12 Ein Hilfeschrei

Was Aurian an der Xandim-Festung am besten gefiel, war die Tatsache, daß sich das Innere so vollkommen vom Äußeren unterschied. Während das riesige Gebilde von außen stämmig und solide wirkte und aus geraden Linien und scharfen Winkeln bestand, konnte doch jeder, der Augen hatte, sofort erkennen, daß die Wände des Gebäudes in ihrem Innern kein totes, von Menschen geschaffenes Artefakt beherbergten, sondern ein lebendes Wesen. Die Flure und Kammern hatten Böden und Wände, die ohne sichtbare Verbindung ineinander wuchsen; die gewölbten Decken wiesen Rippenmuster auf, die wie Knochen aussahen: alles, angefangen von den Fenstern bis zu den Feuerstellen, von den Oberschwellen der Türen und den Fackelhaltern, von den Bänken, die genau in der richtigen Höhe aus den Wänden hervorsprangen, um Menschen bequeme Sitze zu bieten, bis hin zu den breiten Steinvorsprüngen, die die Xandim mit Schaffellen und Heidekraut bedeckten, so daß sie bequeme Betten ergaben – das alles ging so nahtlos und fließend ineinander über, daß es sich nur um ein organisches Etwas handeln konnte.

Chiamh hatte die Magusch und ihre Begleiter in einer Zimmerflucht auf der Rückseite der Festung untergebracht, in einem quadratischen Türmchen, das sich über den Hauptteil des Gebäudes erhob und bis zu den Felsen reichte, die sich dahinter auftürmten. Der wuchtige kleine Turm hatte zwei Stockwerke, die jeweils aus einer ganzen Anzahl kleiner, miteinander verbundener Zimmer bestanden. Das obere Stockwerk erreichte man durch eine Wendeltreppe, die unten mit einer schweren Tür versperrt werden konnte und so unerwünschte Besucher abhielt. Die Räume waren eng, aber gemütlich und leichter zu heizen als die riesigen, von Echos erfüllten Hallen im Hauptteil des Gebäudes, und jeder fühlte sich sicherer, wenn er mit den anderen zusammenblieb. Selbst Parric hatte sich – sehr zum offensichtlichen Ärger der Xandim-Älteren – geweigert, die offiziellen Quartiere des Rudelfürsten zu beziehen. Auch er hatte es vorgezogen, mit seinen Freunden zusammenzusein.

Aurian und Anvar teilten sich zwei Kammern im oberen Stockwerk mit Shia, Khanu und den Wölfen; Bohan und Yazour bewohnten angrenzende Zimmer, und Chiamh schlief in einem Nebenzimmer dahinter. Schiannath und Iscalda, die sich nach ihrer Verbannung ihrer Stellung unter den Xandim immer noch ein wenig unsicher waren, hatten es ebenfalls vorgezogen, bei den Magusch zu bleiben Sie teilten sich das untere Stockwerk mit Parric und Sangra. Nach Elewins Tod hatte Yazour beschlossen, nach unten zu ziehen, um bei Schiannath und Iscalda zu sein, mit denen er sich schnell angefreundet hatte. Das erleichterte die Situation in dem überfüllten oberen Stock ein wenig, denn die großen Katzen nahmen erstaunlich viel Platz ein, und die Wölfe zogen es vor, ein kleines Gebiet für sich allein zu haben, fern von allzu großer menschlicher Störung. Sie hatten sich eine Höhle unter dem Tisch geschaffen und ein Loch in die Strohmatten gescharrt, um sich ein Bett zu schaffen, das Aurian schließlich mit den Überresten ihres zerfetzten, fadenscheinigen alten Umhangs ausgestattet hatte.

Chiamh, der auch an die Bedürfnisse des nichtmenschlichen Teils ihrer Gesellschaft dachte, hatte dieses Quartier mit großer Sorgfalt ausgewählt. Die Kluft zwischen dem Fenster von Bohans Zimmer und den Felsen maß kaum mehr als zwei Spannen, und er hatte eine grobe, aber funktionstüchtige Brücke konstruiert, über die Shia und die Wölfe Zugang zu einer Reihe von schmalen Felsvorsprüngen fanden, von denen aus sie mühelos auf den Windschleierberg gelangten; dort konnten sie nach Herzenslust jagen oder einfach auch nur umherziehen, ohne zwischen den vielen Xandim, die sowohl in als auch vor der Festung hausten, Spießruten laufen zu müssen.

Obwohl sich Aurian und Anvar noch nicht lange in diesem Quartier aufgehalten hatten, war der kleine Raum in diesem entlegenen Winkel der Festung doch bereits angefüllt mit Zeichen ihrer Gegenwart. Gestützt auf Parrics Autorität als Rudelfürst, stellten sie eine neue Ausrüstung für ihre Rückreise nach Norden zusammen. Auf dem Bett und auf den Bänken stapelten sich Kleider, zu denen auch Hosen und Röcke aus weichem Leder zählten, Hemden aus Leinen und Wolle, Stiefel aus kräftigem, aber geschmeidigem Fell und lange, dicke Mäntel aus gesponnener Wolle, die in den verschiedenen Grün- und Goldtönen des Graslands gefärbt waren, dazu Umhänge aus einer dünnen, öligen Haut, die in den Satteltaschen nur wenig Platz einnahmen, ihnen aber bei Regen gute Dienste leisten würden.

In Aurians Augen sah der Raum warm und heimelig aus. Ein rußverschmierter Kupfertopf voller Wasser dampfte über der lodernden Flamme in einem großen Kamin leise vor sich hin. Auf dem Tisch häuften sich Teller und Tassen aus Horn oder Knochen, daneben standen ein Krug mit Wasser, eine Karaffe Bier und eine Flasche Milch. Auch kleine Lederbeutel voller trockener Beeren, Blüten und Blätter, mit denen man verschiedene Tees zubereiten konnte, waren dort zu finden, sowie Notvorräte an Brot, Käse und Früchten, denn von ihrem Quartier aus war es ein weiter Weg zu den Speisekammern und Vorratsräumen der Festung.

Der Stab der Erde und die Harfe der Winde lehnten hinter dem Bett der Magusch in einer Ecke an der Wand, sicher geschützt vor neugierigen Händen und unachtsamen Füßen. Ihr vereintes Leuchten – eine changierende Mischung aus Grün und schimmerndem Silber – wetteiferte mit dem wärmeren, safranfarbenen Glühen von Lampen und Feuer und wirkte wie ein durch zahllose Blätter gefiltertes Sonnenlicht auf die Gesichter derer, die sich in dem Raum aufhielten.

Aurian, die mit Wolf auf dem Schoß neben Anvar auf dem Bett saß, lauschte mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen Basileus’ Schilderung der Geschichte der Moldan. Shia und Khanu waren noch nicht wieder von ihrem Besuch bei Hreeza auf dem Stahlklaueberg zurückgekehrt, und Bohan lag im Nebenzimmer und schlief. Parric und Sangra, denen es nicht möglich war, an dem unheimlichen, in Gedanken stattfindenden Gespräch zwischen den Magusch, dem Moldan und dem Windauge teilzunehmen, waren losgezogen, um auf das Gedenken Elewins zu trinken. Chiamh, der Basileus’ Geschichte schon einmal gehört hatte, achtete kaum auf die Worte des Elementarwesens. Statt dessen beobachtete er mit entzückter Faszination das Spiel, das die Magusch miteinander spielten, während sie dem Moldan lauschten.

Das Spiel gestaltete sich folgendermaßen: Aurian hob den Arm, um über der Innenfläche ihrer Hand einen kleinen grünen Feuerball aufblühen zu lassen – wie eine sich entfaltende Knospe. Diesen warf sie dann mit einer schnellen, ruckartigen Geste hoch in die Luft. Dem Diktat ihres Willens folgend, kreiste und wirbelte der Ball anschließend zwischen Wandbehängen, Fackelhaltern und Möbeln hindurch. Anvar folgte Aurians Flammengebilde mit einer eigenen durchscheinenden Kugel aus blauem Feuer und versuchte, Aurians Ball zu fangen, der wieselflink durch die Kammer schoß; die Schwierigkeit lag in diesem Falle natürlich in der Tatsache, daß die beiden Magusch außerdem noch den Worten des Moldans lauschten. Aurian benutzte dieses Spiel, um ihrem Seelengefährten Gelegenheit zu geben, seine Fähigkeiten im Bereich der Feuermagie zu verbessern, die noch nie seine starke Seite gewesen war und darüber hinaus eine Form der Macht, bei der ihm die Harfe der Winde, deren Element die Luft war, nicht helfen konnte. Anvars Feuerbälle zeigten eine unübersehbare Tendenz, launisch und ziellos durchs Zimmer zu huschen, wobei sie eine Spur kobaltblauer Funken hinter sich her zogen. Chiamh, der die ungelenken Versuche Anvars kritisch beäugte, fand, daß dem Magusch ein wenig Übung wirklich nicht schaden konnte.

Während der Moldan mit seiner Erzählung weiter fortschritt, vergaßen die beiden jedoch nach und nach ihr Spiel und überließen es ihren vernachlässigten Feuerbällen, sich wie ein Glühwürmchenschwarm unter der gerippten steinernen Decke zu versammeln. Es gab keinen Zweifel daran, daß Basileus sowohl Aurian als auch Anvar in den Bann seiner Geschichte gezogen hatte, und Chiamh bewunderte die Klugheit und das Talent des Erdelementarwesens, dem es gelang, vor allem Aurian davon abzuhalten, einige überaus unangenehme Fragen zu stellen.

Aurian hatte jedoch eine ganze Menge Fragen, die sie Basileus gern gestellt hätte. Obwohl sie sich immer noch darüber ärgerte, daß der Moldan sich weigerte, ihr den Inhalt seines privaten Gesprächs mit Chiamh zu verraten, vertraute sie doch dem Windauge und schenkte nun nach und nach auch Basileus ihr Vertrauen. Außerdem war sie durchaus in der Lage, unverrückbare Sturheit zu erkennen, wenn sie ihr begegnete: Wie Anvar ihr hinterhältig ins Gedächtnis gerufen hatte, war Halsstarrigkeit auch ein Teil ihres eigenen Charakters. Obwohl der Moldan ihr versichert hatte, daß das, was er mit Chiamh besprochen hatte, lediglich die Xandim anging und nichts mit ihr zu tun habe, lag es doch in der Natur der Magusch, neugierig zu sein und sich einmischen zu wollen. Dieselbe Neugier hatte sie jedoch dazu verleitet, die Angelegenheit für den Augenblick ruhen zu lassen (die Chancen, Chiamh die gewünschte Information zu entlocken, standen ohnehin besser), um sich statt dessen der unglaublichen Erfahrung hingeben zu können, mit einem Wesen zu sprechen, das so alt war wie die Berge selbst.

»Und du sagst, dieser verrückte Moldan sei in den Tunneln unter der Akademie gefangen?« fragte sie Basileus erschrocken.

»So ist es – und so war es schon seit vielen, vielen langen Jahrhunderten. Und wenn Ghabal schon zuvor wahnsinnig gewesen ist, wage ich kaum, mir vorzustellen, in welchem Zustand sein Geist sich jetzt befinden muß.«

Anvar, der das Glück gehabt hatte, eine Auseinandersetzung mit einem dieser machtvollen Erdelementarwesen zu überleben und der außerdem Hunderte von Stunden mit Finbarr in eben jenen Tunneln zugebracht hatte, war nicht weniger entsetzt. »Bei den Göttern, ich hoffe nur, daß Miathan ihn da unten nicht findet.« Er erschauderte. »Eine solche Entdeckung würde möglicherweise unsere Probleme mit dem Erzmagusch lösen, uns aber in Nexis vor größere Schwierigkeiten stellen, als wir sie je zuvor gehabt haben – das heißt, falls es dann überhaupt noch eine Stadt gibt, in die wir heimkehren können.« Mit einem Frösteln überlegte er, ob Basileus wohl von seinem, Anvars, Kampf mit der Moldan des Aerillia-Gipfels wußte – und wenn nicht, wie er reagieren würde, wenn er es herausfände.

»Fordere keine Schwierigkeiten heraus, wenn du’s vermeiden kannst«, warnte Aurian ihn, wobei sie sich nicht auf die Worte bezog, die er laut ausgesprochen hatte, sondern auf den kleinen, furchtsamen Gedanken, den sie von ihrem Seelengefährten empfangen hatte. Bevor Anvar jedoch etwas erwidern konnte, war Aurian sicher, eine andere Gedankenstimme gehört zu haben – einen dünnen, schwachen Ruf, der von sehr weit weg zu kommen schien.

»Hat das noch jemand gehört?« fragte die Magusch scharf.

»Was gehört?« Anvar schien verwirrt zu sein.

»Ich hätte schwören können, daß ich ganz schwach irgendwo in meinen Gedanken eine fremde Stimme meinen Namen habe rufen hören.«

»Ich habe nichts gehört«, sagte der Moldan.

»Ich auch nicht.« Chiamh schüttelte den Kopf.

»Dann habe ich es mir wohl eingebildet.« Aurian rieb sich die Augen. »Vielleicht wird es Zeit, daß wir alle etwas Schlaf bekommen. Wir haben morgen wieder einen schwierigen Tag vor u … Da ist es wieder!«

Während sie den anderen bedeutete, zu schweigen, schloß sie die Augen und bemühte sich mit jeder Faser ihres Wesens, das schwache Wispern eines Gedanken aufzufangen: den leisen, aus weiter Ferne kommenden Ruf ihres Namens. Einen Augenblick war nichts zu hören. Hatte sie sich das nun eingebildet oder nicht? Aber nein! Plötzlich war es wieder da: »Herrin … Lady Aurian? O bitte, sei da. Bitte antworte mir – bitte.«

»Da ist jemand – und dieser Jemand ruft um Hilfe«, erklärte Aurian ihren Kameraden. »Der Ruf ist sehr schwach, aber wenn ich meine Kraft mit Hilfe des Stabes auflade, kann ich den Rufer wahrscheinlich erreichen.« Hastig beugte die Magusch sich vor und angelte nach dem Artefakt.

»Sei vorsichtig«, warnte Anvar sie. »Was ist, wenn es Eliseth ist? Sie könnte vielleicht wieder versuchen, dir eine Falle zu stellen, so wie seinerzeit in der Wüste.«

Aurian runzelte die Stirn. Nur ungern erinnerte sie sich daran, daß die Wettermagusch sie beinahe verleitet hätte, sich selbst und Anvar zu töten. »Ich hoffe fast, daß es Eliseth ist«, erwiderte sie grimmig. »Jetzt, da ich meine Kräfte wiederhabe, wird sie feststellen, daß sich die Dinge seit dem letzten Mal ganz gehörig gewandelt haben.«

Als die Magusch ihre Finger um den Stab schloß, spürte sie, wie seine Macht geschmolzenem Feuer gleich durch ihre Adern schoß. Ihre eigene Magie flammte mit jäher Wildheit auf, gestärkt durch die Kraft des Artefakts. »Anvar, Chiamh«, sagte sie schnell, »haltet den Stab fest, damit ihr eure Gedanken mit den meinen verbinden könnt. Was es auch sei, ich möchte, daß ihr es ebenfalls hört.« Als sie spürte, daß die Gedanken ihrer Freunde mit ihren eigenen verbunden waren, schloß sie die Augen und konzentrierte sich mit aller Macht auf das schwache, ferne Gedankenflüstern.

Nachdem Aurian ihr Bewußtsein jenem leisen Ruf entgegengestreckt hatte, schien die Gedankenstimme auf sie zuzuspringen, als sei der Rufer bisher in einem Zimmer eingesperrt gewesen, dessen Tür sich plötzlich geöffnet hatte. Die Stimme, die nach ihr gerufen hatte, war nun verzweifelt und den Tränen nahe.

»Hier bin ich!« durchbrach Aurian das verängstigte Flehen. »Wer bist du?«

»Lady Aurian? Bist du das wirklich? Oh, den Göttern sei Dank! Ich habe nicht geglaubt, daß ich dich jemals finden würde. Herrin – ich bin es, Zanna. Vannors Tochter …«

»Was? Wie, in aller Welt, hast du es geschafft, mich auf diese Weise zu erreichen?«

»Durch einen Kristall, Herrin. Einen von denen, die du in der Akademie benutzt hast, um die Diener herbeizurufen. Ich habe mich als Dienerin ausgegeben und bin hierhergekommen, um die Magusch auszuspionieren, aber jetzt, da der Erzmagusch meinen Vater gefangen hat …«

Mit wachsendem Entsetzen lauschte Aurian Zannas Geschichte. Wie lange war es her, überlegte sie voller Schuldbewußtsein, daß sie zum letzten Mal auch nur einen einzigen Gedanken an Vannor verschwendet hatte? Sie hatte den Kaufmann immer gern gehabt, und sich vorzustellen, daß er sich hilflos und gequält in den grausamen Händen von Miathan und Eliseth befand, ließ ihr das Blut in den Adern erstarren. Und was Zanna betraf … Die Magusch war zutiefst überrascht von dem Mut und der Kühnheit des jungen Mädchens – und entsetzt, daß sie selbst Vannors Tochter mit ihrem Verhalten ein Beispiel gegeben hatte. Meine Güte, dachte die Magusch, sie ist doch kaum mehr als Kind – und mußte schleunigst ihre Meinung ändern, als Zanna ihr erzählte, wie Janok zu Tode gekommen war.

»Aber nun könnte jederzeit jemand bemerken, daß er verschwunden ist«, endete Zanna, »und ich muß meinen Vater heute nacht von hier fortschaffen – danach haben wir keine Chance mehr. Aber wie kann ich ihn aus dem Maguschturm herausbringen, und selbst wenn ich das schaffe, was machen wir dann? Vater hat mir erzählt, daß es unter der Bibliothek einen Weg durch die Tunnel gibt, aber die Tür zu den Archiven ist immer verschlossen, und ich kann nicht hinein …«

»Doch, das kannst du«, erwiderte Aurian schnell. »Und ich erkläre dir jetzt, wie du es anstellen mußt. Aber nimm den Kristall mit für den Fall, daß du noch einmal mit mir sprechen mußt – und außerdem«, fügte sie lächelnd hinzu, »möchte ich wissen, wie die Sache ausgeht. Jetzt hör mir genau zu, Zanna. Du mußt folgendes tun …«

Nachdem sie dem Mädchen ihre Anweisungen gegeben hatte, blieb Aurian nichts anderes übrig, als sich mit einigem Unbehagen von Zanna zu verabschieden. Sie hatte versucht, tröstend und ermutigend zu klingen, aber in ihrem Herzen wußte sie, daß es noch eine ganze Menge gab, was bei Vannors Flucht schiefgehen konnte.

»Versuch, dir nicht allzu große Sorgen zu machen«, meinte Anvar. »Du hast alles getan, was du tun konntest, und Zanna mangelt es weder an gesundem Menschenverstand noch an Mut. Stell dir nur vor, ein junges Mädchen wie sie, und sie hat Janok getötet!« In seinen Augen blitzte wilde Freude auf, und Aurian erinnerte sich daran, wie sehr er unter dem brutalen Küchenmeister zu leiden gehabt hatte – und wie eben jenes Martyrium dazu geführt hatte, daß sie ihn schließlich kennenlernte.

Bevor sie jedoch Zeit für eine Antwort fand, brachte ein gewaltiges gedankliches Brüllen, das laut genug war, um ihr fast das Gehirn aus dem Schädel zu blasen, alle anderen Überlegungen mit Macht zum Schweigen.

»Aurian – schnell! Deine schwachsinnigen Pferdeleute schießen auf uns!« Die Stimme, die durch die Gedanken der Magusch hallte, gehörte Shia.

»Hölle und Pest über sie!« Fast noch bevor ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, hatte Aurian Wolf seinen Pflegeeltern übergeben und war aus dem Zimmer gestürzt, Anvar nur um den Bruchteil einer Sekunde hinter sich. Chiamh stolperte, so schnell er konnte, hinter den beiden her – aber er hatte mehr Verstand, als ihnen nachzurufen, daß sie auf ihn warten sollten. Statt dessen hämmerte er auf die Türen von Parrics Kammer, um den Rudelfürsten vor den bevorstehenden Schwierigkeiten zu warnen. Parric und Sangra, die glücklicherweise noch nicht völlig betrunken waren, kamen sofort heraus, gefolgt von einer zerzausten Iscalda, die sich ihre verschlafenen Augen rieb. Schiannath und Yazour jedoch waren nirgendwo zu finden.

Die Magusch waren kaum am Fuß der Treppe angelangt, als sie von einer dringenden Warnung des Moldans aufgehalten wurden: »Zaubererseid auf der Hut. Die Xandim haben gegen euch und den Rudelfürsten die Waffen ergriffen. Sie sind schon bis zu den äußeren Türen vorgedrungen und rücken gerade in diesem Augenblick auf euch zu.«

Anvar murmelte einen zornigen Fluch. Dann, wie auf ein unsichtbares Signal hin, stürzten die beiden Magusch gleichzeitig die Treppe hinauf und verriegelten die Tür hinter sich. Aurian hatte jetzt auch wieder Kontakt mit Shia: Die Katzen, die sich auf ihre Nachtsicht verlassen konnten, hatten es bisher geschafft, den Pfeilen auszuweichen und sich auf den Berg zu flüchten. Anscheinend versuchten die Bogenschützen der Xandim gerade, genug Mut zusammenzuraffen, um die Verfolgung aufzunehmen – ein törichtes Unterfangen schon bei Tageslicht, bei Dunkelheit jedoch reiner Wahnsinn. Aurian berichtete Shia mit knappen Worten, was sich innerhalb der Festung ereignet hatte, und warnte ihre Freundin, nur ja nicht zurückzukehren. »Wenn sie euch weiter auf den Fersen bleiben, lauft zu Chiamhs Tal – sobald ihr an den hohen stehenden Steinen vorbei seid, werden sie es nicht wagen, euch weiter zu verfolgen.«

»Nur, wenn uns keine andere Wahl bleibt«, beharrte Shia. »Ich möchte wenigstens so weit in eurer Nähe bleiben, daß ich euch, wenn nötig, helfen kann.«

Auf dem ersten Treppenabsatz trafen sie auf Chiamh und die anderen. »Schiannath und Yazour sind irgendwo in der Festung«, erklärte das Windauge den beiden Magusch mit grimmigem Gesichtsausdruck. »Wir müssen sie finden und warnen, wenn es nicht schon zu spät ist.«

»Das ist es nicht«, sagte der Moldan zu jenen, die ihn hören konnten. »Sie sind über einen Seitengang zu den Lagerräumen gegangen. Bisher hat man sie noch nicht entdeckt.«

Als Chiamh die Nachricht weitergab, drängte sich Iscalda zwischen den anderen hindurch. »Ich werde gehen. Schiannath ist mein Bruder.«

»Warte.« Anvar legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie aufzuhalten. »Ich gehe. Basileus kann mich zu ihnen führen.« Als er sah, daß Aurian den Mund öffnete, um sich ebenfalls für diese Aufgabe anzubieten, zögerte er nicht lange, ihr zuvorzukommen. »Nein, meine Liebste. Ich bin ganz offensichtlich der Richtige für diese Unternehmung – du hast dich noch immer nicht ganz von deiner Verwundung und dem Kampf auf Stahlklaue erholt. Ich bin viel schneller, wenn ich allein gehe.«

Aurian sah ihn finster an. »Verwünscht!« murmelte sie. »Ich hasse es, wenn du recht hast. Also gut. Aber paß auf dich auf – und komm schnell zurück.« Sie begleitete ihn bis zum Fuß der Treppe und preßte ihn fest an sich, bevor sie ihn endlich gehen ließ. Anvar hörte das Krachen des Riegels, der hinter ihm wieder vorgeschoben wurde, und erschauerte. Plötzlich fühlte er sich sehr unsicher – und furchtbar allein. »Du und deine blöden Heldentaten«, murmelte er bei sich. Dann wandte er sich nach links und lief flugs den Korridor hinunter. Je eher er wieder hinter der zweifelhaften Sicherheit dieser dicken Eichentür verschwinden konnte, um so besser würde er sich fühlen.


Schiannath hatte Yazour durch die Gewölbe unter den Lagerräumen geführt – vor allem durch den Teil der Keller, in dem die Xandim ihre Vorräte an Bier und Met aufbewahrten. Die eigentlichen Küchen in dem gewaltigen Bau waren eher primitiv, denn das Pferdevolk zog es vor, den größten Teil des Kochens – und übrigens auch des Essens – im Freien vorzunehmen, wobei aber von jeder einzelnen umherwandernden Schar erwartet wurde, daß sie einen Teil ihrer Beute in die Festung brachte, damit auch die Alten und Kranken, die dort lebten, zu essen hatten. Diese Bewohner, die für gewöhnlich nicht selbst auf die Jagd gehen konnten, machten das Essen dann haltbar, so daß sie für Notfälle wie Belagerungen oder Dürrezeiten gerüstet waren.

Die alten Leute waren auch die Bierbrauer des Stamms und tauschten die Ergebnisse ihrer Mühen gegen andere Dinge, die die Jäger und Handwerker besaßen. Ihre Vorräte an berauschenden Getränken waren zwar für gewöhnlich unbewacht, wurden aber nach einem fairen Tauschsystem verteilt, das die meisten Xandim von sich aus zu achten bereit waren. Trotzdem hatte Schiannath, nachdem er die ganze Nacht über mit Yazour Kriegergarn gesponnen hatte und ihnen das Bier ausgegangen war, keinen Augenblick gezögert, eine Expedition in diese Gewölbe zu unternehmen, um sich noch etwas zu trinken zu ›organisieren‹. Yazour wußte nicht, daß das genau die Art von schlechtem Benehmen war, die seinen Freund schon früher mit den Älteren und dem Rudelfürsten in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Trotz der vollmundigen Versicherungen des jungen Xandims, daß sie nichts zu befürchten hätten, beschlich Yazour ein Gefühl des Unbehagens, während er sich durch die große Falltür in den hinteren Teil des Lagerraums geleiten ließ, von dem aus man über eine steinerne Treppe hinunter in die Kellergewölbe gelangte. Zuerst hatte er einfach angenommen, das bereits getrunkene Bier habe seine Phantasie über Gebühr entflammt. Es war sehr kalt hier unten, und die Luft fühlte sich trocken, tot und drückend an. Während sie durch den niedrigen, überwölbten Gang wanderten, hallte das verstohlene Echo ihrer Schritte von den abgerundeten Wänden schaurig wider, bis sie schließlich von einem Geräusch umgeben waren, das wie das Schlagen Hunderter kleiner Flügel klang. Die bernsteinfarbene Flamme der Fackel flackerte in Schiannaths erhobenen Händen und ließ die Schatten der Männer an den Wänden auf und nieder hüpfen, als hätten sie ein eigenes Leben. Yazour fühlte sich auf höchst unangenehme Weise an Aurians grauenerregende Geschichte von den Todesgeistern erinnert.

Mit jedem Schritt, den er tat, wuchs das Gefühl des Unbehagens in dem jungen Hauptmann. Zuerst schob er das lediglich auf die Tatsache, daß er in einem unterirdischen Gang eingeschlossen war und beständig an die gewaltige Steinmasse über seinem Kopf denken mußte. Aber als er und sein Kamerad den Ort erreichten, an dem sich die Gewölbe öffneten und einem Labyrinth miteinander verbundener Keller Platz machten, witterten seine Kriegersinne eine unsichtbare Gefahr. Irgend jemand – oder irgend etwas, dachte er unbehaglich, konnte sich in diesem Labyrinth von winzigen Räumen verstecken und sich, ohne selbst gesehen zu werden, jederzeit an sein Opfer heranschleichen.

»Zuerst kommen die eßbaren Sachen.« Schiannaths Flüstern ließ Yazour zusammenfahren wie ein erschrockenes Kaninchen. »Das Bier wird weiter hinten aufbewahrt«, fuhr der Xandim fort, ohne zu ahnen, welche Wirkung seine Worte auf die angespannten Nerven seines Freundes hatten. »Sie hoffen, daß wir Außenseiter uns verirren, bevor wir die Vorräte finden«, meinte er kichernd.

Während sie weiter durch die spinnwebigen, höhlenartigen Räume liefen, in denen sich wahllos Fässer, Kisten und Säcke stapelten, verhöhnte sich Yazour innerlich. Was für eine alte Memme er doch war! Sieh dir nur Schiannath an, dachte er bei sich. Er hat keine Angst vor der Dunkelheit! Aber wenn er gehofft hatte, auf diese Weise neuen Mut fassen zu können, mußte er feststellen, daß dieser Versuch ein absoluter Fehlschlag war. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte das unangenehme Kribbeln zwischen seinen Schulterblättern nicht abschütteln, dieses Gefühl, das ihm sagte, daß er das Ziel unsichtbarer Augen war. Aber nachdem er seinem Freund schon so weit gefolgt war, konnte er jetzt unmöglich den Rückzug antreten, ohne als feiger Dummkopf dazustehen – und er würde lieber sterben, als vor Schiannath das Gesicht zu verlieren oder – was noch schlimmer gewesen wäre – vor Schiannaths Schwester, falls sie später von diesem Abenteuer erfahren sollte. Je früher sie das verflixte Bier fanden, um so schneller würden sie wieder hier herauskommen – also biß Yazour die Zähne zusammen, lockerte sein Schwert in der Scheide und ging weiter hinter dem Xandim her.

Da plötzlich fauchte aus dem Nichts ein Windstoß, und die Fackel erlosch. Tiefe Dunkelheit senkte sich über sie herab, eine Dunkelheit, die so undurchdringlich war, daß es den Anschein hatte, als hätte irgendein Gott einen Samtumhang über die Welt gebreitet.

»Verfluchter Mist!« schimpfte Schiannath, dessen Worte das entsetzte Aufkeuchen seines Begleiters übertönten. Yazour, der versuchte, seine Panik niederzukämpfen, konnte den Xandim leise vor sich hin fluchen hören, während dieser nach Feuerstein und Zündhölzern suchte – und dann ein leises, metallisches Klirren, als eines der beiden Dinge zu Boden fiel.

»Du unbeholfener Narr«, zischte Yazour, während er mit zitternden Händen sein eigenes Gewand nach Zündmaterial durchsuchte. Im Namen des Schnitters, wo hatte er nur diesen verfluchten Feuerstein hingesteckt? Er konnte die Dunkelheit kaum ertragen – und ohne eine Lichtquelle hatten sie kaum eine Chance, jemals wieder aus den Kellern herauszufinden.

Schiannaths Gedanken hatten sich, so schien es, in ähnlichen Bahnen bewegt. »Nun, zumindest werden wir hier unten nicht verhungern«, murmelte er.

Der grimmige Humor seines Freundes trug einiges dazu bei, daß auch Yazour wieder Mut faßte. »Wenn wir bloß das verflixte Bier fänden, dann wäre es mir ganz egal, wie lange wir hier unten bleiben müßten. Und das wäre auch gut so«, fügte er ein wenig bissig hinzu, »denn der Idiot, der dich eben einen Narren genannt hat, scheint seine Ausrüstung zum Feuermachen in seinem anderen Gewand vergessen zu haben.«

Schiannath brach in lautes Gelächter aus. Yazour spürte, wie eine Hand in der Dunkelheit über seinen Ärmel strich, und dann legten sich die starken, warmen Finger seines Freundes fest um die seinen.

»Ich will nicht, daß wir uns verlieren«, sagte der Xandim leise. »So – ich gehe jetzt so lange nach links, bis wir eine Wand finden, an der wir uns orientieren können …« Dicht an die Wand gedrückt, begannen sie das hoffnungslose Unterfangen, sich ihren Weg zurück durch die Keller zu suchen.

Es war schwer, sich in der Dunkelheit ein gewisses Maß an Zeitgefühl zu bewahren. Yazour hatte den Eindruck, daß sie sich schon seit Stunden blind durch irgendwelche Gänge tasteten, obwohl sein Mangel an Hunger und Durst und seine immer noch vorhandenen Kraftreserven ihm sagten, daß dies nicht möglich sein konnte. Dennoch hätte er, als sie das erste schwache und weit entfernte Flackern von Fackellicht in den Tiefen der Gewölbe vor sich sahen, auf die Knie fallen und vor Dankbarkeit weinen können. Ein heiserer Freudenschrei von Schiannath sagte ihm, daß der Xandim das Licht ebenfalls gesehen hatte. Während sie einander noch immer bei den Händen hielten, um sich nicht zu verlieren, stürzten sie nach vorn, wobei sie lauthals schrien, um Aufmerksamkeit zu erregen. Erst als sie Hals über Kopf in einen Ring funkelnden Stahls stolperten, wurde Yazour und Schiannath klar, daß sie genau die falsche Art von Aufmerksamkeit erregt hatten.


Mit Hilfe von Basileus fand Anvar seinen Weg durch das Gewirr fackelbeleuchteter Korridore, die sich wie Arterien durch das Herz der Festung verzweigten. Je weiter er ging, um so schmaler, staubiger und düsterer wurden die Gänge, bis er schließlich seine Nachtsichtigkeit benutzen mußte und gezwungen war, seinen Schritt auf dem abgetretenen, rissigen Steinboden zu verlangsamen. So, wie Basileus einst Chiamh durch seine Belüftungskanäle geführt hatte, sandte er nun ein Fünkchen leuchtenden Nebels vor Anvar her, das ihm bei jeder Wegkreuzung die Richtung wies; aber Anvar ertappte sich dennoch dabei, wie er undankbar darüber nachgrübelte, daß das Erdwesen seine Eingeweide durchaus etwas weniger kompliziert hätte gestalten können. Anvars eigene Eingeweide waren jedenfalls vor Anspannung wie verknotet, während er immer weiter lief. Obwohl Basileus ihm versprochen hatte, ihn zu warnen, falls irgendwelche bewaffneten Feinde in seine Nähe kommen sollten, erwartete er an jeder Biegung, in Schwierigkeiten zu geraten. Nach einer Zeit, die eine ganze Ewigkeit für sich in Anspruch genommen zu haben schien, war er noch immer an keiner einzigen Stelle vorbeigekommen, die er wiedererkannt hätte. »Bist du sicher, daß dies der richtige Weg ist?« fragte er Basileus.

»Ich führe dich durch die alten Seitengänge«, erwiderte der Moldan gereizt, »es sei denn, du würdest einen schnelleren Weg vorziehen – einen, auf dem es von Xandim-Kriegern nur so wimmelt.«

»In diesem Falle bin ich mit dem Weg, den du gewählt hast, durchaus einverstanden – solange ich rechtzeitig ans Ziel gelange.«

»Wir kommen zu spät, um zu verhindern, daß deine Kameraden in Gefangenschaft geraten, aber bisher sind sie unverletzt. Man ist ihnen in die Kellergewölbe gefolgt und hat ihnen dort aufgelauert, denn ich hatte keine Möglichkeit, sie zu warnen. Ich habe versucht, sie zu verstecken, indem ich ihnen ihre Fackel ausgeblasen habe, aber leider muß ich sagen, daß das nur dazu geführt hat, daß sie ihren Feinden direkt in die Arme gelaufen sind. Sie hofften, auf diese Weise gerettet zu werden.« Der Moldan seufzte. »Es war mein Fehler«, gestand er. »Das Verhalten der Sterblichen ist mir immer noch so fremd – obwohl ich glaube, daß meine Einmischung letzten Endes kaum einen Unterschied gemacht hat. Yazour und Schiannath werden jetzt in den Lagerräumen bewacht, bis es den Xandim gelungen ist, auch den Rest von euch zu fangen.«

»Was? Warum, zum Teufel, hast du mich nicht davor gewarnt, daß man sie gefangengenommen hat?« protestierte Anvar empört.

»Ich warne dich jetzt.« Basileus klang völlig ungerührt. »Dich früher in Sorge zu versetzen, hätte keinen Sinn gehabt. So, Zauberer – nun bleib stehen und paß gut auf. Die nächsten zwei Biegungen werden uns in die Lagerräume bringen. Du mußt auf einen Kampf vorbereitet sein.«


Im Treppenhaus des Türmchens waren Aurian und ihre Kameraden vollauf damit beschäftigt, sich ebenfalls zum Kampf vorzubereiten. Die Magusch und Parric bewachten die Tür und lauschten mit wachsendem Unwillen dem immer lauter werdenden Getöse feindlicher Stimmen auf der anderen Seite. Man hatte sie auch schon zur Kapitulation aufgefordert, ein Ansinnen, das sie rundweg ablehnten. Sangra und Iscalda warteten mit gezückten Schwertern weiter oben auf der Treppe, während Bohan im Zimmer der beiden Magusch blieb, um Wolf zu beschützen. Das Windauge saß, wie eine Stoffpuppe in sich zusammengesunken, auf der untersten Treppenstufe, während sein Geist seinen Körper verlassen hatte, um auf einem winzigen Fetzen Zugluft zu reiten, der durch die Ritzen der Eichentür hereinwehte; auf diese Weise war es ihm möglich, den Feind auf der anderen Seite zu beobachten.

»Sie sind mit Schwertern, Bögen und Äxten bewaffnet.« Chiamhs Stimme hallte hohl in Aurians Kopf wider. »Außerdem haben sie Fackeln bei sich. Wir können sie nicht lange genug aufhalten – vor allem, wenn sie Feuer einsetzen. Wir müssen zur Flucht bereit sein.«

Aurian biß sich auf die Lippen. »Verdammt, Chiamh, ich werde nirgendwohin fliehen. Nicht ohne Anvar.« Sie spürte, wie sich der Kavalleriehauptmann neben ihr versteifte, und bevor er auch nur die Chance hatte, den Mund zu öffnen, fauchte sie: »Was es auch sei, Parric, ich will es nicht hören.«

Chiamhs Augen öffneten sich weit, als er schließlich wieder in seinen Körper zurückkehrte. »Ich will nicht vorschlagen, daß wir Anvar im Stich lassen. Dennoch müssen wir uns bereitmachen«, sagte er entschlossen. »Der einzig mögliche Fluchtweg, auf dem wir dieser Falle entkommen können, ist der Weg, den die Tiere nehmen – über die Planke und hinauf auf …«

Aurians Blut wurde plötzlich kalt bei dem Gedanken an diese zerbrechliche, notdürftige Brücke und an die schmalen Felsvorsprünge und die halb zerfallenen Ziegenpfade, die sich dahinter verbargen. Ihre Flüche übertönten Chiamhs nächsten Worte – und wurden ihrerseits von dem Krachen einer Axt übertönt, die sich tief in die Tür bohrte. Bevor irgend jemand Zeit fand zu reagieren, erbebten die Paneele schon unter dem nächsten schweren Schlag.

»Komm raus, du verräterisches Ungeheuer, bevor ich reinkomme, um dich und diese widerlichen, stinkenden Fremdländer, mit denen du dich angefreundet hast, eigenhändig zu holen.«

Ein drittes splitterndes Krachen hinterließ einen dünnen Riß in dem hölzernen Paneel.

In Chiamhs sanften braunen Augen funkelte heißer Zorn auf. »Galdrus! Das hätte ich mir denken können«, murmelte das Windauge. »Rauskommen, wahrhaftig! Na, das werden wir ja sehen.« In seine Augen trat ein silbernes Leuchten, während er die schwirrende Zugluft zu einem Trugbild formte und sich gleichzeitig mit aller Kraft bemühte, es auf der anderen Seite der Tür erscheinen zu lassen.

In der Zwischenzeit verfolgte die Magusch ihre eigenen Gedanken – und versuchte, die Wölfe im oberen Stockwerk zu erreichen. Schnell entwarf sie ein Bild von der Gefahr, in der sie sich befanden, gefolgt von einer Reihe geistiger Bilder, welche die beiden Tiere zeigten, wie sie Wolf packten und ihn über die Brücke trugen, von dort die Felsen hinauf und über das Plateau zu den Katzen in den sicheren Schutz von Chiamhs Tal. Solange es ihnen nur möglich war, Bohan auszuweichen, würden sie keine Probleme haben. Aurian wußte, daß der Eunuch, der immer eifersüchtig mit ihnen um die Fürsorge für ihren Sohn stritt, den Wölfen folgen und sich auf diese Weise in Sicherheit bringen würde; obwohl er (wie sie zu allen Göttern betete) wahrscheinlich nicht schnell genug sein würde, um die beiden Tiere zu fangen.

Dann nahm sie kurz Kontakt zu Shia auf, die – wie Aurian vermutet hatte – immer noch mit Khanu oben auf dem Felsweg kauerte.

»Bist du wahnsinnig?« murmelte die große Katze, als die Magusch ihre Pläne erläuterte. »Ach, egal – ich komme runter, um ihnen zu helfen, bevor dieser schwerfällige große Ochse noch abstürzt und versehentlich irgend jemandem den Kopf weghaut. Khanu wird den Klippenweg bewachen – obwohl deine hühnerherzigen Grasfresser bisher keine Anstalten gemacht haben, uns anzugreifen.«

Shia und der Eunuch waren immer schon durch ein ganz besonderes Band miteinander verbunden gewesen, und Aurian war erleichtert, daß die Katze bei der Hand sein würde, um ihm zu helfen. Nachdem sie für Wolf und Bohan getan hatte, was sie konnte, ging sie beherzt daran, Chiamh zu helfen, der eindeutig seine eigenen Schwierigkeiten hatte.


Bohan stand steif vor Anspannung an der Tür von Aurians und Anvars Zimmer und spitzte die Ohren, damit ihm auch nicht das leiseste Geräusch aus dem Treppenhaus entging und er endlich erfuhr, was sich dort unten ereignete. Das Schwert, das er mit einer seiner riesigen Hände umfaßt hielt, sah vor seinem gewaltigen Leib wie ein Spielzeug aus, während er die Wölfe bewachte, die ihrerseits Aurians Sohn beschützten.

Von ihrer Höhle unter dem Tisch beobachteten zwei Augenpaare, die im Widerschein des Feuers grün aufblitzten, als der Eunuch zu ihnen schaute. Das Weibchen war ein klein wenig hinter ihrem Gefährten in Deckung gegangen, um das Junge zu schützen, das ihrer Fürsorge anbefohlen war. Die Aufgabe hatte sich als schwieriger erwiesen, als sie erwartet hatten. In den vergangenen Tagen hatten sich Wolfs Augen vollends geöffnet, und er hatte sich zu einem kleinen grauen Bündel Neugier entwickelt, das auf stämmigen, unsicheren Beinen und mit dem ganzen unbezähmbaren Eifer, der allen neugeborenen Geschöpfen eigen ist, seine Umgebung erkundete. Und genau wie alle kleinen Geschöpfe, die von Geburt an verhätschelt und beschützt wurden, hatte auch er keine Ahnung von den Gefahren, die auf ihn lauerten. Er konnte die Gestalt und den Geruch seines vertrauten und geliebten Freundes Bohan erkennen, der direkt neben ihm stand, und er wollte spielen. Wieder und wieder versuchte er, seinen Beschützern zu entkommen und zu dem Eunuchen hinüberzugelangen, während das Wolfsweibchen ihn immer wieder mit einem sanften Pfotenhieb und einem leisen, aber warnenden Knurren aufhielt. Mittlerweile war das Junge so frustriert, daß es leise vor sich hin wimmerte.

Bohan versteifte sich, als er diesen leisen Laut hörte, der Wolfs Unbehagen verriet. Es war ihm von Anfang an verhaßt gewesen, seine Verantwortung für das Junge an die Wölfe abzutreten. Da ihm Aurians Maguschfähigkeit, mit den Wölfen zu reden, fehlte, sah er in ihnen nur wilde, gefährliche Tiere und vertraute ihnen nicht. Den Hauptwiderspruch in seinen Gedanken – daß nämlich Wolf selbst ebenfalls ein solches Tier war – übersah er geflissentlich. Das Junge war Aurians Sohn und verzaubert, und eines Tages würde er wieder menschliche Gestalt annehmen. Wenn Bohans geliebte Herrin das sagte, so genügte ihm das.

Wolf wimmerte abermals, und der Eunuch schnitt ein finsteres Gesicht. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Drang zu bezwingen, das Junge zu ergreifen und es sicher in seinen tiefen Rocktaschen zu verbergen, wie er es sooft getan hatte. Er bückte sich ein wenig, um unter den Tisch zu spähen, als der männliche Wolf ein warnendes Fauchen ausstieß, das Bohan vor Überraschung einen Schritt zurücktreten ließ. Für gewöhnlich schienen die Wölfe immer genau zu wissen, mit wem sie sich die Fürsorge für das Junge teilten, und behandelten Aurians Gefährten wie Mitglieder ihres Rudels.

Mit einem plötzlichen Aufblitzen knochenweißer Fangzähne stürzte sich der Wolf sich auf die Kehle des Eunuchen. Bohan, der ohnehin schon fast das Gleichgewicht verloren hatte, ließ sich zurückfallen, und sein Schwert wirbelte fruchtlos durch die leere Luft, während er zu Boden stürzte. In einem Augenblick blinden Entsetzens wartete er darauf, daß sich die mörderischen Zähne in sein Fleisch senkten – aber sein Angreifer war nicht mehr da. Das Wolfsweibchen sprang derweil, das Junge vorsichtig zwischen seine Kiefer geklemmt, auf das offene Fenster zu, während ihr Gefährte wie ein silberner Blitz hinter ihr her stob. Mit einem einzigen Satz hatten sie das Fenstersims erreicht und waren verschwunden.

In Bohans Gehirn gellte ein Schrei des Zorns und der Angst wider, den seine stumme Kehle nicht zu äußern vermochte. Aurian hatte ihm ihren Sohn anvertraut, und er hatte versagt. Ohne auch nur einen Augenblick lang über die Konsequenzen nachzudenken, rannte er zum Fenster und kletterte hinaus auf die unsichere schmale Brücke.


Ein Schweißtropfen glitzerte auf Chiamhs Stirn und spiegelte das unheimliche Silber seiner Augen wieder, während er mit aller Kraft versuchte, sein Phantasiegebilde auf der anderen Seite der Tür aufrechtzuerhalten. Den Dämon hatte er aufgegeben – diese Erscheinung war den Xandim mittlerweile zu vertraut – und statt dessen ein Bild von Shia entworfen, die fauchend vor der Tür stand, mit blitzenden Augen und zornig hin und her schlagendem Schwanz. Zuerst hatte er damit den feindseligen Pöbel vor der Tür übertölpeln können – noch durch die dicken Holzvertäfelungen waren ihre Angstschreie zu hören gewesen. Aber Chiamh konnte das Trugbild jetzt nicht mehr lange halten. Um die Illusion fortdauern zu lassen, mußte er seinen Geist in seinem Körper festhalten. Doch ohne sehen zu können, was sich auf der anderen Seite der Tür ereignete, wußte er nicht, wie genau das Bild war, das er entwarf. Außerdem war es ihm auf diese Weise nicht möglich, auf die Ereignisse zu reagieren. Es war ohnedies eine extrem schwierige Angelegenheit, vor allem, da ihm nur winzigste Fetzchen Zugluft zur Verfügung standen, aus denen er seine Phantasiegebilde weben konnte.

Nur allzu bald war der Schwindel durchschaut. Auf der anderen Seite der Tür erhob sich ein Gejohle höhnischer Schreie und wütender Flüche, und plötzlich war die Axt wieder da, um sich in das schwächer werdende Holz zu fressen. Chiamh stieß einen heftigen Fluch aus, den er von Parric gelernt hatte, wappnete sich und versuchte es noch einmal. Diesmal war das Phantasiegebilde Aurian selbst: Ihre grünen Augen blitzten, der Erdenstab in ihrer Hand stieß smaragdgrüne Feuersäulen aus. Wieder hörte das Windauge die gedämpften Laute zurückweichender Schritte – aber seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Fluchend sprang er einen Schritt zurück, während seine Illusion draußen zerfiel und weitere Axthiebe auf die Tür niederprasselten, die unter den wiederholten Angriffen zu bersten begann. Was jetzt?

Das Windauge spürte eine kühle Hand auf seinem Arm und sah sich plötzlich Auge in Auge mit Aurian. Ihre Anwesenheit überraschte ihn – er hatte sich so sehr konzentrieren müssen, daß er ganz vergessen hatte, das sie tatsächlich da war, und nicht nur ihr Trugbild.

»Hier – laß mich dir helfen.« Die Magusch hob die Hand, ihre Augen wurden schmal vor Anstrengung – und das Donnern der Axtschläge ließ nach. Auf der anderen Seite der Tür herrschte eine plötzliche, unheimliche Stille.

»Was hast du gemacht?« stieß Chiamh hervor.

»Ich habe deinen Möchtegern-Holzfäller aus der Zeit genommen.« In ihren Augen stand ein gefährliches Glitzern. »Das sollte sie eigentlich für eine Weile nachdenklich stimmen.« Chiamh ließ sich an der Wand herabsinken und begriff jetzt erst, wieviel Kraft seine Bemühungen ihn gekostet hatten. »Könntest du sie nicht alle aus der Zeit nehmen?« erkundigte er sich hoffnungsvoll. »Nur so lange, bis uns die Flucht gelungen ist?«

»Ich wünschte, ich könnte es.« Aurian schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann immer nur einen Zauber gleichzeitig bewerkstelligen, und das auch nur auf kurze Entfernung. Sobald ich ein paar von ihnen aus der Zeit genommen hätte, würde der Rest sich einfach aus meiner Reichweite entfernen und uns auflauern, wenn wir rauskommen. Wir brauchen Anvar, um mehr zu erreichen – mit der Harfe hätte er die Möglichkeit, eine Vielzahl unserer Feinde einfach erstarren zu lassen, so wie er es neulich nachts getan hat. Er hat die Harfe zwar dagelassen, aber sie ist auf ihn eingestellt, so wie der Stab auf mich eingestellt ist. Es gibt gewisse Regeln, die die Herrschaft über die Artefakte bestimmen. Ich kann die Harfe nicht allein benutzen, ohne sie vorher seiner Herrschaft zu entreißen, und das ist nicht nur an sich sehr gefährlich, sondern auch aus anderen Gründen das letzte, was wir uns wünschen könnten …«

Mittlerweile hatten ihre Belagerer neuen Mut gefaßt. Sowohl die Magusch als auch das Windauge sprangen erschrocken zurück und stolperten hastig die Treppe hinauf, als ein Pfeilhagel gegen die Tür donnerte. »Verdammt noch mal!« schrie Aurian, als sie das verräterische Knistern von Flammen hörte. Schon drang der Geruch von verbrennendem Holz zu ihnen herauf ins Treppenhaus. Dunkle Brandflecken formten sich an den Stellen, an denen sich die brennenden Pfeile ins Holz gebohrt hatten, und dünne Rauchschwaden drifteten durch die Risse in der Tür. Aurian gefror das Blut in den Adern, als sie daran dachte, daß Anvar irgendwo in der Festung gefangen saß und sie weder in der Lage war, diese letzte Zuflucht bis zu seiner Rückkehr zu verteidigen, noch an den Angreifern vorbeikommen konnte, um ihm zu Hilfe zu eilen.

Plötzlich packte Parric ihren Arm. »Vorwärts!« brüllte er. »Jetzt, da die Bastarde da draußen Feuer benutzen, können wir nicht mehr länger die Stellung halten. Wir müssen hier raus!«

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