13 Durch Erde …

»Das wird nicht einfach«, mahnte sich Zanna, während sie durch den niedrigen Eingang des Dienstbotenquartiers kroch und über die rissigen Bodenfliesen auf die Küche zueilte. Obwohl ihr Gespräch mit der Lady Aurian sie in ihrem Beschluß bestärkt und ihr neue Hoffnung gegeben hatte, konnte die Magusch ihr weder Schlaf noch Nahrung geben, beides Dinge, die sie jetzt dringend gebraucht hätte. Zannas Gedanken irrten umher, und ihre Glieder waren schwer vor Müdigkeit – aber in nächster Zukunft würde es keine Ruhe für sie geben. Die Lady war nicht da, um ihr zu helfen, falls sie einen Fehler begehen oder sich in Gefahr bringen sollte. Sie konnte sich nur auf sich selbst verlassen. Die Stunden vor Einbruch der Morgendämmerung würden kaum reichen für all das, was sie noch zu tun hatte – und es gab keine Garantie, daß sie es überhaupt schaffen würde.

Es kostete sie mehr Mut, als sie sich je zugetraut hätte, wieder zurück in die Küche zu gehen, in der die anderen Bediensteten schliefen und die obendrein überall Erinnerungen an Janok wecken würde. Obwohl sie den Rat der Magusch beherzigt und ihre zerfetzten, blutbefleckten Lumpen durch wärmere Kleider aus den Schränken im vereinsamten Schlafsaal der weiblichen Dienstboten ersetzt hatte, zitterte sie vor Angst und Kälte, als sie den Riegel hochhob und die schwere Tür gerade weit genug öffnete, um hindurchschlüpfen zu können.

Der höhlenartige Raum war nun deutlich dunkler, da die Feuer heruntergebrannt waren, aber als Zanna eintrat und die Tür hinter sich zuzog, hörte sie ein schläfriges Murmeln von den dunklen Gestalten in der Nähe des Herdes. Einer der Dienstboten regte sich und rollte, gestört von der plötzlichen Zugluft, zur Seite. Ohne nachzudenken tauchte Zanna in dem dunklen feuchten Raum neben der Spüle unter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie preßte sich die Knöchel auf die Lippen, um das Geräusch ihres Atems zu dämpfen. Schließlich entnahm sie der wieder eingekehrten Stille, daß der Schläfer zu seinen Träumen zurückgekehrt war, aber sie wartete trotzdem noch ein Weilchen, denn sie hatte Angst, daß sie ihn wieder stören würde, sobald sie versuchte, ihren Schlupfwinkel zu verlassen.

Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, daß sie kurz zuvor unter den Spülen das Messer gefunden hatte, und tastete daher in der Dunkelheit den Boden unter sich ab, aber solches Glück konnte man in einer Nacht wohl kaum zweimal erwarten. Alles, was sie unter ihren Fingern entdeckte, waren Fett und Schmutz und die Überreste des alten Teppichbodens. Als sie schließlich auf ein Gewirr klebriger Spinnweben traf, deren Besitzerin über ihren Handrücken huschte, bevor sie sich auf den Fußboden fallen ließ, war die Sache endgültig für sie erledigt. Mit einem Schaudern riß sie ihre Hand zurück und biß sich auf die Lippen, um einen Schrei zu unterdrücken. Dann beschloß sie, daß es nun wirklich an der Zeit sei, sich wieder in Bewegung zu setzen.

Und während sie jetzt aus ihrem Versteck herausschlich und wie ein Geist durch die stille Küche huschte, ging Zanna in Gedanken noch einmal Aurians Anweisungen durch. Es war ein Glück, daß sie mit dem Inhalt und der Einteilung des Raums so vertraut war, daß sie fand, wonach sie suchte, ohne Lärm zu machen oder das Risiko eingehen zu müssen, ein Licht zu entzünden. Dennoch griff sie zur Sicherheit nach ein paar Kerzen und einer Zunderbüchse, denn sie wußte, daß sie diese Dinge später dringend brauchen würde. Schließlich nahm sie einen der flachen Körbe, die oft benutzt wurden, um Brot und ähnliche Dinge zum Magusch-Turm zu tragen, ließ ihre Kerzen hineinfallen und fügte noch drei Kelchgläser hinzu, die sie vorsichtig einwickelte, damit sie nicht klapperten und klirrten.

Während sie die Küche durchquerte, um zu der Speisekammer zu gelangen, in der Janok seine wichtigsten Vorräte aufbewahrte, (aufbewahrt hatte, rief sich Zanna schaudernd ins Gedächtnis), nahm sie den schlimmsten Teil der ganzen Sache in Angriff. Sie hatte sich schon die ganze Zeit vor dem Augenblick gefürchtet, in dem sie gezwungen sein würde, dicht an den zusammengekauerten Schläfern vorm Herd vorbeizugehen. Mit angehaltenem Atem und auf Zehenspitzen schlich sie an ihnen vorüber, während sie den Henkel ihres Korbes so fest umklammerte, daß sich das gewundene Flechtwerk in ihre Handflächen bohrte. Jedesmal, wenn sich eine der schlafenden Gestalten am Feuer in ihren Decken umdrehte, schnarchte oder seufzte, erstarrte sie wie ein gehetztes Tier, so daß sie nur langsam vorankam, immer wieder stehenblieb und dann weiter huschte wie eine der Mäuse, die des Nachts über den Küchenboden flitzten – eben jene Mäuse, die verzweifelt Schutz vor Zanna suchten, als diese schließlich die relative Sicherheit ihres Bestimmungsortes erreichte.

Es war pechschwarz in der Speisekammer, so daß Zanna die Tür hinter sich schloß und das Risiko einging, eine Kerze anzuzünden, obwohl es sich als äußerst schwierig erwies, mit Fingern, die so heftig zitterten, einen Funken zu entfachen. Als es ihr schließlich gelungen war, ließ sie ein wenig von dem Wachs auf ein Regal tropfen und stellte die Kerze hinein, so daß sie beide Hände frei hatte. Dann stöberte sie hastig zwischen Broten, kaltem Fleisch und Käse, bevor sie sich dem hölzernen Gestell zuwandte, das die Weinkrüge enthielt. Als ihre suchenden Finger endlich auf die kühle glatte Oberfläche einer Karaffe stießen, ließ sie auch diese zusammen mit ihren anderen Beutestücken in ihrem Korb verschwinden, blies dann die Kerze aus und überließ den Mäusen mit größerer Sympathie für die kleinen Tiere, als sie je für möglich gehalten hatte, den Rest des Festmahls. Nun mußte sie den nervenaufreibenden Marsch quer durch die Küche noch einmal auf sich nehmen, und das so schnell sie es nur wagte. So leise wie sie gekommen war, schlüpfte sie schließlich auf der anderen Seite aus der Küche heraus und huschte durch die schmale Gasse, die zu der Krankenstube führte, die einst Lady Meiriels Domäne gewesen war.

Einen entsetzlichen Augenblick lang dachte Zanna, die Tür sei verschlossen, aber nach einem kräftigen Stoß stellte sich heraus, daß sie lediglich geklemmt hatte, nachdem sie so lange nicht mehr benutzt worden war. Die Tür sprang mit einem protestierenden Stöhnen und einem Knall auf, der Zanna das Herz erneut bis zum Hals schlagen ließ. Verdammt, o verdammt! Nicht in diesen stillsten Stunden der Nacht, in denen jeder Lärm bis wer weiß wohin zu hören war … Nicht jetzt, da sie dem Pförtnerhaus so nahe war …

Zannas verworrene Gebete gingen in dem Scharren eiliger Schritte unter, die sich über den Hof näherten. Instinktiv suchte sie nach einem Platz, an dem sie sich verstecken konnte, aber außer in der Krankenstube konnte sie nirgends Schutz finden – und wenn man sie dort erwischte, würden ihr nur noch schlimmere Schwierigkeiten bevorstehen, als sie sowieso schon hatte. Und ein Fluchtversuch würde ihr bloß einen Pfeil eintragen, und zwar ohne daß sie vorher irgendwelche Fragen beantworten konnte.

Und dann war es zu spät zum Nachdenken. Ein gewaltiger Schatten ragte plötzlich vor ihr auf, und sie prallte gegen den Türrahmen zurück, einen Entsetzensschrei auf den Lippen, da sich die Spitze eines Schwertes an ihre Kehle preßte.

»Also wirklich – es ist ein Mädchen! Marek, statt da rumzustehen und in der Nase zu bohren; solltest du mir lieber die Laterne hier rüberbringen.«

Zanna blinzelte, als ihr das grelle Licht ins Gesicht fiel. Die beiden Wachen dahinter waren noch immer nur namenlose riesige Schatten für sie.

»Bist du nicht Lady Eliseths kleine Magd?« erkundigte sich nun dieselbe Stimme, die vorher gesprochen hatte. »Bei Tharas Titten, Mädchen – ich hätte dich um ein Haar für einen Rumtreiber gehalten und aufgespießt! Was, bei allen schwärenden Höllen, hast du mitten in der Nacht hier draußen zu suchen?«

Beinahe geistesabwesend senkte der Wachmann das Schwert, und seine Nachlässigkeit war eine solche Erleichterung für Zanna, daß sie plötzlich ihre Stimme und ihren Verstand wiederfand. »Das war nicht meine Idee«, murmelte sie verdrießlich. »Lady Eliseth kann nicht schlafen, hm? Sie reißt mich aus dem Bett – nachdem ich die halbe Nacht aufgewesen bin und mir die Augen verdorben habe für ihre blöde Näherei – und schickt mich runter, damit ich ihr was zu essen hole.« Zum Beweis hielt sie dem Wachposten ihren Korb hin.

»Also hör mal, Mädchen – ich weiß ja nicht, was für ein Spielchen du da treibst, aber die Wache, die vor uns Dienst getan hat, hat erzählt, die Lady sei kurz nach Mitternacht ausgegangen. Hat sich einfach ohne ein Wort zu sagen am Pförtnerhaus vorbeigedrückt, aber der junge Feddin hat sie trotzdem gesehen. Und seit ich im Dienst bin, ist sie nicht zurückgekommen. Also, was sagst du dazu?«

»Dazu sage ich, daß du im Dienst geschlafen haben mußt«, erwiderte Zanna kühn. »Die Lady ist doch schon vor Stunden zurückgekehrt. Möchtest du vielleicht mit mir nach oben in den Turm stiegen und ihr erklären, daß du sie nicht gesehen hast?« Sie stand steif wie ein Stock da, damit ihre Knie nicht zitterten, und betete zu allen Göttern, daß die Männer nicht genug Mumm hatten, um die Probe aufs Exempel zu machen. »Ich würde es ja nicht tun, wenn ich an eurer Stelle wäre«, fügte sie hinzu, als sie sah, daß die beiden zögerten. »Sie ist schlimmer als ein wildgewordener Stier, wenn sie nicht schlafen kann.« Um das Maß vollzumachen, schob sie sich nun das Haar aus dem Gesicht und ließ die beiden Wachen einen Blick auf die Schwellungen werfen, die Janoks Fäuste hinterlassen hatten.

Glücklicherweise hatten diese Muskelpakete von Söldnern, genau wie Zanna vermutet hatte, allergrößte Ehrfurcht vor dem Zorn der Wettermagusch.

»Das ist ja alles schön und gut, aber was hattest du in der Krankenstube zu suchen?« fragte der andere Wachposten, um hastig das Thema zu wechseln.

Zanna seufzte vor Erleichterung. Hier zumindest konnte sie die Wahrheit sagen – oder jedenfalls beinahe die Wahrheit. »Sie wollte ein paar Kräuter, um sich einen Schlaftrunk zu bereiten. Und ich bin schon sehr spät dran, weil ich meine Laterne auf dem Hof habe fallen lassen und es nicht wagte zurückzugehen, um mir eine andere zu holen. Bitte – könnt ihr mir nicht dabei helfen zu suchen, was sie haben will, damit ich, so schnell ich kann, wieder zurückkomme? Bei ihrer augenblicklichen Stimmung habe ich Angst, sie warten zu lassen.«

»Natürlich helfen wir dir, Kleine«, erwiderte der erste Wachmann freundlich. »Es tut mir leid, daß wir dich aufgehalten haben, weißt du – aber das ist eben unsere Aufgabe hier. He, Marek, gib mir mal diese verdammte Laterne da. Das arme Mädchen muß doch sehen können, was es tut.«

Da Aurians Anweisungen ausgesprochen genau gewesen waren, fand Zanna die benötigten Kräuter ohne weitere Schwierigkeiten. Dann verabschiedete sie sich von den Wachen und eilte mit zitternden Knien zurück über den Hof zum Turm der Magusch. Bei den Göttern, das war wirklich knapp gewesen – und noch war die Gefahr nicht vorüber! Warum, zum Teufel, war die Lady Eliseth ausgerechnet heute nacht ausgegangen? Nun, Zanna konnte nur beten, daß sie genug Zeit haben würde, ihren Vater zu befreien, bevor die Magusch wirklich zurückkam und der ganze Schwindel aufflog.


»Könnt ihr zwei hübschen, schwer arbeitenden Herren vielleicht ein wenig Wein brauchen, um euch die Nacht etwas angenehmer zu machen? Ich habe ihn eigentlich für Lady Eliseth geholt, aber sie schläft – und wir wollen ihn doch nicht verschwenden, oder?« Zanna streckte den beiden Wachen vor Vannors Tür hoffnungsvoll den Korb hin. Da sie noch nie in ihrem Leben versucht hatte, kokett zu sein, konnte sie sich nur auf die Geschichten der Küchenmägde und auf Erinnerungen stützen, wie sich ihre ältere Schwester den Jungen gegenüber immer benommen hatte. Hoffentlich packte sie es richtig an! Zanna hatte mit Soldaten genausowenig Erfahrung wie im Flirten, sonst hätte der Erfolg ihrer List sie nicht sosehr überrascht. Wenn Wein im Spiel war, mußte das Mädchen, das ihn anbot, noch weitaus unattraktiver sein als sie, um zurückgewiesen zu werden. Ein Strahlen erhellte die Gesichter der beiden Soldaten, die Vannors Tür bewachten. Sie waren ein wenig einnehmendes Paar: der erste, ein schmutziger Bär von einem Mann, der in eine verfilzte Masse gelockten roten Haares gehüllt war; der zweite, kleiner und drahtiger, mochte vielleicht einmal hübsch gewesen sein, aber sein Gesicht wurde von einer gezackten roten Narbe entstellt, die sich von einer Seite zur anderen erstreckte und seinen Mund schrecklich verzerrte. Das allein wäre nicht so schlimm gewesen, dachte Zanna – aber seine Augen waren kalt und schmal und hatten den wilden, mitleidlosen Blick eines Mannes, der lebte, um zu töten.

Schließlich begann der große rothaarige Wachposten zu lächeln. »Na, ich muß schon sagen, das ist ein netter Gedanke, kleines Fräulein«, sagte er und streckte gierig die Hand nach der Flasche aus.

»Einen Augenblick mal«, unterbrach ihn der andere argwöhnisch. »Warum, im Namen aller Götter, sollte uns irgendein Weibsbild zu dieser nächtlichen Stunde Wein und etwas zu essen bringen?«

»Jedenfalls bestimmt nicht, weil sie ein Auge auf dich geworfen hat, soviel steht mal fest«, höhnte sein Kamerad. »Was glaubst du denn, du Idiot?« Er nahm einen langen Schluck aus der Flasche. »Es ist ganz schön einsam da unten in den Dienstbotenquartieren, was, mein Vögelchen?« Mit lüsternem Zwinkern drehte er sich nun zu Zanna um.

»Oho«, sagte der kleinere Mann, dem nun auch endlich ein Licht aufgegangen war. »Dann sauf mal nicht alles aus.« Hastig grabschte er nach der Karaffe. »Ich bin sicher, das kleine Fräulein hatte den Wein nicht ganz allein für einen häßlichen alten Bastard wie dich bestimmt.«

»Bedien dich. Ich finde, er schmeckt ein bißchen komisch – aber wahrscheinlich ist das genau die Art von Pferdepisse, die diesen Maguschbastarden gefällt.« Der große Wachposten reichte die Flasche weiter und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund. »Ich persönlich bin ja mehr für Bier, bin ich«, fügte er hinzu. Gerade in dem Augenblick, als Zanna darüber nachdachte, daß sie sich nicht die Mühe hätte machen müssen, nach Bechern zu suchen, wurde sie von einem Paar behaarter sehniger Arme emporgerissen. »Und für Weiber«, fuhr die Wache fort und grinste ihr höhnisch ins Gesicht.

Zanna biß die Zähne zusammen und zwang sich, ruhig zu bleiben. Irgendwie – sie wußte selbst nicht wie – gelang es ihr, ein Lächeln zustande zu bringen. »Nun, da müssen wir uns wohl drum kümmern, wie?« erwiderte sie – und bemühte sich krampfhaft, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, während sie spürte, wie seine Hand unter ihre Röcke glitt.

»He, Moment mal!« Eine grobe Hand griff nach ihrem Arm und riß sie ihrem Bewunderer weg. »Jetzt bin erst mal ich an der Reihe, du stinkender Sack Kuhmist!« Der zweite Wachposten drückte seinem Kameraden mit finsterer Miene die Weinflasche in die Hand. »Hier – du hast ja vorhin nicht viel mitbekommen«, sagte er mit gespielter Großzügigkeit. »Trink du das Zeug aus, während ich mit der kleinen Dame hier Bekanntschaft schließe.« Dann preßte er Zanna gegen die Wand, während er ihr Gesicht mit geifernden Küssen bedeckte. Zanna kämpfte gegen eine Woge der Übelkeit an und zwang sich, die widerliche Prozedur über sich ergehen zu lassen.

»Du Dreckskerl!« Der erste Soldat leerte die Flasche und schleuderte sie von sich, so daß sie an der Wand zersplitterte. »Gib sie mir zurück, du pockennarbiger kleiner Bastard. Ich hatte sie zuerst!« Mit einer fleischigen Hand zerrte er seinen Rivalen weg.

Der kleine Mann mit dem Charakter eines Mörders murmelte einen Fluch und tastete nach seinem Messer. Zanna ergriff die Gelegenheit, um sich ihm zu entwinden. »Still!« zischte sie. »Wollt ihr denn, daß die verdammten Magusch uns hören?«

Während dieser Gedanke langsam in das eindrang, was man wohl als das Gehirn der beiden Söldner bezeichnen mußte, hörten die Wachen auf, sich zu balgen und drehten sich mit offenen Mündern zu ihr um. Zanna zwang sich zu einem neuerlichen Lächeln. »Es ist überhaupt nicht nötig, daß ihr euch streitet«, sagte sie einschmeichelnd. »Wir haben doch den ganzen Rest der Nacht vor uns.«

»Was für ein kluges kleines Mädchen du bist«, meinte der große Soldat strahlend. »Komm schon, Liebchen – wie wäre es jetzt mit einem Kuß für mich?« Er streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen – und taumelte würgend über seine eigenen Füße, das Messer seines Rivalen zwischen den Schulterblättern.

Der Mann mit den Mörderaugen setzte dem anderen einen Stiefel auf den Rücken und zog sein Messer aus der Leiche. »Und jetzt haben wir die ganze Nacht – ganz allein für uns zwei.« Das blutige Messer noch immer in Händen, ging er auf Zanna zu, und ein widerliches Grinsen spielte um seine Lippen, als sie vor ihm zurückwich. »Du mußt nicht schüchtern sein, Kleine. Für den Anfang wollen wir mal sehen, wie du unter diesen ganzen Klei …«

Plötzlich wurden seine Augen glasig. »Bei den Göttern, was ist denn los? Du Hexe, du hast mich vergiftet …« Er taumelte und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden, nachdem die Handvoll zerstampfter Kräuter, die Zanna in den Wein getan hatte, endlich Wirkung zeigten.

Zanna ließ sich an der Wand zu Boden sinken und atmete tief durch, bis sich der Schwindel aus ihrem Gehirn verflüchtigte und sie auch den Drang, sich zu übergeben, wieder unter Kontrolle hatte. Dann bückte sie sich hastig und tastete in dem Gürtel des großen rothaarigen Wachpostens nach seinen Schlüsseln, eine Aufgabe, die um so schwieriger war, weil sie sich nicht überwinden konnte, ihn anzusehen. Er mochte zwar ein lüsterner Narr gewesen sein, aber er hatte trotzdem einen durch und durch harmlosen Eindruck erweckt – schließlich mußte ihr Verhalten ihm wie eine offene Einladung erschienen sein –, und er war freundlich zu ihr gewesen. Jetzt jedoch war er tot – und das war allein ihre Schuld.

»Ich wollte das nicht. Ich wollte sie doch nur betäuben«, murmelte sie hilflos, aber das entsetzliche Schuldbewußtsein, das sie in der Kehle würgte, wollte nicht von ihr abfallen.

Wie um sie vollends in Verwirrung zu stürzen, hing an dem Gürtel des Wachmanns kein Schlüsselring, aber nachdem sie unter heftigen Flüchen die Taschen des toten Mannes durchwühlt hatte, fand Zanna endlich, wonach sie suchte. Sie betete, daß dies der richtige Schlüssel sein möge, steckte ihn in das Schloß – und atmete erleichtert auf, als dieses sich mit einem Klicken öffnete. Dankbar zog sie den Schlüssel wieder heraus, glitt schweigend in den Raum hinter der Tür und schloß diese wieder zu.

Im Wohnzimmer gab es keinerlei Licht bis auf eine kleine Anzahl dumpfer rubinroter Flecken, bei denen es sich wohl um die verglühenden Kohlen im Ofen handeln mußte. Zanna, die genau wußte, wo die einzelnen Möbel standen, trat an den Tisch und entzündete eine Kerze, aber was sie dort in dem heller werdenden Licht sah, ließ sie mit einem unterdrückten Entsetzensschrei zurückprallen. Die einst glatte Holzfläche des Tisches was zerfetzt und zersplittert und genau wie der Fußboden darunter mit rostroten Blutflecken übersät. »Nein«, wisperte sie, zu Tode erschrocken. »Oh, ihr Götter, nein!« Nach allem, was geschehen war, nach allem, was sie durchgestanden hatte – da konnte sie doch jetzt nicht zu spät kommen, oder?

Zanna focht den schwersten Kampf ihres Lebens aus, um nicht auf der Stelle davonzulaufen. Sie wollte nicht wissen und konnte auch nicht ertragen, was sie im Nebenzimmer erwarten mochte. Aber sie mußte es herausfinden: Sie konnte es nicht riskieren, es nicht herauszufinden. »Sei keine verdammte Närrin«, schalt sie sich zornig. »Würde sich die Lady Aurian wie ein Feigling davonjagen lassen?« Während sie sich das Bild der Magusch vor Augen hielt, um neuen Mut zu fassen, griff sie nach der Kerze, ohne sich auch nur im geringsten um die heißen Wachstropfen zu kümmern, die sich auf ihre zitternde Hand ergossen – und ging entschlossen ins Schlafzimmer.

Vannor lag wie ein zerbrochenes Spielzeug mit verzerrten Gliedern auf dem Bett. Sein Körper war schlaff und reglos und sein eingefallenes Gesicht von einem geisterhaften aschfarbenen Grau. Blut befleckte die grüne Seidendecke, und seine rechte Hand war verbunden. Sosehr sich Zanna auch bemühte, sie konnte unter den Fetzen des Hemdes keine Bewegung entdecken, die verriet, daß ihr Vater noch atmete. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht dazu überwinden, zu ihm hinzutreten. »Vater«, versuchte sie zu flüstern, aber das Wort wollte nicht an dem Klumpen vorbei, der sie in der Kehle würgte. Sie ging einen zögernden Schritt auf ihn zu und dann noch einen, aber es schien, als wäre die Luft selbst zu einer undurchdringlichen Mauer geworden, die sie von ihm fernhalten wollte.

»Vater – o Vater!« Ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war, kniete sie plötzlich vor dem Bett und schluchzte herzzerreißend in die kühle Seide der Decke. Ihre Tränen, einmal losgelassen, ließen sich nun nicht mehr aufhalten. Ohne einen Gedanken an die Gefahr, in der sie selbst schwebte, überließ sich Zanna ganz ihrer Trauer, und ihr Körper erbebte unter heftigen Schluchzern, während sie den Vater betrauerte, den zu retten sie zu spät erschienen war.

»Was … wer … Zanna?«

Aber es war nicht seine Stimme, die ihren Kummer als erstes durchdrang – es war seine kalte, schwache Hand, die ihr über das zerzauste Haar strich. Zanna sprang mit einem Entsetzensschrei auf den Lippen zurück, taumelte und fiel hart auf den Boden. Dann blickte sie auf und sah ihren Vater an, der sich kraftlos auf einen Ellbogen stützte und mit trüben Augen zu ihr hinunterschaute.

»Es ist Zanna. Was machst du denn hier?« krächzte er. »Ich dachte, ich träume …«

»Und ich dachte, du wärst tot!« rief Zanna, die sich noch immer ein wenig davor fürchtete, ihn anzusprechen. Sie konnte kaum glauben, daß ihr Vater wirklich da war, daß er noch lebte und mit ihr sprach, daß er kein Geist war, den sie da sah und hörte.

Der Hauch eines Lächelns ließ das hagere Gesicht des Kaufmanns für einen Augenblick weicher werden. »Nein, mein Liebes, ich bin nicht tot – obwohl ich fast wünschte, ich wäre es.«

»Das darfst du nicht sagen!« Zanna spürte, wie heißer Zorn in ihr aufwallte. »Verdammt, wenn du nur wüßtest …«

»Es tut mir leid.« Er streckte die Hand aus, um sie in die Arme zu nehmen – und fiel schlaff auf sein Lager zurück. Sein Gesicht wurde knochenbleich vor Schmerz, als er versuchte, die verletzte Hand zu bewegen.

Zanna flog an seine Seite und brauchte all ihre Kraft, um ihn hochzuziehen und mit Hilfe der Kissen aufzustützen. Schweiß trat Vannor auf die Stirn, und Zanna sah, wie er die Zähne zusammenbiß, um nicht laut aufzuschreien – damit sie nicht bemerkte, wie sehr ihm jede Bewegung weh tat. Sie umarmte ihn, so fest sie es wagte; so glücklich war sie, ihn endlich wiederzusehen, daß sie am liebsten wieder in Tränen ausgebrochen wäre – aber jetzt, da sie wußte, daß er noch lebte, gab es drängendere Angelegenheiten – wichtigere Dinge sogar, als herauszufinden, was ihm die Magusch angetan hatten. Es blieb ihnen so entsetzlich wenig Zeit, und verletzt wie ihr Vater war, wie sollte es Zanna da gelingen, sie beide aus der Akademie herauszuschaffen?

»Ist da irgendwo Wasser?« flüsterte Vannor. Zanna beeilte sich, einen Krug herbeizuholen, und fügte dann einem Impuls gehorchend einen Spritzer von dem starken Schnaps hinzu, den sie in einer Karaffe auf dem Nachttischchen entdeckt hatte. Dann hielt sie Vannor den Becher hin und stellte, während er trank, mit einiger Erleichterung fest, daß ein wenig Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.

»Vater«, sagte sie drängend, »hör mir gut zu. Ich bin hier eingedrungen, um dich rauszuholen – das ist unsere einzige Chance zu fliehen, aber wir müssen uns beeilen. Ich habe …« Aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Wie konnte sie ihrem Vater, der sie immer noch als kleines Mädchen betrachtete, erklären, daß sie in dieser Nacht zwei Männer getötet hatte und daß sie beide flüchten mußten, bevor irgend jemand die Leichen fand? »Weißt du«, improvisierte sie, »die Lady Eliseth ist in die Stadt gegangen, aber sie könnte jeden Augenblick zurückkehren, und wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn ich dir helfe, glaubst du, du könntest dann gehen?«

Ein altes, wohlvertrautes Glitzern trat in die Augen ihres Vaters. »Um aus diesem verfluchten Schlangenloch herauszukommen? Ich würde auf den Händen hier herauskriechen …« Er verschluckte sich fast an dem Wort, als bereite es ihm eine besondere Qual. »Nun, ich würde jedenfalls kriechen«, fügte er lahm hinzu. »Komm, Mädchen – hilf mir auf. Und nimm diesen Schnaps mit, wenn du ihn tragen kannst. Wir werden ihn vielleicht noch brauchen, bevor wir fertig sind. Wenn auch nur, um mich aufrechtzuhalten.« Er grinste sie an, als wäre sie auch ein Mann, ein Waffenkamerad, und Zannas Herz schwoll vor Stolz. »Ich nehme doch an«, fügte er hinzu, »daß du, nachdem du schon so weit gekommen bist, auch einen Plan hast, wie du uns hier rausbringst?«

»Verflucht!« Zanna schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Um ein Haar hätte ich den beschissenen Schlüssel vergessen!«

»Zanna!« Vannors Tadel war eine väterliche Instinktreaktion. »Solche Ausdrücke hast du aber nicht bei mir gelernt!«

»O doch, hab’ ich wohl!« Zanna kicherte – aber da ihr Kopf in diesem Augenblick in den Tiefen von Aurians Schrank verschwunden war, zweifelte sie daran, daß ihr Vater die Antwort gehört hatte. Hastig durchstöberte sie die zusammengefalteten Kleidungsstücke im Schrank, bis sie eine verblichene, alte graue Robe fand, wie die Magusch sie immer trugen. Sie zog das Kleid aus dem Stapel heraus, ließ ihre Hand in die Tasche gleiten, die Lady Aurian erwähnt hatte – und seufzte vor Erleichterung, als sich ihre Finger um ein kunstvolles Gebilde aus eiskaltem Metall schlossen. Schnell zog sie das Ding heraus, und da lag er, im Kerzenlicht funkelnd – ein kunstvoll gefertigter Schlüssel, der aussah wie poliertes Silber. Aurians Schlüssel zu den Archiven – und Zannas Schlüssel zur Freiheit.

Sie dachte, sie würde ihren Vater niemals die gewundene Treppe des Turms hinunterbringen. Für Zannas überanstrengte Nerven schien der Abstieg eine ganze Ewigkeit zu dauern. Obwohl sich Vannor mit seiner linken Hand am Geländer festklammerte und seine Tochter ihn auf der anderen Seite mit ihrer Schulter stützte, geriet er doch immer wieder ins Stolpern und taumelte wie ein Betrunkener. Hinzu kam noch die Gefahr, der Lady Eliseth zu begegnen, die jeden Augenblick von ihrem nächtlichen Ausflug zurückkehren konnte.

Als sie endlich am Fuß der Treppe angelangt waren, hätte Zanna am liebsten vor Erleichterung und Müdigkeit geweint. Neben der Notwendigkeit, ihrem Vater zu helfen, behinderte sie auch der Korb mit seinen lebenswichtigen Nahrungsvorräten, den sie auf dem Treppenabsatz neben den beiden Wachen – eine schlafend und die andere tot – stehen gelassen und nun wieder mitgenommen hatte. Der Korb erwies sich auch als äußerst nützlich, um die beiden Flaschen aus dem Gefängnis ihres Vaters zu transportieren, eine mit Wasser, die andere mit Schnaps gefüllt. Aber trotz des geflochtenen Griffs, den sie sich über den Arm hängen konnte, war der Korb immer noch sperrig und schwer – und er beraubte sie der Hand, die sie gebraucht hätte, um Vannor, falls er fiel, festzuhalten. Schon jetzt zitterte sie unter der Anstrengung, ihren Vater zu stützen – und wer konnte sagen, wie weit sie noch gehen mußten?

Als Tochter und Vater die Schwelle nach draußen überquerten, schien die kalte Nachtluft sie wiederzubeleben – diese und die Tatsache, daß sie der bedrückenden Atmosphäre im Turm endlich entronnen waren.

Glücklicherweise war der Weg durch den Hof zur Bibliothek nicht lang, obwohl er viel länger dauerte, als ihr lieb sein konnte, da Vannor nur mit unendlicher Langsamkeit von der Stelle kam. Der Mond war schon lange untergegangen, so daß kein Lichtstrahl die Flüchtlinge verriet. Keine Wachen traten ihnen in den Weg, um sie aufzuhalten, und keine Lady Eliseth sprang, fürchterlich in ihrem Zorn, aus den Schatten heraus, um eine Erklärung für die Flucht der beiden Sterblichen zu fordern. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Zanna, die in der nächtlichen Kühle zitterte, hatte das ungute Gefühl, daß sie ihr Glück schon über Gebühr beansprucht hatten. Das Blatt konnte sich jederzeit wenden.

Die Bibliothek war in der Dunkelheit ein Labyrinth von Hindernissen, und Zanna konnte sich lediglich mit Hilfe ihrer Erinnerung zur inneren Tür vortasten. Wieder und wieder hörte sie Vannors gedämpftes Fluchen und spürte, wie er ins Taumeln geriet, wenn sie wieder einmal mit einem unsichtbaren Hindernis zusammengestoßen waren – einem Tisch, einem Stuhl, einem in den Raum hineinragenden Regal. Zumindest, so versuchte sie sich zu trösten, würden sie sich keine Sorgen bereiten müssen, daß sie Spuren hinterließen. Die in Sachen Ordnung äußerst anspruchsvolle Lady Eliseth hatte sich in letzter Zeit sehr häufig in der Bibliothek aufgehalten und sich einen Luftzauber ausgedacht, mit dem sie alle Spinnweben und allen Staub losgeworden war.

Als sie im hinteren Teil des Raumes angelangt waren, mußte Zanna ihren Vater für eine Weile allein lassen, während sie sich mit ausgestreckten Händen weitertastete, um nach dem schmiedeeisernen Gitter zu suchen, das das Tor zum Archiv bildete. Als sie es endlich gefunden hatte, stand sie vor der nächsten schwierigen Aufgabe, nämlich allein mit Hilfe ihrer suchenden Finger das Schlüsselloch zu finden. Nach einer Reihe verzweifelter Versuche glitt der Schlüssel endlich ins Loch, und Zanna spürte, wie sich die Tür auf gut geölten Angeln öffnete, ohne ein Geräusch zu verursachen, das den tiefen Frieden in dieser Domäne des Wissens hätte stören können. Hastig tastete sie sich zurück zu der Wand, an der sie Vannor zurückgelassen hatte. Als sie ihn fand, war er über dem Tisch, an dem er gesessen hatte, zusammengesunken.

»Vater! Komm schon, du kannst jetzt nicht schlafen!« Obwohl sie ihn so kräftig schüttelte, wie sie es nur vermochte, dauerte es sehr lange, bis er endlich aufwachte. Als nächstes hörte sie eine Anzahl finsterster Flüche, für die er, wäre er ganz bei Verstand gewesen, jeden Mann umgebracht hätte, wenn dieser es gewagt hätte, sie in Gegenwart seiner Tochter auszusprechen. Dennoch taumelte er folgsam hinter ihr her und hielt sich an ihrer Hand fest wie das Opfer eines Schiffbruchs, das sich an ein letztes Stück Treibholz klammert. Zanna schob ihn in das Archiv, griff dann nach dem Metallgitter und schloß mit einem deutlich vernehmbaren Seufzer der Erleichterung die Tür hinter sich.

Es war jedoch noch nicht vorbei. Trotz der Tatsache, daß sie zumindest für den Augenblick den Magusch entkommen waren, lag das Schlimmste noch vor ihnen – wie Zanna schon bald herausfinden sollte. Vannor hinter sich her zerrend, tastete sie sich erst durch zwei Biegungen des langen Ganges, bevor sie es riskierte, ein Licht zu entzünden, aber als sie endlich wagte, eine ihrer Kerzen zu benutzen, war sie froh, daß sie nicht länger gewartet hatte. Die schwache Flamme enthüllte einen schmalen, niedrigen Korridor mit roh behauenen Wänden – und nur ein halbes Dutzend Schritte vor ihnen lag eine steile Treppe, die in wer weiß welche Tiefen der Düsternis führte.

Das war zuviel! Zanna, die noch immer bei dem Gedanken daran zitterte, wie knapp sie ihrem Schicksal entronnen waren, gelangte zu der Einsicht, daß weder sie noch ihr Vater weitergehen konnten, ohne sich etwas auszuruhen – selbst dann nicht, wenn alle Furien dieses infernalischen Höllenschlunds ihnen auf den Fersen wären. Vannor brauchte nicht erst überredet zu werden. In der Zeit, die es sie gekostet hatte, ihre Kerze zu entzünden, war er an der Wand hinuntergeglitten und lag nun wie ein Häufchen Elend zu ihren Füßen. Zanna fluchte laut. Es ist einfach nicht fair, dachte sie wild. Während des größten Teils ihres Lebens hatte ihr Vater für sie gesorgt. Wie war es nur möglich, daß das Blatt sich nun solchermaßen gewendet hatte?

Dieser Gedanke erinnerte Zanna an Aurian. Hatte auch sie diesen verzweifelten Zorn verspürt, dieses Gefühl von Hilflosigkeit, als sie gezwungen gewesen war, aus Nexis zu fliehen? Nun, sie hat es geschafft, dachte Zanna halsstarrig – dann werde ich es auch schaffen!

Dennoch brauchte sie eine ganze Weile, um ihren Vater wiederzubeleben. Als erstes angelte sie den einzigen ihr noch verbliebenen Becher aus dem Korb, mischte noch einmal Wasser und Brandy zusammen und hielt das Getränk an seine Lippen. Es schien ihn tatsächlich ein wenig zu beleben – wenn auch nur teilweise. Vannor prustete, öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. »Wo, zur verdammten Hölle, sind wir?«

»In den Katakomben unter der Bibliothek – zumindest werden wir dort sein, wenn wir es schaffen, diese Treppe da hinunterzukommen.« Zanna kämpfte gegen den Drang, sich an dem Ärmel ihres Vaters festzuklammern. »Vater – du hast mir einmal erzählt, daß die Archive irgendwo in die Abwasserkanäle münden, in denen du dich früher versteckt hast … aber weißt du auch, wie man von hier aus dort hinkommt?«

»Nein, mein Kind.« Vannor schüttelte den Kopf. »Von hier aus nicht. Ich weiß nur, daß wir immer weiter abwärts gehen müssen. Wir müssen uns auf die älteren und kälteren Teile der Gewölbe zubewegen – das jedenfalls hat Elewin gesagt –, bis wir in eine Höhle gelangen und zu einem Tunnel mit einer verrosteten Eisenleiter … Die führt dann in die Kanalisation, und danach haben wir es ja halbwegs geschafft …«

Na wunderbar, dachte Zanna kläglich. Das ist ja wirklich eine große Hilfe! Aber wenn wir uns hier unten verirren, sollte es wohl selbst die Fähigkeit der Magusch übersteigen, uns zu finden – und mir wäre jedes Schicksal lieber, als von neuem Eliseth in die Hände zu fallen.

Mit einem unterdrückten Seufzer hängte sie sich den Korb wieder über den Arm und griff mit derselben Hand nach der Kerze. Dann schob sie ihre freie Schulter unter Vannors Arm und half ihrem Vater auf die Beine, bevor sie ihn zur Treppe und von dort aus in die unergründliche Dunkelheit dahinter führte.

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