21 Ganz wie in alten Zeiten …

In einer anderen Stadt, weit fort im Süden, dachte eine andere Königin über ihre Zukunft nach. Sara fuhr, von ihren eigenen Schreien geweckt, aus einem Alptraum. Sie riß die Augen auf und war einen Augenblick lang blind für alles außer den letzten Szenen eines Traumes, der noch immer vor ihrem inneren Auge stand. Während sie langsam wieder zu Bewußtsein kam, wurde ihr klar, daß sie durch einen Nebel hauchzarter, weißer Gardinen schaute, die in der drückenden Hitze schlaff vor ihrem Himmelbett hingen und die Strahlen der grellen Nachmittagssonne auffingen, die durch das Gitterwerk der Fensterläden in ihr Gemach fielen. Sara rollte sich auf dem breiten Bett zur Seite und weinte fast vor Erleichterung, während sie die zerknitterte Seidendecke wie einen zusätzlichen Schutzschild an sich zog. Sie war zu Hause. Sie war in Sicherheit. Es war nur ein Traum gewesen.

Sie schob die leichte Decke beiseite und griff nach der duftigen, weißen Robe aus goldbestickter Seide, die am Fußende des Bettes lag. Nachdem sie sich das Gewand über den Kopf gezogen und den Stoff über ihrer verschwitzten Haut glattgestrichen hatte, schwang Sara die Beine von dem niedrigen Sofa und genoß die relative Kühle der blauweißen Fliesen unter den bloßen Füßen. Dann kämpfte sie sich durch die vielen Schichten weißer Gaze, die von dem Baldachin über ihr herabhingen und trat in die drückend heiße Düsternis des Raumes.

Sara stellte sich auf die Zehenspitzen, hob ihre Arme hoch über den Kopf und reckte sich, bis ihre Gelenke protestierend knackten. Ah … So war es schon besser. Sie drehte den dicken, schweren Mantel ihres goldenen Haares zu einem groben Knoten in ihrem Nacken und streifte die Robe, die ihr am Körper klebte, von ihren verschwitzten Schultern, bevor sie auf nackten Füßen zu dem niedrigen Tischchen hinüberging. Wie immer standen dort Wasser und ein Krug mit Fruchtsaft bereit, der, als sie sich hingelegt hatte, noch kalt gewesen war; denn wie die Khazalim hatte sie mittlerweile gelernt, daß es unklug war, in der Hitze des Tages Wein oder Schnaps zu trinken. An diesem besonderen Tag jedoch verspürte Sara den Wunsch nach etwas Stärkerem. Also holte sie eine Flasche aus einem Schränkchen an der Wand und füllte einen Krug bis zum Rand mit Wein, bevor sie das Zimmer durchquerte und an das große Fenster trat, das vom Fußboden bis zur Decke reichte und die Hälfte der Wand in Anspruch nahm.

Als sie die Fensterläden aufklappte, strömte flirrendes Sonnenlicht wie eine Flut geschmolzenen Goldes in das Gemach. Sara blinzelte und legte sich eine Hand über die Augen, bis sich diese an das hellere Licht gewöhnt hatten. Die Luft, die ins Zimmer wehte, war nicht kühler als die stickige Luft im Haus – im Gegenteil, sie war eher noch heißer –, aber auch daran hatte sich Sara mittlerweile gewöhnt. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, freien Raum um sich zu haben, als enthielten die vier Wände des Gemachs noch immer das Echo ihres Alptraums. Also ging sie hinaus auf den Balkon und lehnte sich gegen das marmorne Geländer.

Das Labyrinth weißer Häuser, Höfe, Gärten und niedriger Türmchen, die das Serail des Khisu Xiang bildeten, lag in der drückenden Nachmittagshitze noch immer still und verlassen unter ihr. Das sanfte, silberhelle Plätschern der Springbrunnen, das rhythmische Schnarren der Zikaden und das Zirpen eines schlaftrunkenen Vogels waren die einzigen Laute, die die drückende Stille durchdrangen. Jenseits der Mauern von Xiangs riesigem Palast erstreckte sich die Stadt Taibeth, deren Khisihn sie jetzt war – die Königin. Eine schöne Königin, dachte sie verbittert. Ich mag ja die königliche Ehefrau des Khisu sein, aber ich bin hier genauso eine Gefangene wie sie – ihr Blick huschte zurück in den verdunkelten Raum, in dem ihre bunten Finken in ihrem goldenen Käfig schlummerten.

Sei nicht dumm! Plötzlich ärgerte sich Sara über die eigene Schwäche. Sie dachte an ihre Kleider, an ihre Juwelen – an die Macht, die sie hier in dieser engen, unnatürlichen kleinen Welt der Frauen hatte, in dieser Welt, die hinter hohen, weißen Mauern verborgen lag. Wärest du lieber wieder in Nexis, fragte sie sich zornig, bekleidet mit Lumpen, auf den Knien liegend, um den Fußboden zu schrubben, und unterwegs zum Markt für deinen Vater? Oder wärest du vielleicht lieber mit diesem Tölpel Vannor verheiratet, mit seiner hinterhältigen kleinen Schlange von einer Tochter und seinen endlosen Forderungen, daß du das Bett mit ihm teilen sollst? Wärest du vielleicht lieber mit Anvar verheiratet?

Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Mit beiden Händen umklammerte sie den Kelch und nahm einen langen Schluck von dem Wein, um ihre Hände, die plötzlich zu zittern begonnen hatten, wieder zu beruhigen. Sie hatte von Anvar geträumt. Die Erinnerung reichte aus, um sie völlig zu verstören. Für lange Zeit war es Sara gelungen, Anvar aus ihren Gedanken zu verbannen. Warum mußte er ausgerechnet jetzt durch ihre Träume geistern – gerade in dem Augenblick, in dem sie ihren ganzen Verstand brauchte, um die nächsten Monate zu überleben?

Mit einem Schaudern zwang sie sich, wieder an ihren Traum zu denken, in der Hoffnung, daß sie ihn aus ihren Gedanken würde verbannen können, wenn sie sich ihm gestellt hatte. Sie war in Nexis gewesen, zusammen mit Anvar, in dem Geschäft seines Vaters Torl in der Großen Arkade. Die Ereignisse waren genau wie jene gewesen, die damals dazu geführt hatten, daß Anvars Mutter Ria im Feuer umkam – aber diesmal war Sara selbst das Opfer der Flammen gewesen. Sie erinnerte sich daran, daß sie wieder und wieder geschrien hatte, während die Flammen um sie herum aufschossen und gierig nach ihren Kleidern und ihrem Haar schnappten – und statt das Feuer zu löschen, schürte Anvar es noch, war er derjenige, der sie verbrannte. Mit einem Ball Maguschfeuer in der Hand stand er grinsend über ihr. »Jetzt wirst du nie wieder ein Kind bekommen können …« Mit einem Angstschrei verbarg Sara ihr Gesicht in den Händen.


»Herrin, was, im Namen des Schnitters, treibst du hier? Komm sofort da weg! Haben die Wüstenwinde dir deinen Verstand geraubt, daß du dich da draußen der ganzen Welt präsentierst?« Das schrille Zischeln, das ihre düsteren Überlegungen durchdrang, klang gereizt und erschrocken. Sara schnappte nach Luft und fuhr herum – aber es war die Stimme selbst, die sie erschreckt hatte, nicht die Person, der sie gehörte.

Das dünne Lispeln von Zalid hätte sie überall erkannt; er war der oberste Eunuch des Serails, Frauenlieferant für den Khisu – und der einzige Mensch in diesem Palast, dem sie, vertrauen konnte. Gerade in diesem Augenblick war Sara überglücklich, ihn zu sehen, obwohl es den Anschein hatte, als beruhe dies nicht auf Gegenseitigkeit. Die lebhaften, mit goldener Farbe gemalten Muster, die Zalids kahlen Kopf zierten, zerliefen in der Hitze an den Rändern, und die vielen funkelnden Ketten um seinen Hals klirrten, so erregt war er. Sein rundliches Gesicht war von unzähligen Falten der Angst zerfurcht.

»Komm sofort hinein, Herrin«, schalt er sie. »Wo ist dein Schleier? Hast du schon vergessen, wie krank du das letzte Mal warst, als du zuviel Sonne abbekommen hast? Und was für eine Schande, wie eine einfache Hure mit bloßem Gesicht auf deinem Balkon zu erscheinen. Benimmt sich so eine Königin?«

Als Sara sich zu ihm umdrehte, stieß er einen unwilligen Schrei aus; er war so aufgeregt, daß er auch noch den letzten Anschein von Höflichkeit fahren ließ. »Das Polster! Du Närrin – wie konntest du das vergessen? Mit deiner Unbesonnenheit wirst du uns noch alle umbringen.«

»Schweig still, Zalid!« fuhr Sara den Eunuchen an. »Du benimmst dich ja wie ein altes Weib. Ich brauche das Polster noch nicht. Und wer soll mich hier schon sehen, du Einfaltspinsel? Das ganze Serail schläft.«

Zalids Schlag erfolgte völlig überraschend für sie. Seine Hand schoß vor und traf sie so hart im Gesicht, daß sie gegen das Marmorgeländer taumelte. Bevor sie noch ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, packte der Eunuch sie am Arm und schleuderte sie zurück ins Zimmer. Sara stürzte zu Boden, wobei sie sich nur mit einer Reflexbewegung davor bewahren konnte, mit dem Gesicht aufzuschlagen. Zitternd erhob sie sich wieder, noch immer ein wenig benommen von dem harten Schlag. Obwohl sie vor Wut kochte, war sie doch gleichzeitig von einer kalten, pulsierenden Angst erfüllt. »Wie kannst du es wagen, deine Khisihn zu schlagen?« fauchte sie. »Wenn Xiang zurückkommt …«

»Wenn Xiang zurückkommt und die Spione, die überall in diesem Palast lauern, ihm erzählen, was sie auf deinem Balkon gesehen haben, wird er dich in einen Sack stecken und als Futter für die großen Eidechsen in den Fluß werfen.«

Die kalte Gelassenheit des obersten Eunuchen beendete ihren Wutanfall genauso jäh, als hätte er sie noch einmal geschlagen. Zalid trat auf sie zu, und sein dunkles Gesicht war blaß vor Wut. »Nur weil der Khisu weg ist, darfst du dir nicht gestatten, unvorsichtig zu werden – nicht mal eine einzige Sekunde lang. Diese Verschwörung war deine Idee. Ich habe dich von Anfang an vor den Schwierigkeiten gewarnt, vor den Zwängen, denen du dich würdest unterwerfen müssen – und jetzt, nachdem wir einmal angefangen haben, gibt es kein Zurück mehr. Ich habe nicht die Absicht, durch deine Dummheit mein Leben zu verlieren. Du darfst nicht länger unbekleidet schlafen und auch nicht mehr nackt wie eine tollkühne Hure aus dem Norden durch deine Gemächer wandern. Du mußt dich jetzt an dieses Polster gewöhnen, bevor es lebenswichtig für dich wird. Du wirst es zu jeder Zeit tragen, ganz gleich, wie unbequem es für dich ist und wie sehr es dich erzürnen mag. Jetzt geh und leg es an – sofort!«

Als Sara zögerte, ging er drohend auf sie zu und zischte ihr seine wütenden Worte ins Gesicht: »Du solltest immer daran denken, daß du zwar Königin sein magst, daß ich aber in der Abwesenheit des Königs für seine Frauen zuständig bin. Es gibt viele Möglichkeiten, dich zu schlagen, ohne daß du irgendwelche Narben davonträgst – und die anderen Zeichen deiner Verletzungen werden lange vor Xiangs Rückkehr verheilt sein. Und jetzt geh – und wenn ich dich jemals wieder ohne anständige Kleider, ohne Polster und ohne geziemende Schleier sehe, werde ich dich auf eine Weise bestrafen, daß man deine Schreie bis hin in dieses gottlose, nördliche Schlangennest hören kann, aus dem du gekommen bist.«

Sara starrte ihn entsetzt an. Er meinte es ernst – und mit einem kalten, flauen Gefühl im Magen wurde ihr plötzlich klar, daß er jede noch so geringe Verfehlung ihrerseits zum Anlaß nehmen würde, sie zu schlagen. Sie hatte Zalid in diese Sache hineingezogen, und jetzt, da er nicht mehr zurück konnte, hatte er Angst, und diese Angst würde er jederzeit an ihr auslassen. Vor Furcht zitternd, eilte sie in ihre Kleiderkammer und suchte den leicht gepolsterten Sack, den sie sich mit einem Wirrwarr von Riemen um den Leib band. Sie verknotete die Stoffbänder und haßte dieses sperrige, schwere Ding schon jetzt. An die nächsten fünf Monate, in denen das Gewicht und die Dicke des Sacks deutlich würden zunehmen müssen, durfte sie gar nicht denken. Sobald sie ihr loses Gewand wieder übergestreift hatte, starrte sie ihre Silhouette in dem hohen Silberspiegel stirnrunzelnd an und fragte sich, wie, im Namen aller Götter, sie nur hatte glauben können, daß sie mit dieser Sache durchkommen würde. Aber andererseits, welche Wahl hatte ich schon? dachte sie verzweifelt.

Als sie mit Hilfe von Intrigen und klugen Schachzügen dafür gesorgt hatte, daß sie Königin wurde, hatte sie keinen Augenblick darüber nachgedacht, daß sie ja keine Kinder mehr bekommen konnte. Und sie hatte natürlich nicht damit rechnen können, daß sich der Khisu verzweifelt einen neuen Sohn wünschte, einen neuen Erben, der den glücklosen und verachteten Harihn ersetzen konnte. Während ein Monat nach dem anderen ins Land gegangen war, ohne daß sich die ersten Anzeichen für das langersehnte Kind einstellten, war Xiang ihr gegenüber immer kälter geworden, immer ungeduldiger und dafür oberflächlicher und grausamer. Als er begann, sie zu vernachlässigen und sich wieder den Schönheiten in seinem Harem zuzuwenden, wußte Sara, daß sie schnell würde handeln müssen, wenn sie ihre Position behalten wollte – und Zalid war mit seiner Macht und seinem Einfluß innerhalb des Harems der einzige, der ihr helfen konnte. Glücklicherweise hing sein Schicksal, da er derjenige war, der Xiang überhaupt mit ihr bekannt gemacht hatte, in hohem Maße von ihrem eigenen ab. Die Tatsache, daß er die neue Königin gefunden hatte, hatte ihm Reichtümer und Ansehen eingebracht; aber für jene, die versagten oder ihn enttäuschten, hatte Xiang keine Verwendung. Und wenn sich diese Königin als mangelhaft erweisen sollte, würde Zalid nicht nur seinen Lebensunterhalt verlieren, sondern wahrscheinlich auch sein Leben.

So hatten also Sara und der Eunuch nach und nach ihre Intrige geschmiedet. Zalid hatte der Königin ihr eigenes Personal zusammengesucht und einen überaus bestechlichen Arzt; sie hatten den Mann mit Gold und Juwelen überhäuft – in dem glücklichen Wissen, daß der arme Kerl nicht mehr viele Monate zu leben haben würde, um sich an seinem neuen Reichtum zu erfreuen. Sara brauchte nur so zu tun, als sei sie plötzlich launisch, wie das bei schwangeren Frauen oft geschah, und als sie Xiang darum bat, ihre Leibdiener durch ein einziges, stummes Sklavenmädchen ersetzen zu dürfen, stimmte Xiang ihrer Bitte nur allzugern zu. Der seltsame Brauch dieses Landes, in dem Frauen während der Schwangerschaft in völliger Abgeschiedenheit leben mußten, hatte ihnen im Verein mit ein paar anderen unerwarteten Ereignissen die Sache nur erleichtert.

Saras falsche Ankündigung hatte Xiang überglücklich gestimmt, aber der ersten Woge des Triumphes folgte die gärende Erkenntnis, daß der andere, ältere Erbe noch lebte. Obwohl Harihn geschworen hatte, niemals zurückzukehren, grübelte der Khisu über die fortgesetzte Existenz seines Sohnes nach und natürlich auch über die Bedrohung, die Harihn für den ungeborenen Prinzen darstellte – denn ganz nach Art derer, die immer ihren Willen durchsetzten, war er natürlich davon überzeugt, daß das Kind ein Junge sein würde. Außerdem war mittlerweile so viel Zeit vergangen, daß Xiang die Furcht, die Aurian ihm eingeflößt hatte, vergessen hatte. Nachdem die Magusch die Stadt verlassen hatte, war es zu tagelangen blutigen Kämpfen gekommen, während derer Xiangs Soldaten den Aufstand der Sklaven erstickten, die Aurian befreit hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis alles wieder beim alten war – aber als es schließlich soweit war und keins der schrecklichen Dinge geschah, die Aurian ihm prophezeit hatte, war die Magusch dem König mit der Zeit nicht mehr als Bedrohung erschienen. Als das plötzliche Abflauen der Sandstürme den Wüstenweg nach Norden wieder freigegeben hatte, beschloß Xiang, seine Armee in Marsch zu setzen und Harihn ein für allemal zu töten.

Xiangs Aufbruch war für die Königin und ihren Mitverschwörer eine beträchtliche Erleichterung gewesen. Aman, der Wesir, der während der Abwesenheit des Khisu die Regierungsgeschäfte leitete, wußte, was gut für ihn war, und hielt sich vom Serail fern. In bezug auf seine Frauen stand Xiang in dem wohlverdienten Ruf, extrem eifersüchtig zu sein. Auf diese Weise hatten Sara und Zalid freie Hand – und es war viel einfacher für sie, die Maskerade aufrechtzuerhalten. Der Eunuch hatte Spione unter den Armen in den schlechteren Stadtvierteln, die mehrere Mädchen im Auge behalten sollten, welche ungefähr zur rechten Zeit ein Kind erwarteten. Sobald eine von ihnen einen Sohn gebar … Sara lächelte bei sich. Was für einen herrlichen Streich sie Xiang da spielen würde: Der nächste Herrscher der Khazalim würde in Wahrheit das Balg einer Bettlerin sein. Bei den Göttern, wenn sie das hinbekam, war es die Sache wirklich wert!

Aufgeheitert von diesem Gedanken, wusch sie sich das Gesicht, und bevor sie zurück in das andere Zimmer ging, in dem der Eunuch sie erwartete, hatte sie sich wieder gefaßt. Sie durfte ihm nicht zeigen, welche Angst er ihr eingejagt hatte. Als sie an einem Spiegel vorbeiging, fiel ihr Blick auf den blauen Fleck, der sich bereits auf ihrer Wange bildete, und sie runzelte die Stirn. Eines Tages würde sie ihn dafür bezahlen lassen. Als die geliebte Mutter von Xiangs Erbe würde sie viel mehr Macht haben als jetzt. In der Zwischenzeit … Sara schnitt eine Grimasse. Zalid hatte eindeutig eine Möglichkeit gefunden, sicherzustellen, daß sie diese verfluchten Schleier auch wirklich trug.

In der langsam zunehmenden Kühle des Abends wirkte der Raum jetzt viel angenehmer. Der Eunuch stand auf eben dem Balkon, den er ihr zu benutzen gerade verboten hatte, und blickte hinunter auf die Stadt. Der Zorn erstickte auch die letzten Spuren ihrer Angst. Sie richtete sich zu voller Größe auf und sah den Eunuchen kalt an.

»Hast du keine anderen Pflichten?« fuhr sie ihn an. »Ich möchte gekühlten Wein, ein leichtes Mahl, und mein Sklavenmädchen soll mir ein Bad einlassen …«

Zalid drehte sich mit einer unverschämt flüchtigen Verbeugung, die als solche kaum erkennbar war, zu ihr um. »Dein Wunsch ist mir Befehl, meine Königin. Und möchtest du nicht wissen, warum ich dich aufgesucht habe? Welche Neuigkeiten ich habe – Neuigkeiten von deinem geliebten Khisu?« Er lächelte höhnisch, denn er gab sich keinerlei Illusionen bezüglich Saras echter Einstellung ihrem königlichen Gemahl gegenüber hin. Saras Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.

»Gibt es Neuigkeiten? Welche? Warum hast du mir nicht eher davon erzählt?«

»Bitte reg dich nicht auf, Herrin, nicht in deinem augenblicklichen Zustand.« Sein scheinbar so besorgtes Getue reizte sie derartig, daß sie ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.

»Los, sag es mir!« kreischte sie.

»Wie du wünschst. Ein Kolibri ist heute mit einer Botschaft eingetroffen, wonach Xiang das andere Ende der Wüste erreicht hat. Dort hat er nicht nur Zeichen dafür gefunden, daß Harihn in Dhiammara geweilt hat, sondern auch klare Hinweise darauf, daß der Prinz und seine Gefährten die Durchquerung der Wüste überlebt haben. Daher hat der Khisu beschlossen, seiner Spur weiter nach Norden zu folgen.« Der Eunuch verbeugte sich noch einmal und versuchte gar nicht erst, sein Lächeln zu verbergen. »Leider, leider sieht es also so aus, als müßten wir auf traurige Nachrichten gefaßt sein. Die Abwesenheit unseres geliebten Herrn wird wohl länger dauern, als ursprünglich erwartet.«

Sara setzte sich mit vor Erleichterung weich gewordenen Knien auf die Bettkante. Welche Mißhandlungen sie auch von Zalid erleiden mochte, es sah so aus, als wären die Götter ihrem Plan immer noch wohlgesinnt. ›Seine Gefährten‹, hatte der Eunuch gesagt. Wenn Xiang den entflohenen Prinzen am Ende wieder einfing, würde er sich erst mal mit Aurian beschäftigen. Sie fragte sich, auf was sie, Sara, wohl hoffen sollte: Ob es besser für sie war, wenn Xiang zurückkehrte, um sie dafür zu preisen, daß sie ihm einen Erben geschenkt hatte? Oder ob es besser war, wenn er ums Leben kam und sie die Mutter des neugeborenen Khisu der Khazalim wäre, mit all der Macht, die eine solche Position mit sich brachte. Aber wie es auch ausgehen mochte, sie konnte nur gewinnen. Sara lächelte vor sich hin. Es schien, als würden die nächsten Wochen ausgesprochen interessant werden.


Der Wald brachte Xiang schier um den Verstand. Er war anders als alles, was der Khazalimherrscher je zuvor gesehen hatte. Xiang war an offenes Land gewöhnt und an die endlosen Horizonte seines kargen Reiches, wo man nur das Zirpen der Zikaden hörte und das Säuseln des Wüstenwindes. Hier bedrängten ihn die Bäume auf eine unerträgliche Weise, hüllten ihn mit ihrer Düsternis ein und schnitten ihn von der Wärme der Sonne ab. Zu allen Seiten lauerten unruhige Schatten – eine schnelle Bewegung, die die Pferde erschreckte und den Khisu zusammenfahren und herumwirbeln ließ, die Hand am Schwert, nur um festzustellen, daß der vermeintliche Angreifer bloß ein Zweig war, den der Wind vom Baum gerissen hatte.

Dieser Wind in den Bäumen war wie das ferne Flüstern der Brandung und schuf damit ein ständiges Hintergrundgeräusch, das jeden Hinweis auf eine möglicherweise drohende Gefahr übertönte. Und das ungewohnte, glucksende Plätschern der zahllosen Bäche war genauso schlimm. Fremde Tiere und Vögel raschelten im Unterholz und stießen von den Baumwipfeln schrille Schreie aus. Das Klappern der Pferdehufe wurde von einer weichen Lehmschicht auf dem Boden gedämpft, die gefährliche Löcher, Wurzeln und heruntergestürzte Äste verdeckte. Wieder und wieder versperrten ihnen Baumstämme oder dorniges, undurchdringliches Gestrüpp den Weg, so daß die Khazalimkrieger gezwungen waren, von ihrem ursprünglichen Weg abzuweichen. Es dauerte nicht lange, da hatten sie alle jegliches Gefühl für die Richtung verloren und zogen blind durch ein dichtes, grünes Labyrinth.

Der Khisu bereitete sich große Sorgen. Seine Soldaten waren nach der grausam anstrengenden Hetzjagd durch die Wüste erschöpft, und dieser seltsame Ort stürzte auch sie in Angst und Schrecken. Von Zeit zu Zeit war er sicher, ferne Rufe und Schreie aus dem anderen Teil des Waldes zu hören. Dreimal hatte er jetzt Boten ausgeschickt, die den Wald auskundschaften sollten. Keiner von ihnen war zurückgekehrt. Doch Xiang, der sein Unternehmen von Minute zu Minute mehr bereute, drängte grimmig weiter, umgeben von nur noch einer Handvoll Männern. Von den zweihundert Soldaten, mit denen er aufgebrochen war, waren ihm nur noch diese wenigen geblieben. Der Khisu unterdrückte ein Schaudern. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so allein gefühlt, so eingesperrt und gleichzeitig so ungeschützt.

Als sie nach langer Zeit endlich zu einer großen Lichtung gelangten, entspannte sich Xiang ein wenig. Wie gut es tat, die Sonne wiederzusehen und freies Land um sich herum zu haben! Doch plötzlich sirrte ohne jede Vorwarnung ein Pfeil durch die Bäume und traf den neben ihm reitenden Wachposten mit tödlicher Genauigkeit ins Auge.

»Runter!« Bevor das Echo seiner Warnung verklungen war, war Xiang von seinem Pferd gesprungen und lag flach auf dem Waldboden. Einen Moment lang herrschte absolutes Chaos: verwirrte, schreiende Männer, Pferde, die mit einem schrillen Wiehern des Entsetzens in alle Richtungen sprengten und über die glücklosen Krieger hinwegtrampelten, die vergeblich versuchten, sich vor den tödlichen Pfeilen aus dem Wald in Sicherheit zu bringen. Die Geräusche des Waldes gingen im Schreien sterbender Männer unter, und Blut färbte den lehmigen Waldboden rot.

Xiang, der sich, den Mund voller Laub und Schlamm, auf dem Boden zusammenkrümmte, war außer sich vor Angst und Zorn. Ein Pfeil schoß nur wenige Zentimeter neben seinem Gesicht vorbei, und der plötzliche Schock brachte ihn wieder zu Verstand. Hastig öffnete er die Spange am Hals seines üppigen Umhangs, der seinen hohen Rang verriet und ihn von den anderen Männern unterschied, und schlüpfte aus dem gefütterten Kleidungsstück. Nun konnte er nur noch beten, daß man ihn in dem Chaos fliehender Pferde und fallender Soldaten nicht sehen würde. Er rollte sich bis zum Rand der Lichtung hinüber, wo ihn dichtes Gestrüpp empfing. Das Unterholz, das er eine Sekunde zuvor noch verflucht hatte, erwies sich jetzt als wahrer Segen, und er zog sich immer tiefer in seinen Schatten zurück.


Eliizar war zufrieden. Der Tag hatte gut begonnen. Die Pläne, über die er so viele schlaflose Nächte lang gegrübelt hatte, schienen wunderbar aufzugehen, und er war Anvar für dessen Warnung unendlich dankbar. Seine kleine Gemeinschaft, die aus Harihns überlebenden Kriegern und dem Hauspersonal bestand, das der Prinz im Wald zurückgelassen hatte, war auf den Angriff aufs Beste vorbereitet gewesen und hatte rechtzeitig die Verteidigung ihres neuen Heimes organisiert. Obwohl Eliizar nur äußerst ungern Männer von den überaus wichtigen Aufgaben freistellte – die darin bestanden, ihre neue Siedlung aufzubauen und verborgene Fleckchen Land innerhalb des Waldes zu roden und zu kultivieren –, hatte der heutige Tag bewiesen, daß das Opfer nicht vergeblich gewesen war. Ihre Späher hatten sie rechtzeitig darüber informiert, wann der Khisu die Wüste verlassen hatte. Und sobald Xiang und seine Männer in den dichten Wald eingedrungen waren, war es den Siedlern ein leichtes gewesen, immer wieder einige der Männer von der übrigen Truppe abzuschneiden und sie tiefer und tiefer in das Labyrinth der Bäume hineinzulocken. Daraufhin hatten sich die Khazalimeindringlinge schnell von Verfolgern in Verfolgte verwandelt.

Kleine Gruppen von Soldaten hatten sich im Schutz der dichten Zweige verborgen, so daß sie ungesehen hinter Xiangs Leuten auftauchen und sich den unschätzbaren Vorteil eines Überraschungsangriffs sichern konnten. Außerdem hatten sie ein paar Fallgruben ausgehoben und wieder verdeckt, obwohl diese sehr viel Arbeit bedeuteten und Eliizar außerdem so viele Khazalimpferde wie nur möglich retten wollte, um sie später für seine kleine Gemeinschaft nutzen zu können. Die Siedler lauerten mit von Gewichten beschwerten Netzen in den Zweigen, die sie auf die Reiter herunterwerfen wollten. Außerdem hatten sie zwischen den Bäumen Seile gespannt – in Halshöhe für einen berittenen Mann und in Tritthöhe für ein Pferd. Eliizar persönlich hatte die fähigsten Bogenschützen ausgewählt und an strategisch wichtigen Stellen plaziert.

Selbst die Frauen hatten ihren Platz in der Verteidigung des Waldes – Eliizar hatte, nachdem ihm Nereni eine Kostprobe ihres Mutes und ihrer Charakterstärke gegeben hatte, seine Lektion gelernt. Also durften die Frauen nicht nur dabei helfen, die lockere, verräterische Erde wegzuschaffen und die Fallen möglichst gut zu tarnen, sondern sie hatten auch Seile und Netze geknüpft und die Tarnung für die Verstecke der Krieger fertiggestellt. Die jüngeren und beweglicheren Mädchen saßen sogar mit Netzen und Seilen in den Baumkronen und warteten auf ihren Einsatz.

Eine Schar älterer Frauen, angeführt von der unbezwingbaren Nereni, lauerte den Feinden mit Blasrohren auf. In den Blasrohren steckten Pfeile, die zuvor in eine Flüssigkeit getaucht worden waren, die die Pferde scheu werden ließ, so daß sie ihre Reiter abwarfen und diese auf Gedeih und Verderb Eliizars wartenden Kriegern auslieferten. Das Geheimnis der Herstellung dieser Blasrohre hatte Nereni von Fink und Sturmvogel, den beiden geflügelten Kriegern, die Rabe den Siedlern mitgegeben hatte. Dabei handelte es sich um dieselben Geflügelten, die an jenem schicksalsschweren Tag Nereni nach Aerillia getragen hatten und die jetzt von ihrem köstlichen Essen und ihrer liebevollen Fürsorge so verwöhnt waren, daß sie buchstäblich alles für sie getan hätten. Eine andere Gruppe etwas furchtsamerer Frauen, die nicht die Nerven hatte, zu kämpfen, war im Lager zurückgeblieben, kochte Wasser, bereitete Salben vor und machte Verbände zurecht, um später den Verwundeten helfen zu können.

Obwohl sie zahlenmäßig unterlegen waren, hatten die Siedler den Khazalimsoldaten gegenüber verschiedene Vorteile. Sie waren rechtzeitig gewarnt worden und gut vorbereitet; sie hatten keinen langen Marsch hinter sich, wenn sie in diesen Kampf gingen; und sie kannten das Terrain, das für Hinterhalte und Fallen wie geschaffen war. Sie kämpften um ihr Land und um ihre Freiheit, und sie hatten außerdem einen zusätzlichen Vorteil, von dem die Khazalim nicht die geringste Ahnung hatten. Die beiden geflügelten Kuriere schwebten, obwohl sie selbst keinen Anteil an dem Kampf nahmen, über dem Wald, um die Position des Feindes festzustellen und Eliizar Nachrichten über den Verlauf des Kampfes zu bringen. So kam es, daß der Anführer der Siedler den Standort des Königs genau feststellen konnte, der in seinen Gewändern aus königlichem Purpur leicht zu erkennen war. Als die Geflügelten ihm nun abermals Neuigkeiten über den Kampf brachten, fragte Eliizar: »Was ist aus dem Khisu geworden?«

Fink schüttelte den Kopf. »Wir haben ihn nicht gesehen. Wir haben nur seinen Umgang gefunden, der auf der Lichtung lag.«

Eliizar fluchte. Wenn Xiang entwischte, dann würde die Waldsiedlung früher oder später zerstört werden. Der Khisu würde erst Ruhe geben, wenn jeder Mann und jede Frau den Tod gefunden hatte. »Besser, ihr bringt mich sofort hin«, sagte er zu den beiden Himmelsleuten.

Als die geflügelten Kuriere mit Eliizar landeten, war der Kampf auf der Lichtung bereits vorüber. Überall lagen Menschen auf dem Boden, einige lebten noch und stöhnten unter den Schmerzen ihrer Wunden; andere lagen still und mit verrenkten Gliedern da, die sie nie wieder bewegen würden. Eliizars Bogenschützen unter der Führung von Jharav gingen zwischen den Gefallenen hindurch, sammelten Waffen ein und stellten fest, wer noch lebte und wer schon tot war. Der einäugige Schwertmeister runzelte die Stirn. Bei all seinen sorgfältigen Plänen hatte er keinen Augenblick darüber nachgedacht, daß einige von Xiangs Männern den Kampf gewiß überleben würden. Wahrscheinlich war er davon ausgegangen, daß sie den Überlebenden die Chance geben sollten, sich den Siedlern zuzugesellen – aber was war mit denen, die das nicht wollten? Man konnte ihnen auf keinen Fall erlauben, nach Hause zurückzukehren. Eliizar erschauerte. Der Gedanke, seine Landsleute und ehemaligen Mitstreiter in der Armee kaltblütig hinzurichten, war alles andere als erfreulich. Nun, darüber konnte er später noch nachdenken. Im Augenblick hatte er alle Hände voll damit zu tun, Xiang aufzuspüren.

Jharav stand mit dem purpurnen Umhang des Khisu in der Hand am Rande der Lichtung und suchte den Waldboden nach Spuren oder anderen Hinweisen ab, die ihm verraten konnten, wo sich der Feind im Augenblick aufhielt. Sein Stirnrunzeln war genauso finster wie das von Eliizar, denn er war ein ehemaliger Soldat von Prinz Harihn, und Xiang war schon lange, bevor er zu den Siedlern gestoßen war, sein Feind gewesen. Als sich der Schwertmeister näherte, hob der ergraute Krieger den Kopf und ließ vorübergehend von seiner Betrachtung des Waldbodens ab. »Es tut mir verdammt leid«, sagte er seufzend, »daß ich diese Viper habe entkommen lassen. In der Hitze des Gefechts scheint er durchs Unterholz geschlüpft zu sein.«

»Wir werden ihn schon finden«, versicherte Eliizar dem Mann. »Unsere Leuten müssen suchen …«

Die Rückkehr der Himmelsleute ließ ihn innehalten. »Eliizar!« rief Fink, noch bevor er gelandet war. »Wir müssen sofort etwas tun. Eine große Gruppe von Eindringlingen hat unsere Verteidigung im Osten durchbrochen und ist jetzt auf dem Weg zur Siedlung!«

»Beim Schnitter«, fauchte Eliizar. »Die Frauen dort sind völlig ohne Schutz. Alle herhören! Laßt die Gefallenen liegen. Zurück zur Siedlung!«

Binnen weniger Sekunden war die Lichtung menschenleer. Eliizar nahm sich eines der Khazalimpferde und sprang in den Sattel. Das Tier wieherte und versuchte, zur Seite auszubrechen, und Eliizar hatte alle Hände voll zu tun, es wieder zu beruhigen. Dann drehte er sich um und rief: »Sturmvogel, Falke – holt unsere anderen Krieger aus dem Wald und schickt sie ebenfalls zurück in die Siedlung. Seht auch zu, daß sie alle Frauen mitbringen!« Dann gab er seinem verzweifelten Reittier die Zügel frei und flog pfeilschnell zwischen den Bäumen dahin.

Die Siedlung verdiente bisher noch kaum diesen Namen. Sie bestand lediglich aus einer Handvoll Hütten, die sich auf einer großen Lichtung um einen Bach scharten; daneben gab es auch einige stabilere Holzhäuser in den verschiedensten Stadien der Fertigstellung. Bisher war nur ein einziges dieser dauerhaften Gebäude bewohnbar und wurde normalerweise als Versammlungsort und Zuflucht vor schlechtem Wetter benutzt. Heute diente es als Krankenlager.

Die Frauen, die zurückgeblieben waren, kümmerten sich bereits um die ersten der insgesamt – glücklicherweise – nur wenigen Verwundeten. Die anderen Frauen, die draußen das Feuer schürten, blickten überrascht und betroffen auf, als Eliizar und Jharav mit einigen anderen berittenen Kriegern herbeigaloppierten. Der Schwertmeister sprang von seinem schwitzenden Pferd und warf demjenigen der Männer, der ihm am nächsten stand, die Zügel zu. »Versteck die Pferde!« rief er und wandte sich dann an die erschrockenen Frauen am Feuer. »Der Feind kommt. Nehmt, was ihr braucht, und geht ins Langhaus. Ganz egal, was geschieht, ich will keinen Laut von dort hören. Und sorgt dafür, daß die Verwundeten ebenfalls still sind. Geht jetzt!« Die Frauen beeilten sich, ihm zu gehorchen.

Mittlerweile kehrten weitere Gruppen von Kriegern und Frauen auf die Lichtung zurück, nachdem die Geflügelten sie informiert hatten. Eliizar holte alle Leute zusammen. Bei seiner wilden Jagd durch den Wald hatte er schnell nachgedacht. Jetzt rief er Jharav zu sich und begann, ihm seinen Plan zu erklären. Als er fertig war, waren auch die meisten seiner Krieger zurückgekehrt. Er sah von einem zum anderen, denn er rechnete mit vielen Fragen, aber keine einzige wurde gestellt. Sie alle hatten begriffen. Eliizar war ungeheuer stolz auf seine Leute. Jeder einzelne von ihnen war bereit, sein Leben zu geben für … Plötzlich stellte Eliizar fest, daß ein vertrautes, geliebtes Gesicht fehlte. Das Blut in seinen Adern erstarrte. »Nereni!« stieß er hervor. »Wir müssen sie finden!«

Jharav legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn festzuhalten. »Es ist zu spät, Eliizar – wir müssen unsere Plätze einnehmen. Der Feind ist schon fast da.«


Nereni und ihre kleine Schar, die aus drei Frauen und zwei jungen Soldaten bestand, die sie bewachten, hatte sich im Unterholz so gut versteckt, daß man sie in der allgemeinen Aufregung übersehen und über den Rückzug nicht informiert hatte. So war sie nicht mit den anderen nach Hause aufgebrochen. Wie man es ihnen aufgetragen hatte, hielten sie die Stellung und warteten auf Opfer oder auf die Botschaft, daß der Kampf zu Ende war. Zuerst war ihnen das Warten ganz leicht gefallen, denn ihr Erfolg hatte sie aufgemuntert, und sie waren verständlicherweise stolz auf die Rolle, die sie bei der Verteidigung ihrer Siedlung spielten.

Im Laufe der Zeit wurden die Frauen jedoch rastlos. Es war schon lange her, seit irgendwelche Feinde hier entlanggezogen waren, und von ihren eigenen Leuten war nichts zu sehen und nichts zu hören. Hatte man sie vergessen? Und was sollten sie jetzt tun? Die beiden jungen Soldaten, die kaum Erfahrung im Kämpfen hatten, waren keine große Hilfe. Schließlich entschieden die Frauen nach einer langen, hitzigen und im Flüsterton geführten Debatte, daß man sie übersehen haben müsse und daß sie nun am besten heimkehren sollten. Immerhin hatte sich in diesem Teil des Waldes schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gerührt. Also sprach nichts dagegen, sich aus dem sicheren Schutz des Dickichts herauszuwagen, oder?

Eine Zeitlang ging alles gut. Nervös und mit einigen Schwierigkeiten hatten sie sich zunächst ihren Weg durch das dichte Unterholz neben dem eigentlichen Pfad gebahnt. Dünne Zweige schlugen ihnen ins Gesicht, Dornen bohrten sich in ihre Haut und verfingen sich in ihren Haaren und ihren Kleidern. Sie gelangten kaum vorwärts und mußten sich immer wieder mit Brennesseln und Dornensträuchern herumschlagen, mit Wurzeln, die sie stolpern ließen, und Löchern in dem weichen Waldboden, in denen sie sich wieder die Knöchel verrenkten. Schon bald hatten sie mehr als genug. Zerkratzt, schmutzig und schwitzend ließen sie schließlich den mühsamen Weg durchs Unterholz erleichtert hinter sich und traten hinaus auf den ungeschützten Pfad. Nereni entspannte sich langsam, denn sie war nun überzeugt davon, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Eine Weile bereitete es ihr noch Sorgen, daß sie sich nicht an ihre Befehle hielten, und sie wußte ohne die Hilfe und Erfahrung ihrer früheren Kameraden nicht recht, was sie tun sollte. Wie sehr sie sie doch vermißte, ganz besonders jetzt. Aber wie dem auch sei, es schien, als käme sie auch ganz gut allein zurecht …

Als der Pfad an einer Stelle, an der zwei Wege aufeinandertrafen, eine scharfe Biegung vollzog, liefen sie direkt in ein Dutzend Khazalimkrieger hinein. Es war schwer zu sagen, wer den größeren Schrecken davontrug. Einen Augenblick lang sahen die beiden Gruppen einander nur an, Nerenis Leute starr vor Entsetzen, die Eindringlinge auf der Hut vor einer Falle. Dann dämmerte den Kriegern, daß ihre Gegner wirklich nicht mehr waren als sie zu sein schienen: zwei unerfahrene Jungen und eine Handvoll Frauen. Die Khazalim stürzten vor.

Schreiend rannten die Frauen in die Büsche am Rand des Pfades, während einer der jungen Soldaten sofort niedergestochen wurde. Die Pferde der Eindringlinge konnten das Unterholz nicht durchdringen, und die Khazalim verloren kostbare Sekunden dadurch, daß sie erst aus dem Sattel klettern mußten. Mit vor Angst hämmerndem Herzen zwängte sich Nereni durch das Gestrüpp, ohne sich um die Dornen und die ihr ins Gesicht peitschenden Zweige zu kümmern. Sie zerrte Ustila hinter sich her – die mit knapp fünfzehn Jahren das jüngste der Mädchen war. Ihnen folgte der zweite der jungen Soldaten. Irgendwoher ertönten schrille Schreie, und Nerenis Magen verkrampfte sich vor Entsetzen und Abscheu. Zumindest eine der Frauen war gefangen worden. Ustila begann zu schluchzen und stolperte, und die ältere Frau riß sie wild auf die Beine. »Komm weiter! Willst du ihr Schicksal vielleicht teilen?« Unbarmherzig zog sie das Mädchen hinter sich her.

Die Schritte ihrer Verfolger wurden immer lauter. Das Mädchen war völlig atemlos vor Erschöpfung, und Nereni selbst erging es nicht besser. Sie rannte blind weiter und hatte nicht mal die Kraft, sich die schweißdurchtränkten Haarsträhnen aus den Augen zu streichen. Ihre Beine schmerzten, und ihr Gesicht und ihre Glieder bluteten aus hundert Kratzern. Jeder Atemzug war eine Qual. Aber wenn sie nicht das Schicksal jener anderen Frau teilen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu laufen. Also lief sie. Eines hatte sie von Aurian gelernt – ganz egal, was passiert, man durfte nicht aufgeben.

Plötzlich verlor Nereni den Boden unter den Füßen. Von panischer Angst ergriffen, ruderte sie wild mit den Armen und glitt einen steilen Abhang hinunter. Sie hörte Ustila noch schreien, als die anderen auch schon hinter ihr herstürzten. Dann schlug sie mit dem Kopf auf, und das nächste, was sie mitkriegte, war, daß das Mädchen und der junge Soldat auf ihr lagen. Nach Atem ringend, versuchte Nereni, sich aus dem Wirrwarr der beiden Leiber über ihr zu befreien. Als rauhe Borke über ihre Schulter schrammte, blickte sie auf und stellte fest, daß ein riesiger, alter Baum ihren Sturz gebremst hatte. Jetzt, da die beiden anderen sich ebenfalls wieder hochrappelten, schaffte sie es endlich, sich von ihnen zu befreien, indem sie sich mit Hilfe eines niedrigen Zweigs hochzog. Dann wurde ihr bewußt, daß sie sich auf dem Grund einer breiten, ringsum von steilen Hängen umgebenen Senke befanden – die beste Falle, die man sich nur denken konnte.

»Schnell!« Sie bückte sich, um dem Mädchen aufzuhelfen, aber in diesem Augenblick hörte sie bereits triumphierende Schreie von oben und erstarrte. Noch bevor sie sich ganz aufgerichtet hatte, schlitterten vier Khazalimkrieger den Hügel hinunter. Nereni benutzte ein Wort, das sie von Aurian gelernt hatte und wich gegen den Baum zurück, wobei sie Ustila mit sich riß. Dann zog sie das Messer aus ihrem Gürtel, versteckte jedoch die Hand, die es hielt, in einer Falte ihres Gewandes. Der junge Soldat erhob sich mühsam, zückte sein Schwert und stellte sich zwischen die Frauen und den Feind – eine tapfere, aber nutzlose Geste. Nereni hörte seinen Todesschrei, sah ihn jedoch nicht fallen; denn mittlerweile hatten die anderen Khazalim sie umzingelt.


Die Krieger des Khisu blieben am Rand der großen Lichtung abrupt stehen und betrachteten mit verwunderten Blicken die Siedlung. Diese Ansammlung jämmerlicher Hütten, die Frauen, die um das Feuer herum saßen und arbeiteten, und alle anderen Anzeichen einer jungen, aber blühenden Gemeinschaft waren das letzte, was sie in diesem Wald erwartet hätten. Der drahtige, von Narben gezeichnete alte Veteran, der schon seit Jahren Xiangs militärischer Stellvertreter war, zügelte sein Pferd. Er hielt die Hand hoch, und die etwa vierzig Soldaten, die er mit Mühe und Not hatte zusammentrommeln können, verschwanden zurück in den Wald, um sein Signal abzuwarten, bevor sie weiterritten. Aber irgend etwas ließ den Mann zögern. Er hätte nicht so lange gelebt und sich sein Kommando bewahrt, wenn er sich blind in irgendwelche Abenteuer gestürzt hätte.

Er runzelte die Stirn und spielte geistesabwesend mit seinem langen Schnurrbart, wie er es oft tat, wenn er nachdachte. Was ging hier vor? Während all der Jahre und der ungezählten Plünderzüge nach Norden zu den Pferdeleuten war der Wald stets völlig verlassen gewesen. Es erstaunte ihn, daß der verwöhnte Harihn von allen vom Schnitter verlassenen Orten ausgerechnet diesen gewählt hatte, um sich anzusiedeln, aber die Männer, die seinen Soldaten aufgelauert hatten – und er mußte zugeben, daß sie ihre Sache gut durchgeführt hatten –, waren eindeutig Khazalim.

Während des ganzen Kampfes jedoch hatte man nichts von dem Prinzen selbst gesehen. Der rückgratlose junge Hund saß wahrscheinlich schmollend in einer dieser Hütten, dachte der Krieger verächtlich, und ließ wie gewöhnlich seine Männer die ganze Sache allein ausbaden. Einige Sekunden beobachtete er die Frauen, die nach Khazalimmanier züchtig verschleiert waren, während sie gelassen ihre häuslichen Pflichten verrichteten. Sie wurden nur von zwei schlaftrunkenen Männern bewacht, die mit gezückten Schwertern auf den Stufen eines großen Holzgebäudes standen. Harihn hatte eindeutig nicht damit gerechnet, daß der Feind so weit vorstoßen würde. Der Dummkopf hatte wirklich großes Zutrauen zu seinen Leuten. Der alte Hauptmann grinste freudlos. Nun ja, dann stand dem Prinzen jetzt ein Schock bevor. Er ließ die Hand sinken und gab damit seinen Leuten das Signal zum Angriff. Dann stieß er seinem Pferd die Sporen in die Flanken und sprengte, dicht gefolgt von seinen Soldaten, auf die Lichtung.

In Windeseile warfen die Frauen am Feuer ihre Röcke und Schleier ab und gaben sich damit als Männer und Krieger zu erkennen. Ihre Schwerter blitzten im Sonnenlicht auf, und gleichzeitig pfiff ein Hagel von Pfeilen aus den Hütten, die die herannahenden Soldaten niedermähten, sobald sie aus der Deckung auftauchten. Diejenigen, die noch standen, wurden schnell voneinander getrennt und kämpften gegen Krieger mit harten Gesichtern, die früher ihre Landsleute gewesen waren. Das Pferd des Hauptmanns stürzte mit einem lauten Schrei zu Boden; ein Pfeil hatte sich in seinen Hals gebohrt. Der alte Soldat ließ sich gerade noch rechtzeitig zur Seite rollen und sprang wieder auf die Füße, den Säbel noch in der Hand – nur um sich plötzlich einem Geist aus der Vergangenheit gegenüberzufinden: Eliizar! Es war der einäugige Schwertkämpfer, der früher einmal als Kommandeur unter ihm gedient hatte. »Du!« stieß der Hauptmann hervor.

Eliizar nickte. »Ich freue mich, daß du dich an mich erinnerst«, sagte er grimmig. Sein Schwert blitzte so schnell herab, daß der alte Soldat kaum Zeit hatte, sich zu verteidigen. Er parierte den Schwerthieb mit einer unbeholfenen Geste und taumelte zurück, wobei er beinahe über einen am Boden liegenden Leichnam gestolpert wäre. Eliizar folgte ihm. Sein Schwert war ein Wirbel zuckender Lichter, auf den der andere mit der Geschwindigkeit reiner Verzweiflung reagierte. Zu seinem Entsetzen mußte der Hauptmann entdecken, daß der Schwertmeister, obwohl er ein Auge verloren hatte, nichts von seinen alten Fähigkeiten eingebüßt hatte. Ein weißglühender Schmerz zuckte durch seine Eingeweide, und eine Woge der Schwäche schlug über ihm zusammen. Durch einen sich verdunkelnden Nebel von Schmerz sah er, daß rotes Blut von Eliizars Schwert tropfte. Der alte Soldat taumelte, verlor aber nicht den Halt.

Eliizar trat einen Schritt zurück und sah den anderen Mann abwägend an. »Es muß keine tödliche Wunde sein«, sagte er. »Du warst immer einer der besten, und wir brauchen gute Männer für das neue Leben, das wir uns hier einrichten wollen. Ergib dich, und ich werde dich verschonen. Komm zu uns hier in den Wald.«

Der Hauptmann spuckte ihm ins Gesicht. Er hob seine zitternde Klinge von neuem, fest entschlossen, sein Leben teuer zu verkaufen. »Den Khisu verraten? Niemals!«

Eliizar schüttelte traurig den Kopf. Sein Schwert fuhr abermals herab. Es war das letzte, was der alte Soldat sah.

Der Schwertmeister stützte sich einen Augenblick lang keuchend auf seine Klinge. Ich bin auch nicht mehr so jung, wie ich mal war, dachte er kläglich. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Kampf und mußte feststellen, daß er beendet war. Überall auf der Lichtung lagen tote und verletzte Männer, von denen die meisten die Uniform des Khisu trugen. Eine kleine Schar Überlebender wurde von den Siedlern in Schach gehalten, und nun traten auch die Frauen vorsichtig aus dem Langhaus, um sich der Verwundeten anzunehmen. Eine von ihnen blieb über einer regungslosen Gestalt stehen und wurde starr vor Schreck. »Eliizar«, rief die Frau drängend.

Der Verwundete war Jharav. Sein Gesicht war grau, und sein Atem kam in keuchenden und zischenden Stößen. Die Vorderseite seines Lederwamses war blutverschmiert. Als sich Eliizar über ihn beugte, öffnete er die Augen. »Guter Kampf«, flüsterte er. »Ganz wie in alten Zeiten …«

Eliizar stieß einen leisen Fluch aus. Jharav brauchte Hilfe, und zwar schnell. Er brauchte Nereni … Der Schwertmeister erstarrte. Wo war Nereni?


Sie hatten nicht damit gerechnet, daß eine Frau kämpfen würde. Der erste der Khazalim, der Hand an Nereni legte, erhielt das Messer zwischen die Rippen, aber die beiden anderen waren ihrer Überraschung inzwischen Herr geworden. Der eine, dessen Arme bis zu den Ellbogen mit dem Blut des jungen Burschen befleckt waren, packte Nereni und zerrte sie zu Boden, wo er einen Hagel von Schlägen auf sie niedergehen ließ und an ihren Kleidern zerrte. Der andere Krieger mußte Ustila eingefangen haben. Nereni konnte, während sie selbst sich gegen ihren Angreifer wehrte, die Schreie des Mädchens hören; das gellende Kreischen fachte Nerenis Zorn nur noch stärker an und gab ihr den Mut, aus Leibeskräften zu kämpfen. Aurian hatte ihr, während sie zusammen eingesperrt gewesen waren, den ein oder anderen Trick gezeigt. Sie schaffte es, einen Arm zu befreien, und stach einem ihrer Angreifer die steifen Finger in die Augen. Als sie spürte, wie seine Augäpfel nachgaben, stieg ihr bittere Galle in der Kehle auf. Der Mann schlug die Hände vors Gesicht, taumelte heulend zurück, und eine blutige Flüssigkeit sickerte durch seine Finger. Außer sich vor Zorn ließ sein Kamerad eine Faust auf Nerenis Kiefer krachen, und sie mußte an dem Blut, das ihr in den Mund schoß, würgen. Der Mann preßte sie nach wie vor zu Boden und konnte in dieser Position nicht an sein Schwert heran, aber plötzlich glitzerte ein Messer in seiner Hand.

Nereni hatte von Anfang an gewußt, daß es hoffnungslos war. Selbst wenn sie sie zuerst vergewaltigt hätten, hätten sie sie danach getötet. So blieb blieb ihr wenigstens dieser Schmerz und diese Demütigung erspart. Eliizar wäre stolz auf sie gewesen …

Das Messer hob sich, blitzte im Sonnenlicht blutrot auf – und entfiel den zuckenden Fingern des Kriegers. Der Mann röchelte, seine Augen traten aus den Höhlen, und er versuchte vergeblich, an der dünnen Schnur, die um seinen Hals lag, zu zerren. Nereni war kaum von der Last seines Gewichtes befreit, da wurde sie auch schon von einer drahtigen Hand auf die Füße gezogen, und sie blickte in Sturmvogels nachtdunkle Augen. Sie krümmte sich über seinem Arm zusammen, würgte und spuckte Blut und einen Zahn aus, den ihr die Faust ihres Angreifers aus dem Kiefer geschlagen hatte. Als sie sich schließlich wieder straffte und ihre tränenden Augen mit einem Lumpen aus ihrem zerfetzten Rock trocknete, sah sie Fink, wie er gerade seinen Fuß vom Rücken des Khazalim hob und die blutige Schnur zusammenwickelte. Ustila kauerte mit zerfetzten Kleidern schluchzend zwischen den Wurzeln des großen Baumes. Ihr Angreifer lag neben ihr. Aus seinem Rücken ragte ein Dolch heraus, wie er mit seinem in besonderer Art geschnitzten Knochengriff für die Himmelsleute typisch war. Nicht weit entfernt lag der Mann, dem Nereni die Finger in die Augen gestoßen hatte; auch er war tot, sein Schädel von einem großen Stein zerschmettert. Sturmvogel breitete seine gewaltigen Schwingen aus, so daß sie das grauenvolle Bild dahinter nicht mehr sehen konnte. »Komm, meine tapfere Freundin«, sagte er sanft. »Das Schlimmste ist jetzt vorbei. Wir werden euch nach Hause bringen.«

Ein völlig verzweifelter Eliizar war gerade damit beschäftigt, Suchtrupps zu organisieren, als er in der Ferne das Geräusch von Flügelschlägen hörte und die Himmelsleute auf die Lichtung zufliegen sah, wobei sie mit ihren menschlichen Lasten den Baumkronen gefährlich nah gerieten. Als Sturmvogel mit Nereni landete, stürzte Eliizar vor, und sein Herz verwandelte sich beim Anblick ihrer zerfetzten, blutbefleckten Kleider und ihres angeschwollenen, zerkratzten Gesichtes zu Eis. »Nereni!« Als er sie in die Arme nahm, konnte er ihr Zittern spüren, aber sie hob stolz das Kinn und wischte sich ungeduldig mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, eine Geste, die auf seltsame Weise an Aurian erinnerte. »Mir geht es gut«, murmelte sie durch dick angeschwollene Lippen. »Die Himmelsleute haben uns gerettet, gerade noch …« Über seine Schulter hinweg erblickte sie plötzlich Jharav. »Eliizar, nein! Er ist doch nicht …«

»Nein, aber er ist schwer verwundet«, erklärte ihr Eliizar sanft.

»Ich muß ihm helfen!« Ohne auf seinen Protest zu achten, daß sie selbst Hilfe brauche, eilte Nereni an die Seite des Verwundeten.

Der Schwertmeister drehte sich zu den Geflügelten um. »Ich kann euch gar nicht genug danken«, begann er, aber Sturmvogel kam ihm zuvor.

»Denk nicht mehr daran«, sagte er zu Eliizar. »Heute haben sich zum ersten Mal seit Jahrhunderten Himmelsleute in die Angelegenheiten der erdgebundenen Rasse eingemischt. Fink und ich haben herausgefunden, daß wir durchaus jemanden, der nicht zu unserem eigenen Volk gehört, gern haben – und für ihn kämpfen können. Und das war ein gutes Gefühl. Wenn du nichts dagegen hast, würden wir gern unsere Frauen herholen und jeden anderen, den wir überreden können, mitzukommen. Wir wollen uns in den Bergen am Waldrand ansiedeln, um eure Freunde zu sein und an euren Unternehmungen teilzuhaben; die beiden Gemeinschaften – die im Himmel und die auf dem Boden – können einander Hilfe und Beistand leisten.«

Eliizar starrte Sturmvogel mit offenem Mund an. Das war nicht nur die längste Rede, die er je von einem Geflügelten gehört hatte, auch ihr Inhalt erstaunte und erfreute ihn. Lächelnd hielt er den beiden geflügelten Kriegern die Hände hin. »Kommt zu uns, und seid uns willkommen«, sagte er. »Ich wüßte nicht, worüber ich mich mehr freuen könnte.«

Eine Stunde später hatte sich die Lichtung völlig verändert, da die erschöpften Siedler so schnell wie möglich auch noch die letzten Spuren des Kampfes beseitigt hatten. An mehreren Feuerstellen wurde Essen gekocht, und ein köstlicher Duft lag in der Abendluft. Man hatte die Verwundeten ins Langhaus gebracht, wo die Frauen sich hingebungsvoll um sie kümmerten, und Nereni hatte berichtet, daß sich Jharav noch immer an sein Leben klammerte. »Wenn er die heutige Nacht überlebt«, hatte sie zu Eliizar gesagt, »dann denke ich, hat er alle Chancen, sich wieder zu erholen. Der Schnitter weiß, der alte Narr ist ein zäher Bursche – und außerdem stur genug, um zu überleben.«

Die übrigen Arbeiten, die an diesem Abend verrichtet werden mußten, hatten Eliizar weit weniger froh gestimmt. Ölige Qualmwolken erhoben sich über einer nahen Lichtung, wo auf verschiedenen Scheiterhaufen die Leichen von Freund und Feind verbrannt wurden. Obwohl er nicht wußte, ob das ein kluger Schritt gewesen war, hatte er den gefangenen Überlebenden von Xiangs Streitmacht die Chance geben wollen, sich den Siedlern zuzugesellen; aber er hätte sich keine Gedanken darüber zu machen brauchen. Alle, die noch übrig waren, waren Xiang absolut treu ergeben und hatten sich geweigert, ihren Bündniseid zu brechen. Bis auf den letzten Mann hatten sie den einzig ehrenwerten Ausweg gewählt, der ihnen geblieben war, und sich in ihre Klingen gestürzt. Eliizar war entsetzt angesichts dieser Verschwendung so vieler guter Männer. Wie sooft dachte er voller Dankbarkeit an Aurian, die ihm die Gelegenheit gegeben hatte, jenes Land zu verlassen, das für so viele Grausamkeiten verantwortlich war. Die Ereignisse dieses Tages würde ihn bis an das Ende seines Lebens verfolgen.

Aber das waren keine passenden Gedanken für einen Tag des Sieges. Der Schwertmeister stand abseits seiner Männer am Rand der Lichtung und hoffte, daß ihm die Einsamkeit dabei helfen würde, sein Gemüt zu beruhigen, als er zu seiner Erleichterung feststellte, daß die Geflügelten zurückkehrten. Sie hatten sich erboten, den Wald noch einmal abzusuchen, bevor das Licht des Tages erlosch, um sicherzugehen, daß ihnen keiner der Eindringlinge durchs Netz geschlüpft war. Sie waren jedoch viel länger weggeblieben, als für diese Aufgabe notwendig gewesen wäre, und mit Einbruch der Dämmerung hatte Eliizar begonnen, sich zu sorgen.

»Wir bringen gute Neuigkeiten!« rief der ungeduldige Fink, der wie gewöhnlich zu sprechen begann, bevor er überhaupt gelandet war. »Wir haben euren verschwundenen König gefunden!«

»Zumindest glauben wir das«, fügte der vorsichtigere Sturmvogel hinzu, nachdem er sicher auf dem Boden stand. »Wenn der Narr weniger ungeduldig gewesen wäre und bis zum Untergang des Mondes gewartet hätte, hätten wir ihn vielleicht nie gefunden. Aber wir konnten ihn in dem Juwelenglühen sehen, wie er durch die Wüste ritt, als wären Dämonen hinter ihm her.«

Eliizar versteifte sich. »Wie weit ist er schon gelangt?« fragte er. »Könnt ich mich zu ihm bringen?«

»Natürlich!« erwiderte Sturmvogel. Der weniger robuste Fink reckte seine Flügel und seufzte. »Für dich nehmen wir auch das noch auf uns – aber das sollte dann besser die letzte Aufgabe für heute sein. Ich könnte mehrere Jahreszeiten gleichzeitig verschlafen und erst im nächsten Frühjahr wieder aufwachen.«


Aus der Luft war die Glitzernde Wüste ein atemberaubender Anblick. Über dem gewellten Meer aus Juwelenstaub entzündete der gerade erst aufgegangene Halbmond Feuerfunken, die wie Rubine, Saphire, Smaragde und Diamanten leuchteten. Strahlen blendenden Lichts drangen bis hoch hinauf in die Luft und wetteiferten mit der Pracht der Sterne – und Eliizar, der zwischen den beiden keuchenden Geflügelten hing, konnte weit draußen im Sand den dunklen Fleck einer sich hastig bewegenden Gestalt erkennen. Die Himmelsleute hatten sie mit ihren scharfen Raubvogelaugen bereits vor ihm erspäht und gingen nun langsam tiefer. Xiang, der nichts anderes im Sinn hatte als seine Flucht, verfiel keinen Augenblick lang auf die Idee, nach oben zu schauen. Eliizar wartete, bis er direkt über dem Khisu war, und die müden Geflügelten unternahmen einen letzten, tapferen Versuch, mit der Geschwindigkeit ihres Opfers mitzuhalten. Dann zog er sein Messer und durchtrennte den Boden des Netzes, so daß er auf den flüchtenden König fiel und ihn aus dem Sattel warf.

Beide Männer stürzten zu Boden, aber der Schwertmeister hatte das erwartet und hielt seinen Dolch bereits in der Hand. Er verschwendete keine Zeit an ein Duell mit Xiang – bei einem Kämpfer seines Kalibers war es der erste Hieb – und nur der erste –, der zählte. Der Khisu war ein geborener Mörder, und außerdem hatte Eliizar schon viel zuviel Tod für einen Tag gesehen, um sich mit überflüssigen Heldentaten aufzuhalten. Während die beiden Männer noch ineinander verkeilt auf dem Boden lagen, wollte er mit seinem Dolch Xiangs Kehle aufschlitzen und hoffte, gleich beim ersten Mal einen tödlichen Streich zu führen, aber sein Arm war bei dem Sturz leicht verletzt worden, und die Klinge verfehlte ihr Ziel. Fluchend ließ Eliizar seinen Gegner los und sprang auf die Füße, wobei er, noch bevor er sich ganz aufgerichtet hatte, schon sein Schwert aus der Scheide gezogen hatte.

Xiangs Augen weiteten sich, als er seinen Angreifer erkannte. Schnell wie eine Schlange sprang er von dem funkelnden Sand auf und brüllte: »Ich hätte dich töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte!« Er war fast so schnell wie Eliizar – fast. Bevor sein Schwert ganz aus der Scheide heraus war, bohrte sich Eliizars Klinge in seinen Hals. Xiangs Kopf blieb ein paar Meter von ihm entfernt im Juwelenstaub liegen.

Eliizar stützte sich auf sein Schwert und schüttelte den Kopf, während er noch immer seinen verstorbenen König und Feind betrachtete. »Ich habe dir immer gesagt, du sollst in der Schlacht deine Zeit nicht mit Reden verschwenden«, murmelte er. Dann hörte er donnerndes Flügelschlagen, und Fink und Sturmvogel landeten neben ihm; ihre Schwingen wirbelten glitzernden Sand auf, der sich langsam auf den Leichnam des Khisu senkte.

»Yinze sei Dank, daß es vorbei ist«, sagte der erschöpfte Fink. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«

Sturmvogel sah ihn wütend an und tippte sich mit der Hand an die Stirn, um Eliizar seine Ehrerbietung zu bezeigen. »Alles ist gut, o Herr der Waldländer. Die Schlacht um unser neues Heim ist gewonnen.«

Eliizar blickte auf die sterblichen Überreste von Xiang, dem Tyrannen, hinunter. »Ja.« Er lächelte grimmig. »Jetzt haben wir wirklich gesiegt.«

Загрузка...