen, uns bei unserem Kampf zu helfen. Und mit deinen geflügelten Kriegern sind unsere Aussichten viel besser als zuvor, obwohl ich weiß, wie schwer es dir fällt, sie ausgerechnet jetzt ziehen zu lassen, da du doch hier, in deinem eigenen Königreich, alle Hände voll zu tun hast.«

Rabe wagte nicht, den beiden Magusch in die Augen zu sehen. »Genau darum geht es«, murmelte sie. »Ich …« Sie sah keine Möglichkeit, das, was sie zu sagen hatte, zu beschönigen. »Aurian, sie werden nicht mitkommen«, platzte sie heraus. »Ich habe den ganzen Morgen mit den noch verbliebenen Soldaten der Tempelwache, den Offizieren der Königlichen Wache und der Syntagma zugebracht. Sie sagen alle dasselbe: Daß es Wahnsinn wäre, unser Land zu einer Zeit, da wir am verletzlichsten sind, schutzlos zu lassen. Und daß seit den Zeiten der Verheerung die erdgebundenen Zauberer nichts anderes als unsere Feindschaft verdient hätten.«

»Sie sagen was?« rief Anvar mit eisigem Zorn in den blauen Augen. Mit einer ausladenden Geste wies er auf die grünenden Terrassen. »Das nennen sie nichts?« fuhr er auf. »All die Arbeit, die Aurian geleistet hat, um diese undankbaren Bastarde vor dem Hungertod zu bewahren? Und was ist mit Schwarzkralle? Wenn ich nicht gewesen wäre, gehörte dieses verdammte Königreich nicht einmal dir …«

»Ohne den Rückhalt der Krieger tut es das auch nicht!« rief Rabe. »Das haben sie mir bereits klargemacht«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu, während die beiden Magusch entsetzt schwiegen. »Es war Elster, die mich gewarnt hat. Trotz seiner Grausamkeiten hatte Schwarzkralle viele Anhänger, vor allem bei den Militärs, denn sie glaubten ja, er versuche, die alte Selbstachtung und Vorherrschaft der Geflügelten wiederherzustellen. Wie sonst, glaubt ihr, hätte er solchen Erfolg haben können?« Eine bittere Schärfe schlich sich in ihre Stimme. »Sein einziger Fehler war der Mord an meiner Mutter. Selbst für jene, die ihm treu ergeben waren, ging das zu weit, aber auch heute noch gibt es Leute in Aerillia, die behaupten, der Einzug des Frühlings hätte nichts mit Anvar zu tun. Daß es Schwarzkralle gewesen sei, der dem Winter wie versprochen ein Ende bereitet habe – und das um den Preis seines eigenen Lebens.«

»Aber das ist eine verdammte Unverschämtheit!« Aurian runzelte die Stirn. »Weißt du, ich hatte schon das Gefühl, Feindseligkeit bei den Leuten zu spüren, während ich meine Arbeit hier getan habe. Aber dann habe ich mir gesagt, daß es sich lediglich um Mißtrauen gegenüber einem ausländischen Zauberer handelt. Wer hat denn diese lächerlichen Gerüchte überhaupt in die Welt gesetzt? Wie ist es möglich, daß die Leute so etwas glauben?«

»Ich wünschte, ich wüßte, wer dafür verantwortlich ist«, sagte Rabe. »Wegen der Sache mit Harihn ist meine Macht über das Himmelsvolk bestenfalls dürftig zu nennen, und die Tatsache, daß ich einen heimlichen Feind habe, der hinter meinem Rücken solches Gift verspritzt, macht mir angst. Eure selbstlose Arbeit für unsere nächste Ernte hat meine Position gestärkt – aber …«

»Aber das reicht nicht.« In Aurians Worten lag eine grimmige Endgültigkeit.

Rabe nickte. »Nicht nur das, sondern …« Sie schaute zu Anvar auf und bat ihn schweigend und mit flehenden Blicken um Verständnis. »Das Auftauchen der Harfe hat großen Widerwillen ausgelöst. Die Leute glauben, Anvar habe kein Recht, sie für sich zu beanspruchen. Erst heute noch meinte Sonnenfeder, der Flügelmarschall der Syntagma, die Harfe solle ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden: den Geflügelten. Die Hoffnung, unsere so lange verlorenen magischen Kräfte wiederzuerlangen, ist eine mächtige und gefährliche Verlockung. Bei all dem Groll, der sich gegen euch aufbaut, ist es hier nicht mehr sicher für euch …«

»Verdammt noch mal, Rabe, der einzige Grund, warum wir überhaupt geblieben sind, war der, daß wir deinem Volk helfen wollten«, begann Anvar erhitzt.

Aurian brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. »Es wird ohnehin Zeit, daß wir aufbrechen«, sagte sie gelassen. Nur das kalte graue Funkeln in ihren Augen verriet ihre wahren Gefühle. »Statt deine Autorität zu stärken, Rabe, macht unsere Anwesenheit die Dinge wahrscheinlich nur noch schlimmer – und außerdem müssen wir wirklich schleunigst zurück nach Norden. Kannst du immer noch veranlassen, daß uns jemand zur Xandim-Festung bringt?«

»Das bin ich euch schuldig. Das und so vieles mehr.« Tränen traten in Rabes Augen. »Du hast mir das Geschenk des Fluges zurückgegeben …« Sie holte tief Luft und bemühte sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten. »Meine Leute haben mich beschämt, Aurian, aber ich werde meinen Verrat an euch wiedergutmachen, das verspreche ich. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Einige meiner Untertanen sind mir immer noch treu ergeben und werden euch als Träger und Kuriere dienen, bis ihr den Ozean überquert habt und in den Norden zurückgekehrt seid. Ich werde sofort alles Notwendige veranlassen.« Zu beschämt, um noch mehr zu sagen, erhob sie sich wieder in die Luft und flog zurück zu den im Sonnenlicht funkelnden Zinnen der Zitadelle.


Mit düsteren, kalten Augen sah Anvar zu, wie Rabe davonflog. Der Zorn, der sich seiner bemächtigt hatte, ließ sich nicht länger zurückhalten. Aurian, die seinen Blick auffing, hob fragend eine Augenbraue. »Stimmt sie dich immer noch so böse? Für diese Situation kannst du sie jedenfalls kaum verantwortlich machen.«

Anvar holte tief Luft. »Ich habe nie begriffen, wie du ihr verzeihen konntest.« Seine Stimme war tonlos und unbarmherzig. »Nach allem, was sie uns angetan hat – nach dem, was aus Wolf geworden ist –, wie konntest du da einfach so tun, als sei nichts geschehen? Wie konntest du nur so ruhig bleiben?« Die Windharfe, die er sich wie immer auf den Rücken geschnallt hatte, stimmte, angestachelt von seinem Zorn, eine mißtönende Melodie an, und Anvar brachte sie hastig zum Schweigen, auch wenn es ihn beträchtliche Anstrengung kostete. Wie Aurian in den frühen Tagen ihrer Verwalterschaft des Erdenstabes, hatte auch er noch immer gewisse Probleme bei der Beherrschung des mächtigen Artefakts.

Aurian, die sich mit den Ellbogen auf die zerfallende Trockensteinmauer der Terrasse gestützt hatte, drehte sich um und sah ihn an. »Anvar, brich nicht allzuschnell den Stab über sie. Zumindest hat Rabe niemanden getötet. O ja, sie hat Situationen heraufbeschworen, die einigen Menschen den Tod hätten bringen können, aber vergiß nicht, daß sie manipuliert wurde. Ihr größtes Verbrechen bestand darin, zu jung und unerfahren zu sein und den falschen Leuten zu vertrauen.«

Anvar schüttelte abwehrend den Kopf. »Na schön, jemand hat sie getäuscht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie uns verraten hat!«

»Stimmt.« Aurian wandte ihren Blick ab. »Aber ich erinnere mich da an ein junges Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit dem Erzmagusch vertraut hat, und …«

»Aber das ist doch nicht dasselbe, Aurian!«

»Ach nein?« Aurians Lippen hatten sich zu einer schmalen Linie verzogen. »Ich habe doch gesehen, wie er die Sterblichen in Nexis verachtet hat. Hätte ich da nicht begreifen müssen, was für ein Mensch er war? Nach der Art, wie er dich behandelt hat, hätte ich da nicht wissen müssen, daß er von Grund auf böse ist? Als er versuchte, mir seinen Willen aufzuzwingen, hätte ich nicht spätestens da der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen?«

Anvar fügte in Gedanken jene Worte hinzu, die sie ungesagt ließ: »Und wenn ich das getan hätte, dann hätte Forral nicht zu sterben brauchen …«

»Das war nicht deine Schuld«, wiederholte er hartnäckig.

»Genau!« erwiderte Aurian triumphierend. »Ich habe dich gebraucht, um das zu begreifen – und es besteht kaum ein Unterschied zwischen Rabes Situation und meiner – ganz zu schweigen von deiner eigenen.«

»Was?« fragte Anvar fassungslos.

Aurian ergriff seine Hand. »Denk doch mal nach, mein Liebster. Denk an den jungen Mann, der früher einmal ein Mädchen so sehr geliebt hat, daß er ihm alles andere geopfert hätte, obwohl sie versucht hat, seinen Tod herbeizuführen, und ihn im Stich gelassen hat, um zuerst einen reichen Kaufmann und dann einen mächtigen König zu heiraten.«

Anvar prallte zurück, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Der blinde Wahn seiner Liebe zu Sara war kein Thema, das er gerne erörterte. »Ich …«, begann er zu protestieren, aber es gab keine Antwort auf Aurians Anschuldigung. Anvar spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Sie hatte recht – sosehr es ihn schmerzte, das zugeben zu müssen. Plötzlich sah er das geflügelte Mädchen in einem anderen Licht.

Aurian drückte entschuldigend seine Hand. »Rabe hat sich verändert«, sagte sie sanft. »Sie ist erwachsen geworden – genau wie wir. Sie weiß es jetzt besser. Sie hat für ihre Dummheit bezahlt, genauso wie du und ich. Verdient sie nicht auch eine Chance, ihre Fehler wiedergutzumachen?«

Anvar seufzte. »Ich verstehe, was du meinst – aber, Aurian, wie kannst du ihr vertrauen? Wie kannst du sicher sein, daß sie diese Gerüchte nicht selbst in Umlauf gesetzt hat, um uns loszuwerden? Hast du dich denn nie gefragt, ob sie die Harfe begehrt?«

Aurian zuckte mit den Schultern. »Ich vertraue ihr keineswegs blind – das wäre mehr als dumm von mir. Aber für den Augenblick bin ich bereit, die Dinge im Zweifelsfall zu ihren Gunsten auszulegen. Wenn die Situation so heikel ist, wie sie behauptet, dann hat Rabe mehr als genug zu tun mit ihren eigenen Schwierigkeiten.«

Anvar bohrte seine Stiefelspitze in die frisch umgegrabene Erde. »Das geschieht ihr ganz recht. Was mich betrifft, haben sich die Himmelsleute als genauso arrogant, undankbar und verräterisch erwiesen, wie die Legenden es behaupten. Sollen sie ruhig hier oben bleiben und sich gegenseitig an den Kragen gehen bis zum Ende aller Tage – aber …« Ein feuriges Blitzen stand in seinen Augen. »Wenn einer von ihnen versuchen sollte, mir die Harfe zu stehlen, dann wird er den Tag verfluchen, an dem er geboren ist!«

Aurian schloß ihn in ihre Arme. »Wenn jemand dumm genug wäre, das zu versuchen, dann müßte er es mit uns beiden aufnehmen!« Achselzuckend schob sie den Gedanken an die Geflügelten beiseite. »Wir haben alles, was in unserer Macht stand, für die Bürger von Aerillia getan. Jetzt wird es Zeit, daß wir unsere Gedanken wieder auf unsere Reise nach Norden konzentrieren. Außerdem kann es nicht mehr lange dauern, bis unsere Verbündeten die Xandim-Festung erreichen.«


Rabe, die mit kräftigen Schlägen ihrer kürzlich erst geheilten Schwingen auf den Gipfelpalast zuflog, blickte mit einer Mischung aus Stolz und Kummer hinunter auf den schimmernden Wald aus Türmen, Domen und Kuppeln. Sie war jetzt Königin, und all dies gehörte ihr – genauso wie die Lasten und die Verantwortung, die mit der Herrschaft einhergingen, rief sie sich ungehalten ins Gedächtnis und schämte sich erneut für das Verhalten ihres Volkes. Die grausame Herrschaft Schwarzkralles war zu Ende, und der unbarmherzige Winter, der so viele Geflügelte dahingerafft hatte, war bezwungen – aber um welchen Preis? Traurig blickte sie zu der zerstörten Ruine des Yinze-Tempels empor – er war ein schauerliches Bauwerk gewesen, aber wieviel unwiederbringliches Wissen mochte unter dem Berg gefallener Steine verlorengegangen sein?

Das geflügelte Mädchen richtete seinen Blick nun wieder nach unten, auf diese gewaltige Wunde in den Bergen, an der Stelle, an der der Turm des Hohepriesters eingestürzt war und so viele geringere Unterkünfte – und Menschenleben – mit sich in die Tiefe gerissen hatte. Dann suchten ihre Augen den Turm der Königin, ihren Bestimmungsort – und den Ort, an dem ihre Mutter unter furchtbaren Qualen den Tod gefunden hatte. Und noch immer lauerte irgendwo Schwarzkralles Vermächtnis; es würde lange, sehr lange dauern, falls es überhaupt je gelingen konnte, seinen bösartigen Einfluß mit Stumpf und Stiel auszureißen. Rabe seufzte, nahm sich dann jedoch ein Beispiel an der unerschrockenen Aurian und hob stolz das Kinn. Nun, so sei es. Nichts konnte diese Opfer ungeschehen machen – und Flammenschwinge, ihre Mutter, hatte ihr wieder und wieder eingeschärft, daß kein Opfer vergeblich sein würde, solange es nur wirklich und wahrhaftig zum Besten ihres Volkes war. Als Königin wußte Rabe, daß sie – und nur sie allein – für das Wohl des Volkes sorgen mußte. Und bei Yinze, das würde sie auch tun!

»Eure Majestät – Eure Majestät! Bitte …«

Die schrille, piepsige Stimme, die die Königin der Geflügelten aus ihren königlichen Gedanken gerissen hatte, endete mit einem erschrockenen Aufkreischen – und dem zornigen Brüllen eines Wachpostens. Rabe hielt inne und kreiste kurz über der Stelle, von der das Geräusch gekommen war, um den Grund für den Aufruhr herauszufinden. Dann weiteten sich ihre Augen vor Überraschung, als sie auf einem Balkon der näher gelegenen Türme ein kleines braunflügeliges Kind in der unerbittlichen Umklammerung eines finster dreinschauenden Wachmanns sah. Das kleine Mädchen trat fluchend um sich und stieß Beschimpfungen aus, die eigentlich kein Kind kennen dürfte. Rabes Lippen zuckten, und mit einem unwillkürlichem Lächeln dachte sie an ihre eigene rebellische Kindheit zurück. Also schob sie ihre Sorgen für den Augenblick beiseite und zwang ihrem Gesicht einen Ausdruck königlicher Würde auf, bevor sie zu dem Turm hinüberflog, um den kleinen Eindringling selbst zu befragen.

»Laß mich los! Du dreckiger Aasfresser! Zu was Besserem taugst du nämlich nicht, als einem verwesenden Leichnam das Fleisch abzupicken! Laß mich …« Die Worte gingen in einem lauten Wimmern unter, als der Wachposten seiner Gefangenen eine Ohrfeige gab.

»Gütiger Himmel – wer hat dir bloß solche Ausdrücke beigebracht?« Rabe hielt es für angebracht, einzuschreiten, bevor die Angelegenheit weiter ausuferte.

Das Kind, das zu beschäftigt mit seinem Geschrei gewesen war, um die Ankunft der Königin zu bemerken, drehte abrupt den Kopf, und sein Mund formte ein »Oh!« der Überraschung, das sich schnell in Entsetzen verwandelte. »Euer Majestät!« stieß die Kleine hervor, wand sich in den Armen der Wache hin und her, und versuchte verzweifelt, sich höflich zu verbeugen.

Rabe kämpfte eine Woge der Zärtlichkeit nieder. Am liebsten hätte sie die braunen Locken des kleinen Mädchens zerzaust. Statt dessen sagte sie nun mit strenger Stimme: »Was hat das zu bedeuten? Warum versuchst du, in den Palast einzudringen?«

»Ich habe sie schon einmal erwischt, Euer Majestät«, unterbrach der Wachposten sie. »Das kleine Biest hat versucht, sich ins Thronzimmer zu schleichen. Wollte mir einen gewaltigen Bären aufbinden, von wegen einer dringenden Nachricht für Euch. Ich habe sie vorhin schon weggeschickt, aber irgendwie hat sie sich wieder angeschlichen …«

»Still!« befahl Rabe ihm. »Sind wir denn immer noch in den Händen eines Tyrannen, daß du Kinder schikanierst? Und jetzt laß sie endlich los, um Yinzes willen. Wenn sie eine Nachricht für mich hat, wird sie wohl kaum davonfliegen.« Dann wandte sie sich wieder an das kleine Himmelsmädchen. »Nun, mein Kind, wie heißt du? Und was ist das für eine Botschaft, die du deiner Königin bringen willst?«

Das Kind, das dem Griff der wütend dreinschauenden Wache endlich entrinnen konnte, strich in dem vergeblichen Versuch, ein wenig würdiger zu erscheinen, seinen Rock glatt und neigte abermals die Flügel vor seiner Königin. »Vielen Dank, Euer Majestät«, piepste sie. »Wenn es Euch interessiert, mein Name ist Linnet. Und ich habe wirklich eine Nachricht – eine wichtige sogar – von der Katze Hreeza.«

»Du warst also das tapfere Kind, das sie gerettet hat!« sagte Rabe. Sie war sehr erstaunt gewesen, als sie von Aurian erfahren hatte, daß ein Mitglied ihres Volkes – und noch dazu ein kaum flügge gewordenes Kind – in der Lage war, sich mit Hilfe von Gedankenrede mit den großen Katzen zu verständigen. Sie hatte eigentlich vorgehabt, in dieser Sache weitere Nachforschungen anzustellen, aber … Mit einem ungeduldigen Achselzucken fegte Rabe ihre Gedanken beiseite. Jetzt jedenfalls war das Kind hier. »Und wie lautet diese Botschaft?« fragte sie.

Linnet warf der Wache einen finsteren Blick zu. »Sie hat gesagt, es sei persönlich.«

Die Königin lachte. »Na, dann komm mit, Kleine. Wir werden uns in meine Gemächer begeben und feststellen, ob wir da eine Erfrischung finden, wie sie einem königlichen Boten zusteht.«


»Sie hat was gesagt?«

Linnet zuckte angesichts der Eindringlichkeit, mit der die Königin sprach, zusammen. In was für Schwierigkeiten hatte diese verflixte Katze sie jetzt schon wieder gebracht? Würde man sie nun in Schande aus diesen gemütlichen königlichen Gemächern werfen? Ich habe Hreeza schon gesagt, ihre Idee sei verrückt, dachte sie reuig. Linnet nahm noch einen gewaltigen Bissen von dem süßen Kuchen in ihrer Hand – er schmeckte so gut, und wenn man sie wirklich hinauswerfen würde, konnte sie genausogut … Aber weiter kam sie nicht mehr, denn der süße Kuchen geriet ihr, was keineswegs verwunderlich war, in die falsche Kehle.

Als die Königin aufhörte, ihr auf den Rücken zu klopfen, und ihr ein Glas Wasser zu trinken gereicht hatte, hatte Linnet die ursprüngliche Frage bereits vergessen. Sie errötete vor Verlegenheit, als Königin Rabe wiederholte: »Also Linnet, dann erzähl mir noch einmal, was genau Hreeza gesagt hat.«

»Sie sagte, sie habe eine dringende Bitte.« Linnet runzelte konzentriert die Stirn und bemühte sich, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. »Sie läßt fragen, ob Ihr bereit wäret zu warten, bis die anderen fort sind, die Magusch und die Katzen, und ob Ihr ihr dann Träger zur Verfügung stellen würdet, die sie in das Land ihres Volkes zurückbringen.«

»Aber in Yinzes Namen, wozu soll das gut sein?« Die Königin sah Linnet ratlos an. In ihrer Betroffenheit schien sie ganz vergessen zu haben, daß sie mit einem Kind sprach. »Shia meinte, sie und ihr Freund seien Gesetzlose in ihrem eigenen Land und könnten nicht zurückkehren, ohne ihr Leben dabei aufs Spiel zu setzen …«

»Das ist ja auch der Grund, warum es ein Geheimnis bleiben muß«, erklärte ihr Linnet. »Wenn die anderen es nämlich herausfänden, würden sie sich große Sorgen machen und sie nicht gehen lassen. Hreeza sagt, daß ihre Königin böse sei – ganz anders als Ihr«, fügte das Kind hastig hinzu und errötete. »Und wenn niemand die Sache mit ihr regelt, wird die böse Königin immer eine heimliche Gefahr für Aurian darstellen. Aber Hreeza hat einen Plan – einen wunderbaren Plan. Wenn es ihr nur gelänge, schnellstens nach Hause zu kommen …«

»Nun mal langsam!« Stirnrunzelnd hob die Königin eine Hand, um das Mädchen zum Schweigen zu bringen. »Linnet, du solltest besser mit mir kommen und noch einmal mit Hreeza reden. Wenn du für mich übersetzt, könnte ich mir diesen Plan selbst anhören. Was die Magusch dazu sagen würden, wenn sie davon wüßten …«

Linnet spürte, wie das Gewicht der Verantwortung von ihren Schultern abfiel. In ihrer Erleichterung vergaß sie sogar den hohen Rang ihrer Gesprächspartnerin und schoß wie der Blitz um den Tisch herum, um nach Rabes Hand zu greifen. »Laßt uns sofort hingehen«, sagte sie aufgeregt. »Ich selbst habe es nicht verstanden, aber Ihr werdet es sicher tun. Und Hreeza ist sehr klug, darum muß es einfach ein wirklich guter Plan sein …«

Als das aufgeregte Kind Rabe aus dem Zimmer zog, hob diese für einen kurzen Atemzug die Augen gen Himmel. »Das will ich stark hoffen«, murmelte sie bei sich. »Sonst ziehen Aurian und Shia mir das Federkleid über die Ohren.«

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