Der Konferenzraum bot eigentlich nur gut einem Dutzend Leute Platz, aber durch eine spezielle Software wurde es möglich, den Raum zu »erweitern«, damit virtuelle Teilnehmer anwesend sein konnten. Gearys Blick wanderte über den endlos lang erscheinenden Tisch, an dem alle Offiziere aufgereiht saßen. Die Befehlshaber aller Schiffe der Flotte sahen ihn an, außerdem waren Lieutenant Iger und der Chefarzt der Flotte, Captain Nasr, anwesend, ebenso General Charban und die Gesandte Rione sowie ein paar derjenigen Zivilisten, die als Experten für intelligentes nichtmenschliches Leben mitgereist waren.
Einige andere konnten nur von Geary und Desjani gesehen und gehört werden. Diesen wenigen — ehemalige Kriegsgefangene, die nun an Bord der Mistral und der Typhoon untergebracht waren — war es gestattet, Zeuge der Besprechung zu werden. Hätten die anderen hochrangigen und von sich eingenommenen ehemaligen Gefangenen davon gewusst, dann hätten sie alle darauf bestanden, ebenfalls teilnehmen zu dürfen, und sie wären überdies noch auf die Idee gekommen, darauf zu pochen, dass sie sich im Rahmen der Konferenz zu Wort melden durften. Das durfte auf keinen Fall geschehen.
Seit Geary das Kommando über die Flotte übernommen hatte, waren in diesem Raum für sein Empfinden schon zu viele Konferenzen abgehalten worden, die einen dramatischen Verlauf genommen hatten. Im Verlauf seiner hundert Jahre im Kälteschlaf waren die Flottenkonferenzen in politische Debatten verwandelt worden, bei denen die Flottenkommandanten um die Gunst ihrer Untergebenen buhlten, anstatt ihnen Befehle zu erteilen, die sie auszuführen hatten.
Als man Geary aus dem Kälteschlaf geholt hatte, stellte sich heraus, dass er bei Weitem der dienstälteste Captain der gesamten Allianz-Flotte war, hatte man ihn doch vor gut einem Jahrhundert in diesen Rang befördert. Ihm selbst war das zunächst egal gewesen, doch nach dem Tod von Admiral Bloch, der ihm vorübergehend das Kommando über die Flotte übertragen hatte, war Geary nicht nur per Befehl, sondern auch vom Dienstalter her derjenige, dem das Recht zustand, Blochs Nachfolge anzutreten. Eine ausreichende Anzahl der damaligen Commander der Flotte war dieser Argumentation gefolgt und hatte zugestimmt, dass Geary tatsächlich das Kommando über die Flotte übernehmen sollte. Dieser gesamte Prozess, bei dem er als Befehlshaber nicht nur die Meinung seiner Untergebenen anhören, sondern dafür sorgen sollte, dass seine Entscheidung eine Mehrheit fand, war ihm als skandalös verkehrt vorgekommen, doch da hatte er auch nicht gewusst, wie grundlegend ein Jahrhundert Krieg und Blutvergießen die Struktur der Flotte und den Charakter der Offiziere beschädigt hatten.
Er hatte sofort begonnen, zu den Verhältnissen zurückzukehren, wie er sie noch gekannt hatte, und auch wenn es ein langwieriger und allzu oft schmerzhafter Prozess gewesen war, ging es inzwischen doch deutlich gesitteter und professioneller zu. »Als Erstes«, begann er, »möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich sehr schätze, mit welchem Geschick sich diese Flotte in unserer letzten Schlacht geschlagen hat. Gut gemacht.«
Es wäre für ihn deutlich schwieriger gewesen, diese Worte auszusprechen, wäre Captain Vente von der Invincible anwesend gewesen. Doch dessen Schiff war inzwischen nur noch ein sich rasch ausdehnender Ball aus Staub, da man die Antriebseinheit kontrolliert gesprengt hatte. Da Vente selbst nicht länger Befehlshaber über ein Schiff war, besaß er auch kein Recht, an dieser Besprechung teilzunehmen.
In diesem Augenblick saß Vente in einem Behelfsquartier an Bord der Tanuki und wusste nicht einmal, dass eine Konferenz einberufen worden war.
»Bedauerlicherweise sind auch einige Verluste zu beklagen«, fuhr Geary fort. »Mögen die Vorfahren die Toten mit allen Ehren empfangen, die ihnen zustehen.«
Captain Badaya saß mit finsterer Miene da und starrte auf die Tischplatte. »Wir werden die Invincible rächen. Und vielleicht hört die Allianz ja jetzt endlich auf, neue Schlachtkreuzer auf diesen unheilvollen Namen zu taufen.«
»Das ist wohl nicht zu befürchten«, meldete sich Captain Vitali von der Daring. »Mit dem Ende des Krieges hat man aufgehört, neue Schiffe zu bauen. Es befinden sich keine Schlachtkreuzer im Bau, denen man diesen Namen noch geben könnte.«
Geary schaute zu Captain Smythe, der weder eine Miene verzog noch irgendeine Geste machte, der aber dennoch zu vermitteln verstand, dass sie beide das Gleiche dachten. Wenn das stimmte, was Smythe und seine Leute herausgefunden hatten, dann wurden sehr wohl neue Kriegsschiffe gebaut. Diese Tatsache wurde lediglich vor Geary und jedem anderen Mitglied dieser Flotte geheimgehalten. Warum dem so war, das stellte für Geary nur eine von vielen Fragen dar, die er zu klären hatte. Im Augenblick war es aber besser, wenn er die Unterhaltung auf andere Themen lenkte. »Ich möchte vor allem das Agieren der Orion in dieser jüngsten Konfrontation hervorheben.«
Commander Shen reagierte nur mit einem mürrischen Nicken auf Gearys lobende Worte, während die anderen Offiziere diesem Lob mit Gesten und Äußerungen zustimmten. Zumindest galt das für die meisten Offiziere, während ein paar eine neutrale Miene wahrten, womöglich, weil sie immer noch eine gewisse Verbundenheit mit dem in Ungnade gefallenen Captain Numos verspürten. Und Captain Jane Geary schien Mühe zu haben, ihr Missfallen darüber für sich zu behalten, dass Shen so hervorgehoben wurde.
»Meine Crew verdient dieses Lob«, erklärte Shen mit notorisch verdrießlichem Gesichtsausdruck. Er war kein Diplomat, und ihm schien der Gedanke fremd zu sein, sich bei seinen Vorgesetzten anzubiedern. Aber die Orion hatte nun mal gut gekämpft, und für Geary war es in seiner Erfahrung mit dieser Flotte das erste Mal, dass er das von diesem Schiff sagen konnte. Vielleicht hatte Desjani ja recht, und Shen war trotz seiner schroffen Art genau der richtige Commander, um die Orion endlich auf den richtigen Weg zu bringen.
»Der zweite Punkt«, fuhr Geary fort, »betrifft unser Wissen darüber, wie die Aliens den Stein abgelenkt haben, den wir auf ihre Orbitalfestung abfeuerten. Oder anders ausgedrückt: Wir haben keine Ahnung, wie ihnen das gelingen konnte. Ihnen allen wurde der Zugriff auf sämtliche Sensordaten erlaubt, jetzt würde ich gern Ihre Meinung dazu hören.«
Captain Neeson von der Implacable ergriff als Erster das Wort: »Mein erster Gedanke war Magnetkraft, also ein sehr starkes, sehr konzentriertes Magnetfeld, das projiziert wird, um alles abzulenken, was auf die Festung abgefeuert wird, vorausgesetzt, das Objekt besteht aus dem richtigen Metall. Aber ein so starkes Magnetfeld hätten unsere Sensoren bemerken müssen.«
Captain Hiyen von der Reprisal nickte nachdrücklich. »Und doch entspricht das Beobachtete dem, was wir auch zu sehen bekommen hätten, wäre ein Magnetfeld im Spiel gewesen. Das heißt, es muss etwas gewesen sein, das sich genauso wie ein Magnetfeld verhält. Vielleicht etwas, das bei nichtmagnetischen Substanzen genau die gleiche Wirkung erzielt.«
»Und was sollte das sein?«, fragte Captain Duellos von der Inspire.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Hiyen. »Ich kann nur mit Gewissheit sagen, dass immens viel Energie notwendig wäre, um etwas Derartiges zu erzeugen.«
»Das sehe ich auch so. Mehr Energie zumindest als jedes unserer Schiffe erzeugen könnte«, pflichtete Neeson ihm bei.
Captain Tulev nickte und sagte mit düsterer Stimme: »Dann wissen wir jetzt, wieso diese Festung so riesig ist. Sie muss Platz bieten für die Generatoren, die für den Abwehrmechanismus sorgen.«
Seit dem Tod von Captain Cresida waren Neeson und Hiyen zwei der besten noch lebenden Wissenschaftstheoretiker unter den Offizieren dieser Flotte. Nachdem er nun ihre Meinung kannte, wandte er sich an Captain Smythe. »Was meinen die Ingenieure dazu?«
Smythe spreizte die Hände, um seine Ahnungslosigkeit kundzutun. »Unter meinen Ingenieuren herrscht die übereinstimmende Ansicht, dass die Aliens zu so etwas nur in der Lage sein können, wenn sie sehr starke und eng begrenzte Magnetfelder projizieren. Genau das haben sie aber nicht gemacht, und somit wissen wir absolut nichts darüber, wie sie das bewerkstelligt haben.«
General Carabali, welche die dieser Flotte zugeteilten Marines befehligte, schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Ganz gleich, wie sie das hinkriegen mögen, ihre Primärwelt wird über die gleiche Art der Verteidigung verfügen.«
Alle sahen sie an, schließlich nickte Desjani. »Das muss tatsächlich so sein. Ein Glück, dass wir keine kinetischen Projektile für einen Vergeltungsschlag vergeudet haben.«
General Charban sah immer noch Carabali an. »Ein solches Verteidigungssystem wäre für uns von unschätzbarem Wert. Wenn man unsere Planeten unverwundbar machen könnte gegen eine Bombardierung aus dem All…«
Er musste den Gedanken nicht erst noch zu Ende führen. Im Verlauf von einhundert Jahren Krieg gegen die Syndikatwelten waren durch solche Bombardements unzählige Menschen getötet und ganze Welten verwüstet worden.
»Wie kommen wir daran?«, fragte Rione, deren Stimme nach Charbans Aussage auf schroffe Art dem einsetzenden Schweigen ein Ende bereitete. »Ich gebe zu, so etwas wäre für uns von unschätzbarem Wert, aber wie bringen wir es in unseren Besitz? Die reden schließlich überhaupt nicht mit uns. Bislang ist auf keine unserer Nachrichten geantwortet worden.«
»Ein Überfall?«, schlug Captain Badaya vor, gab sich aber sofort selbst die Antwort darauf. »Auch wenn wir uns keine Sorgen machen müssten, sie könnten wieder ein paar Hundert von diesen Selbstmordfliegern auf uns hetzen, bleiben ein paar Fragen offen. Wie sollen wir ihre Verteidigung lahmlegen, wenn sie unsere Bomben ablenken können? Wie sollen wir mit Shuttles landen, wenn die möglicherweise von diesem Abwehrsystem genauso vom Kurs abgelenkt werden?«
Carabali schüttelte den Kopf. »Egal, wie viele Shuttles wir zur Oberfläche einer dieser Festungen schicken, sie würden alle von den Verteidigungsanlagen ausgelöscht werden, die wir dort entdeckt haben. Solange die Flotte nicht zumindest einen Teil der Anlagen ausschaltet, können meine Marines nicht ins Innere dieser Festungen gelangen. Jedenfalls nicht lebend.«
»Und was ist mit Tarnausrüstung?«, hakte Badaya nach.
»Davon habe ich nicht genug zur Verfügung, um eine halbwegs schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Und selbst wenn die Soldaten unversehrt landen sollten, hätte das die gleiche Wirkung, als würde man ein paar Sandkörner gegen einen Berg werfen.« Carabali hielt inne und setzte eine noch finsterere Miene auf. »Außerdem wissen wir nicht, ob unsere Tarntechnologie die Sensoren dieser Aliens überhaupt täuschen könnte. Vielleicht funktioniert’s, vielleicht aber auch nicht.«
Badaya verzog das Gesicht. »Das finden wir nur heraus, wenn wir einen Versuch wagen.«
General Carabali stand kurz davor, vor Wut zu explodieren, aber Geary verhinderte das, indem er sagte: »Ich bin mir sicher, Captain Badaya wollte damit nicht vorschlagen, dass wir es tatsächlich so machen sollten. Er hat nur festgestellt, dass es keinen anderen Weg gibt, um Gewissheit darüber zu erlangen, wozu die Aliens fähig sind. Ein tatsächlicher Angriff angesichts solcher Unwägbarkeiten wäre das letzte Mittel, zu dem wir greifen könnten, und davon sind wir noch weit entfernt.«
Diese Worte besänftigten Carabali ein wenig, während Badaya für einen Moment erschrocken wirkte, dass seine Äußerung eine solche Reaktion nach sich gezogen hatte. »Ja, genau das wollte ich damit sagen.«
»Eines wissen wir«, hob Tulev hervor. »Die Enigmas sind seit Jahren die unmittelbaren Nachbarn dieser Aliens. Aber sie verfügen nicht über eine solche Technologie. Unsere Bombardierungen von Enigma-Zielen verliefen alle nach Plan. Obwohl sie so viele Tricks und Täuschungen auf Lager haben, obwohl sie Würmer und Trojaner verbreiten, besitzen sie keine derartige Abwehrvorrichtung.«
»Vielleicht sollten wir den Aliens hier sagen, dass wir Feinde der Enigmas sind und«, begann Badaya.
»Das haben wir bereits versucht«, unterbrach ihn Rione. »Keine Reaktion.«
Badaya schien verärgert, dass Rione ihm ins Wort gefallen war, dann sah er wieder zu Geary. »Admiral, was wissen wir über die Spezies in diesem System?«
»Wir wissen, dass sie blutrünstige Dreckskerle sind«, erwiderte Captain Vitali. »So wie die Enigmas.«
Geary betätigte eine Taste, das Bild des rekonstruierten Aliens nahm über dem Tisch Gestalt an und schien unmittelbar vor jedem Anwesenden in der Luft zu stehen.
Einen Moment lang herrschte Stille, dann begann jemand zu lachen, ein anderer fluchte.
»Teddybären?«, fragte schließlich Commander Neeson.
»Teddybär-Kühe«, korrigierte ihn Desjani.
Dr. Nasr zog die Stirn in Falten. »Medizinisch gesehen ist das nicht korrekt. Ihre DNA ist mit Bären und Kühen nicht verwandt. Anhand der gefundenen Fetzen konnten wir dieses Bild rekonstruieren, und wir sind sicher, dass wir es mit Pflanzenfressern zu tun haben. Sie sind intelligent, und ihre Hände eignen sich für feinmotorische Aufgaben.«
»Augenblick mal!«, sagte Badaya. »Pflanzenfresser? Wir werden von…« Er drehte sich zu Desjani um. »…von Kühen angegriffen?«
»Vielleicht sind sie Sklaven irgendeiner Jägerspezies, die sie zu diesem Selbstmordkommando gezwungen hat«, warf der Commander eines Kreuzers ein.
Lieutenant Iger schüttelte daraufhin den Kopf. »Es ist uns gelungen, das Videosystem zu entschlüsseln, und wir haben bislang etliche Bilder dieser Kreaturen zu sehen bekommen. Es deutet nichts darauf hin, dass sie von einer anderen Spezies dominiert werden oder dass es eine Spezies gibt, die ihnen ebenbürtig ist. Unsere Beobachtung der Primärwelt liefert auch keinen Hinweis darauf, dass es eine herrschende Jägerklasse geben könnte. Alles ist einheitlich, jedes Gebäude, jeder Quadratmeter — es sieht alles gleich aus. Es gibt keine Abwechslung. Eine herrschende Jägerklasse hätte Freiräume rings um besondere Bauwerke angelegt.«
Duellos sah zu Iger. »Keine Abwechslung? Eine monolithische Kultur?«
»So sieht es aus, Sir.«
»Wie sieht Ihre Schätzung hinsichtlich der Bevölkerungszahlen aus, nachdem wir jetzt etwas mehr über diese Kreaturen wissen?«, erkundigte sich Geary.
»Mindestens dreißig Milliarden, Admiral. Das ist die unterste Zahl, die wir schätzen können.« Iger hörte, wie ringsum erstaunt nach Luft geschnappt wurde, und sah sich mit einem trotzigen Gesichtsausdruck um. »Sie leben dicht gedrängt, Schulter an Schulter. Überall.«
»Herdentiere«, meldete sich Professorin Shwartz zu Wort, eine der zivilen Experten. Alle Augen richteten sich sofort auf sie. »Herdentiere«, wiederholte sie. »Pflanzenfresser. Auf den Videos, die Lieutenant Iger aufzeichnen konnte, sehen wir sie überall in Gruppen, selbst wenn sie sich in einem Raum aufhalten, der Platz genug bietet, um auf Abstand zueinander zu gehen. Sie drängen sich aus freien Stücken aneinander. In einer kompakten Gruppe fühlen sie sich wohl, und es ist ihnen unbehaglich, von der Gruppe getrennt zu sein.«
Badaya schüttelte den Kopf. »Das mag ja alles sein, aber… Kühe, die uns angreifen?«
»Sind Sie der Meinung, dass von Pflanzenfressern keine Gefahr ausgehen kann?«, konterte Shwartz. »Sie können sogar sehr gefährlich sein. Eines der todbringendsten Tiere auf der Alten Erde war das Hippopotamus. Oder der… Elefant. Oder das Rhinozeros. Sie alle waren Pflanzenfresser, aber wenn sie das Gefühl hatten, dass einer von ihnen oder die ganze Herde bedroht wurde, griffen sie an. Schnell, entschlossen und tödlich. Waffen mit ausreichender Feuerkraft konnten sie aufhalten, sonst nichts.«
»Das klingt ganz nach dem Gefecht, das wir eben hinter uns gebracht haben«, musste Duellos zugeben.
»Und es passt zu der Tatsache, dass wir keine Kommunikation herstellen können«, fügte Shwartz hinzu. »Sie wollen nicht mit uns reden. Weil sie nicht verhandeln wollen, da ihrer Ansicht nach jeder Feind nichts anderes will, als sie zu töten. Jäger. Mit Jägern verhandelt man nicht, sondern man tötet sie — oder man wird von ihnen getötet.«
»Aber sie werden doch untereinander verhandeln«, überlegte Neeson. »Oder nicht? Herdentiere. Sie tun das, was ihr Anführer befiehlt, nicht wahr?«
»Mindestens dreißig Milliarden«, murmelte Charban, dessen Stimme von der Software aufgefangen und klar und deutlich übertragen wurde. »Was passiert, wenn die Herdentiere alle Jäger getötet haben? Dann wird die Herde immer größer und größer.«
»Wieso verhungert eine so große Herde nicht?«, wollte Badaya wissen.
»Die Menschen auf der Alten Erde sind auch nicht verhungert, als die Bevölkerung von Tausenden auf Millionen und schließlich auf Milliarden anwuchs. Wir sind intelligent, wir haben Wege gefunden, wie sich mehr Essen herstellen lässt. Viel mehr Essen. Und das hier sind intelligente Pflanzenfresser.«
»Wir stellen eine Bedrohung für sie dar«, sagte Professorin Shwartz. »Als wir versucht haben, mit ihnen zu kommunizieren, da haben wir ihnen Bilder von uns gezeigt. Anhand dieser Bilder konnten sie unsere Zähne sehen und daraus folgern, dass wir im günstigsten Fall Allesfresser, möglicherweise aber nur Fleischfresser sind. Sie sind nicht zu Herrschern über ihre Welt aufgestiegen, weil sie schwach oder passiv waren. Sie müssen die Fähigkeit besitzen, aggressiv zu werden, wenn sie sich bedroht fühlen. Das heißt, sie werden alles tun, um uns zu vernichten, damit wir keine Gelegenheit bekommen, sie zu töten und zu verspeisen.«
»Und es interessiert sie nicht, wenn wir ihnen sagen, dass wir sie gar nicht verspeisen wollen?«, fragte Duellos.
»Natürlich nicht. Wären Sie ein Schaf, würden Sie dann den Beteuerungen des Wolfs glauben wollen?«
»Ich glaube, diese Gelegenheit würde ich wohl nur einmal bekommen«, meinte Duellos daraufhin.
»Die sind wie die Enigmas«, sagte Badaya voller Verachtung. »Sie wollen uns töten und nehmen dabei keine Rücksicht auf das Leben ihrer eigenen… Leute. Sie sind bereit, ohne auch nur zu zögern Selbstmordkommandos auf den Weg zu schicken.«
Ein Moment der Stille, der für die Zustimmung aller Anwesenden stand, endete, als General Charban das Wort ergriff: »Captain, angenommen, Sie würden einer intelligenten Spezies angehören und hätten in den letzten hundert Jahren das Verhalten der Menschheit beobachtet, wie sie gegen die Syndikatwelten gekämpft hat. Könnten Sie dann zu der Annahme gelangen, dass uns das Leben eines anderen Menschen etwas bedeutet? Oder würden Sie zu dem Schluss kommen, dass wir bereit sind, zahllose Leben zu opfern, ohne Bedauern oder Zögern erkennen zu lassen?«
Badaya lief rot an, während er nach einer passenden Antwort suchte.
»Das kann man nicht vergleichen!«, widersprach Captain Vitali energisch.
Tulev redete betont langsam, als er sich einmischte: »Wir wissen das, oder zumindest glauben wir das zu wissen. Aber manches Verhalten der Menschen spricht eher dagegen. Das ist uns ebenfalls bekannt, und einem Außenstehenden könnte dieses Verhalten noch viel schlimmer erscheinen.«
Diesmal herrschte noch länger Stille. Alle wussten, dass Tulevs Heimatwelt von den Syndiks zerstört worden war. Der Planet existierte noch, aber die bedauernswert wenigen im System verbliebenen Menschen waren abgebrühte Überlebende, die die verbliebenen Verteidigungssysteme für den Fall bemannten, dass die Syndiks je zurückkommen sollten. Ansonsten gab es auf der toten Welt nur noch Krater und Trümmer.
»Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte Badaya schließlich in einem förmlichen Tonfall. »Tatsache ist dennoch, dass wir nicht sofort angegriffen haben, kaum dass wir in diesem Sternensystem angekommen waren. Und wir haben uns auch nicht geweigert, mit ihnen zu reden. Wir müssen diese Kreaturen als unsere Feinde ansehen, weil sie uns gar keine andere Wahl lassen.«
»Wenn das Herdentiere sind«, warf Captain Jane Geary von der Dreadnaught ein, »und wir sind die Jäger, dann sollten wir unserer Rolle gerecht werden und dafür sorgen, dass sie uns respektieren.«
»Auf jeden Fall«, stimmte Badaya ihr zu.
Na, großartig. Jetzt feuerte seine Großnichte Badaya auch noch an, wo der grundsätzlich nicht erst dazu ermuntert werden musste, zum Angriff zu blasen. Ehe Geary aber einschreiten konnte, sagte Desjani mit unüberhörbar ironischem Unterton: »Diese Kühe haben Waffen. Große Waffen.«
»Ich konnte Kühe noch nie leiden«, erklärte General Carabali. »Schwer bewaffnete Kühe mag ich gar nicht, und das gilt besonders, wenn es dann auch noch dreißig Milliarden sind.«
Duellos nickte. »Es würde lange Zeit dauern, um dreißig Milliarden zu töten. Die haben genug Kanonenfutter, außerdem haben sie kein Problem damit, Einzelne zu opfern, um die Herde als Ganzes zu schützen.«
»Also gut«, sagte Geary. »Im Moment können wir über diese Wesen in erster Linie bloß spekulieren. Wir wissen, dass sie eine Abwehrmethode gegen kinetische Waffen besitzen, über die wir nicht verfügen. Außerdem besitzen sie etliche sehr große und viele kleinere Kriegsschiffe. Da sie zahlenmäßig sehr stark vertreten sind, müssen wir davon ausgehen, dass sie uns massiv unter Beschuss nehmen können. Augenblicklich durchqueren wir den äußeren Rand ihres Systems, um zu einem der anderen Sprungpunkte zu gelangen. Bei unserer gegenwärtigen Geschwindigkeit, die wir wegen der zu erledigenden Reparaturen beibehalten müssen, werden wir den nächsten Sprungpunkt in einundvierzig Stunden erreichen. Wir folgen unserem momentanen Vektor, während ich mir Gedanken darüber mache, wie wir hier rauskommen, ohne bei einer weiteren Auseinandersetzung mit diesen Bärkühen die halbe Flotte zu verlieren.«
»Was ist unser Ziel?«, fragte Jane Geary.
»Unser Ziel ist es, dieses Sternensystem zu verlassen und in ein anderes zu gelangen, damit wir von dort ins Gebiet der Allianz zurückkehren können.«
»Das ist unser endgültiges Ziel, Admiral. Als Zwischenziel müssen wir die Gefahr ausschalten, die uns bedroht.«
»Unsere Mission ist es zu erforschen und zu bewerten«, gab Geary in einem Tonfall zurück, von dem er hoffte, dass er ruhig und gelassen klang. »Diese Wesen scheinen sich mit den Enigmas auch nicht zu verstehen. Ich sehe daher keinen Nutzen darin, ihre Kampfkraft zu schwächen. Die von ihnen ausgehende Bedrohung könnte bislang dafür gesorgt haben, dass die Enigmas nicht ihre ganze Konzentration auf uns richten. Außerdem wüsste ich nicht, wie wir sie schlagen sollten, ohne selbst schwere Verluste hinnehmen zu müssen. Wenn es nötig werden sollte, kämpfen wir uns den Weg aus diesem System frei und zerstören alles und jeden, der uns daran hindern will. Aber es wäre mir lieber, nicht noch mehr Schiffe und Leute zu verlieren.«
Captain Bradamont von der Dragon betätigte eine Taste, mit der sie eine Darstellung eines der Superschlachtschiffe der Aliens vor sich in der Luft entstehen ließ. Bradamont sagte nichts dazu, sondern ließ das Bild des gigantischen Schiffs für sich sprechen.
Badaya betrachtete die Darstellung und nickte schließlich widerstrebend. »Diese Superschlachtschiffe sind sehr beeindruckend.«
»Sie sehen beeindruckend aus«, hielt Jane Geary dagegen.
»Das Aussehen ist alles, woran wir uns orientieren können. Wir wissen zu wenig darüber, wozu diese Kreaturen fähig sind.« Badaya lächelte General Carabali schief an. »Die Marines sind nicht scharf darauf, auf die harte Tour mehr über die Gefechtsfähigkeiten des Feindes herauszufinden, und mir geht’s nicht anders, wenn ich daran denke, ich müsste mich einem dieser Schiffe in den Weg stellen. Vielleicht können wir mehr über ihre Schwachstellen herausfinden, aber bis dahin hat Admiral Geary völlig recht, wenn er entscheidet, nicht blindlings den Kampf zu suchen.
Desjani überspielte ihr Erstaunen, indem sie hüstelte, dann warf sie Geary einen fragenden Blick zu, den der sofort verstand. Badaya sagt, wir sollten nicht blindlings den Kampf suchen? Vielleicht bekommt er sich ja mit der Zeit doch besser in den Griff.
Captain Jane Geary erkannte, dass sie nicht Badayas Rückhalt erhielt, doch das ließ sie nur für einen kurzen Moment schweigen. »Was ist mit den Enigmas, Admiral? Sind die für uns immer noch Anlass zur Sorge?«
»Für mich schon«, antwortete Geary, auch wenn er ehrlich gesagt in letzter Zeit kaum einen Gedanken an sie verschwendet hatte, da es Wichtigeres zu tun gab. »General Charban hat überlegt, dass die auf die Enigmas ausgerichteten Verteidigungsanlagen darauf deuten könnten, dass diese Spezies hier sich nicht gut mit den Enigmas versteht.« Er wandte sich an die virtuell anwesenden zivilen »Experten«. »Was meinen Sie dazu?«
Professorin Shwartz und Dr. Setin sahen sich kurz an, dann antwortete Setin bedächtig: »Die Enigmas haben uns durch das Gebiet gejagt, das von ihnen kontrolliert wird. Aber das hier ist nicht ihr Gebiet. Für sie mag es eine entscheidende Motivation sein, die Privatsphäre dieser Spezies zu wahren. Und solange sie selbst nicht hier sind, kümmert es sie nicht, dass wir diese Privatsphäre stören.«
»Diese Spezies war eindeutig bereit, gegen jeden in Aktion zu treten, der den Sprungpunkt hier verlässt«, ergänzte Professorin Shwartz. »Soweit wir wissen, können sie nur damit rechnen, dass die Enigmas auf diesem Weg in ihr System gelangen. Daher muss es so sein, wie der General gesagt hat, dass nämlich diese Anlagen gegen die Enigmas errichtet worden sind.«
»Was bedeutet, dass wir uns für den Augenblick ganz auf diese Spezies konzentrieren und herausfinden können, wie groß die von ihnen ausgehende Bedrohung für uns ist«, schloss Geary das Thema. »Sonst noch was?«
Wieder meldete sich Commander Neeson zu Wort. »Ich hätte da einen Vorschlag, Admiral. Diese Aliens haben doch problemlos die kinetische Salve abgelenkt, die wir auf ihre Festung abgefeuert hatten. Captain Smythes Ingenieure könnten die Geschosse einer zweiten Salve mit Sensoren bestücken, dann feuern wir sie auf die nächstgelegene Orbitalfestung ab und erhalten vielleicht Anzeigen, die uns mehr über dieses Abwehrsystem und über das Kraftfeld verraten, das von ihm erzeugt wird.«
»Gute Idee«, fand Geary. »Captain Smythe?«
Smythe schaute zu den Befehlshabern der Hilfsschiffe. »Ich glaube, diese Herausforderung wird uns gefallen, Admiral. Wir können bei der Konstruktion der neuen Projektile mit einer Vielzahl von verschiedenen Hüllen arbeiten. Diverse Legierungen und Mischungen und so weiter. Auf diese Weise sehen wir, wie die Abwehrsysteme darauf reagieren. Allerdings muss ich darauf hinweisen, dass ich dafür einige Ressourcen von anderen Aufgaben abziehen werde.«
»Verstanden.« Andere Aufgaben. Vor allem meinte er damit die laufenden Anstrengungen, um diverse Ausrüstungsgegenstände auf allen Schiffen zu ersetzen, deren erwartete Lebensspanne sich dem Ende näherte. Es kam Geary so vor, dass immer dann, wenn die Flotte sich diesem Problem widmen wollte, irgendetwas anderes die Aufmerksamkeit der Hilfsschiffe auf sich lenkte. »Machen Sie sich an die Arbeit. Holen Sie vor dem Start meine Bestätigung ein, nur für den Fall, dass sich in der Zwischenzeit irgendwelche Fortschritte bei unseren Kommunikationsbemühungen ergeben haben sollten. Vielleicht hören wir ja von den… den…«
»Teddybärkühen«, sagte Desjani.
»Können wir sie nicht einfach Bärkühe nennen?«, fragte Captain Vitali. »Ich komme mir lächerlich vor, wenn ich davon rede, dass wir gegen Teddybärkühe kämpfen.«
»Sie sind niedlich«, warf Duellos ein. »Nicht, dass das etwas ausmacht.«
»Mir jedenfalls nicht«, meinte Desjani. »Ich vermag auch etwas Niedliches zu töten, wenn es versucht, mich umzubringen.«
»Wir werden sie Bärkühe nennen«, entschied Geary und wünschte, ebenso einfach entscheiden zu können, wie sie dieses System möglichst unversehrt verlassen sollten.
»Ich hätte auch noch eine Frage«, meldete sich Captain Hiyen zu Wort.
»Ja?«, hakte Geary nach, als Hiyen nicht von sich aus weiterredete.
»Wieso sind wir überhaupt hier, Admiral? Warum sind wir Dutzende Lichtjahre vom Gebiet der Syndiks und noch viel weiter von zu Hause weg? Warum befinden wir uns in dieser Situation?«
Eine besondere Anspannung machte sich am Konferenztisch breit. Als Geary einen nach dem anderen anblickte, zoomte die Software automatisch denjenigen heran, auf den er sich soeben konzentrierte. Dabei sah er unglückliche Gesichter ebenso wie verbohrte, und zu viele verrieten ihm, wer alles den Gedanken hinter dieser Frage teilte.
Er hatte sich vor dem Moment gefürchtet, an dem jemand diesen Punkt offen ansprach, denn die Antworten darauf waren nicht so einfach, zumal ein Großteil dieser Flotte der Ansicht war, dass Black Jack Geary im Hintergrund die Fäden der Allianz in seinen Händen hielt. Genau dieser Glaube war es, der bislang ein offenes Aufbegehren dieser Militärs verhindert hatte, obwohl die Streitkräfte doch unendlich viele Opfer in einem scheinbar ebenfalls unendlichen Krieg erlitten hatten, für den sie die Zivilregierung verantwortlich machten. So stark und mächtig diese Flotte auch war, schwelte in ihrem Kern dennoch eine gewisse Kriegsmüdigkeit, da man zu lange auf die immer gleichen Forderungen eingegangen war, zu viele Freunde und Verwandte umgekommen waren und man die Schiffe weit über die Grenzen ihrer eigentlichen Belastbarkeit hinaus strapaziert hatte. Zudem begann die Allianz ungewollt, sich aufzulösen, weil die Belastung eines erst vor Kurzem gewonnenen, hundert Jahre lang geführten Kriegs zu groß geworden war. Hinzu kam ein Offizierskorps, das in sich zerstritten war, während man die Politik der Zivilregierung für den Zwist verantwortlich machte.
Gearys simple Aufgabe bestand darin, dennoch alles zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen drohte. Im Augenblick galt es vor allem, diese Flotte zusammenzuhalten, da niemand von ihnen nach Hause zurückkehren würde, wenn sich ein Teil abspaltete, beispielsweise die Schiffe der Callas-Republik, zu denen auch die Reprisal unter Captain Hiyen gehörte.
Ehe Geary antworten konnte, stand Victoria Rione auf und sagte: »Captain Hiyen, wenn Sie wissen wollen, warum die Schiffe der Callas-Republik immer noch ein Teil der Allianz-Flotte sind und nach wie vor dem Kommando von Admiral Geary unterstehen, dann bin ich wohl am besten befähigt, um darauf zu antworten. Ich habe diese Befehle von der Callas-Republik mitgebracht, die an dieser Kooperation festhält.«
»Aber wieso?«, wollte Hiyen wissen. »Man hat uns nie einen Grund genannt. Und jetzt werden wir so weit von der Republik entfernt schon wieder mit dem Tod konfrontiert. Ist es zu viel verlangt, wenn diejenigen nach dem Grund fragen, warum sie nicht nach Hause zurückkehren dürfen, nachdem sie so lange Zeit ihr Leben riskiert haben und dabei den Tod so vieler Freunde mitansehen mussten?«
Rione machte eine hilflose Geste, während Minenspiel und Körperhaltung rückhaltloses Mitgefühl ausstrahlten. »Das weiß ich nicht, Captain Hiyen. Ihnen ist bekannt, dass ich aus der Regierung abgewählt wurde, bevor diese Befehle gegeben und diese Entscheidungen getroffen wurden. Weil die Allianz mich gebeten hat, in einer anderen Funktion wieder mit dieser Flotte zu reisen, wurde ich beauftragt, die Befehle der Callas-Republik mitzubringen. Aber es wurde nicht meine Meinung zu diesen Befehlen eingeholt. Die neue Callas-Regierung hat diese Entscheidung getroffen.«
Captain Hiyen zögerte, dann blickte er zu Geary.
»Die Befehle für Ihre Schiffe haben mich mindestens genauso überrascht wie Sie selbst«, erklärte Geary und sprach damit nur die Wahrheit aus. Er war davon ausgegangen, dass sie genauso die Heimreise antreten würden wie die Schiffe der Rift-Föderation. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, habe ich Ihre Schiffe nicht angefordert, aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass ich nicht froh bin, Sie und Ihre Leute an meiner Seite zu haben. Die Callas-Republik und die Rift-Föderation sind unabhängige Sternengruppen, die sich aus eigener Veranlassung der Allianz angeschlossen haben. Ich kann ihnen nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, und das will ich auch gar nicht, denn sie sind freie Völker.«
Badaya verdrehte resigniert die Augen. Er hatte vorgeschlagen, die Callas-Republik und die Rift-Föderation dazu zu zwingen, bei der Allianz zu bleiben, bis Geary ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass eine solche Vorgehensweise doch allzu sehr dem entspräche, was man an den Syndiks immer so gehasst hatte.
»Admiral.« Commander Sinicrope vom Leichten Kreuzer Florentine deutete auf die Offiziere in ihrer unmittelbaren Umgebung. »Das ist keine Sache, die nur die Kriegsschiffe unserer Alliierten betrifft. Wir alle in der Allianz haben uns dem Kampf angeschlossen, um gegen die Syndiks vorzugehen. Wir haben gekämpft, um sie zu besiegen, und das haben wir geschafft. Ich sehe die Notwendigkeit ein, mehr über die Gefahren herauszufinden, die aus der Ferne drohen, bevor sie in unsere Nähe gelangen, aber wir sind hier sehr weit von der Allianz entfernt, Admiral, und wir haben es mit Gegnern zu tun, die in keinem Zusammenhang mit den Syndikatwelten stehen.«
Desjani wollte zum Reden ansetzen, jedoch kam ihr Duellos zuvor. »Ja, wir haben die Syndiks besiegt, aber erst unter dem Kommando von Admiral Geary.«
»Das streitet niemand ab, Captain Duellos. Ich wäre auch keinem anderen Commander bis hierher gefolgt.«
»Und Admiral Geary hat bereits angekündigt, dass wir nach dem Besuch dieses Sternensystems nach Hause zurückkehren werden.«
»Ja«, stimmte Commander Sinicrope widerstrebend zu.
Rione stand immer noch da und ergriff abermals das Wort, wobei sie so tat, als würde sie die wütenden und verächtlichen Blicke nicht bemerken, die etliche Offiziere auf sie gerichtet hatten. Ihr erster Satz genügte, um diese Frauen und Männer in Verlegenheit zu bringen. »Ich weiß, aus Ihrer Perspektive gehöre ich zum Feind. Obwohl ich alle Gefahren mit Ihnen geteilt habe und sie jetzt auch wieder teile, obwohl mein Ehemann, ein Flottenoffizier, für tot gehalten und lebend wiedergefunden wurde, nachdem er unter den Syndiks gelitten hatte. Misstrauen Sie mir, wenn Sie wollen. Halten Sie von mir, was immer Sie wollen. Aber denken Sie auch daran, was wir in dem Gebiet gesehen haben, das noch vor Kurzem von den Syndikatwelten kontrolliert wurde. Denken Sie an den Zusammenbruch der zentralen Regierung, an das um sich greifende Chaos, an Welten, die unter dem menschlichen und dem materiellen Preis erdrückt werden, den dieser Krieg ihnen abverlangt hat, und denen jetzt eine Zukunft ohne Alliierte und ohne Freunde droht.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Ich möchte auch nach Hause zurückkehren.« Ihr trauriger Tonfall hallte in der völligen Stille nach.
Als Geary sie jetzt reden hörte, als er die Gefühle heraushörte, von denen sich jeder angesprochen fühlen musste, der so empfand wie sie, da wurde ihm mit einem Mal bewusst, wie Rione es geschafft hatte, in ein so hohes politisches Amt aufzusteigen.
»Aber das kann ich nicht«, redete sie weiter. »Denn ich muss weiter daran arbeiten, dass die Allianz nicht den gleichen Weg einschlägt wie einst die Syndikatwelten. Diese Flotte ist ein Symbol für die Macht der Allianz. Sie alle repräsentieren die Allianz. Sie sind in vieler Hinsicht das Beste, was die Allianz zu bieten hat. Und wenn Sie jetzt eigene Wege gehen wollen, wenn Sie sagen, dass Sie lange genug Opfer für andere gebracht haben — was soll dann aus der Allianz werden? Aus der Allianz, die zu Ihnen aufgesehen hat, die immer noch zu Ihnen aufsieht, und das nicht nur, weil Sie sie beschützen, sondern weil Sie die Tugenden verkörpern, die unseren Vorfahren wichtig waren. Eines Tages werden Sie heimkehren können, jeder Einzelne von Ihnen, nur nicht Admiral Geary.« So plötzlich zeigte sie auf ihn, dass er keine Zeit hatte, um auf ihre Geste zu reagieren. »Sein Zuhause liegt ein Jahrhundert in der Vergangenheit, es wurde in der ersten Schlacht des Krieges geopfert, und zwar geopfert für die Allianz. Er hat die Flotte und die Allianz gerettet, und er wird weder Sie noch die Allianz verraten. Ich bitte Sie nicht darum, mir zu vertrauen. Aber vertrauen Sie ihm. Black Jack Geary wird Sie zurück nach Hause bringen. Aber wenn er Sie bittet, dieses Zuhause zu verlassen und ihm zu folgen, dann hat er dafür einen guten Grund. Er tut es für die Allianz und für unser Zuhause.«
Sie setzte sich hin und schien auch jetzt wieder nicht wahrzunehmen, wie die anderen sie ungläubig anstarrten. Desjani bekam vor Fassungslosigkeit einen Moment lang den Mund nicht mehr zu. Aber dann kam sie zur Besinnung, und während sie ihr Erstaunen rasch überspielte, bemerkte einzig Geary das Misstrauen, das sich in ihren Augen abzuzeichnen begann.
Captain Hiyen stand auf und nahm die Habtachthaltung ein. »Ich ziehe meine Frage zurück, Admiral. Nicht, weil ich sie nicht hätte stellen sollen, sondern weil sie beantwortet worden ist.«
Von Verlegenheit fast überwältigt musste sich Geary erst räuspern, ehe er sagen konnte: »Wenn das alles ist, danke ich Ihnen. Ich werde Sie alle über unsere Pläne auf dem Laufenden halten.«
Die Bilder der virtuell Anwesenden verschwanden in rascher Folge, als Geary die Besprechung beendete; entsprechend schnell schrumpften der Raum und der Konferenztisch zusammen. Geary musste einmal zwinkern, um sich wieder an die tatsächliche Größe des Raums zu gewöhnen, dann drehte er sich um und wollte Desjani nach draußen folgen, woran Rione ihn jedoch hinderte, die sich ihm in den Weg gestellt hatte. »Danke«, sagte er zu ihr.
Sie winkte ab. »Ich wusste, Sie sind zu demütig und zu bescheiden, um auszusprechen, was ausgesprochen werden musste. Haben Sie einen Moment Zeit?«
»Gibt es noch etwas?«, fragte er und hörte den vorwurfsvollen Unterton in seiner Stimme, ausgelöst durch Riones rätselhaftes Verhalten. Unwillkürlich überlegte er, wie sie wohl darauf reagieren würde.
Desjani drehte sich zu Rione um, ihr Gesicht zeigte keine Regung. Auf Gearys Geste hin schloss sie hinter sich die Luke, sodass Geary und Rione allein waren.
Sie nickte als Antwort auf seine Frage. »Sie wissen, dass die Antwort, die ich hier verkündet habe, nur das Pflaster auf einer Wunde ist, die immer weiter eitert.«
»Sie können mir glauben, dass ich mir dessen vollauf bewusst bin.«
»Wenn diese Flotte wieder auf dem Heimweg ist, wird das der Moral sehr guttun. Sie haben diese Leute schon einmal nach Hause gebracht. Sie glauben Ihnen, dass Sie es auch diesmal schaffen werden.« Sie hielt inne und musterte ihn argwöhnisch. »Das wird Ihnen doch wieder gelingen, nicht wahr?«
Das war die alte Rione, wie er sie kannte. Voller Hohn und Sarkasmus, selbst wenn sie ihm gleichzeitig ihre Unterstützung anbot. »Ich will es hoffen«, antwortete er. »Im Augenblick bin ich mir zwar nicht sicher, wie wir aus diesem System herauskommen können, aber daran arbeite ich.«
»Nicht allein.« Sie ließ ihre Aussage so klingen, als hätte sie ihm soeben einen Befehl erteilt.
»Tanya wird mir dabei helfen, und ich werde jeden dazu holen, von dem ich glaube, dass er auch etwas dazu beitragen kann.«
»Gut. Dienstliche Beziehungen leiden manchmal darunter, wenn sie persönlich werden.« Dann sah sie zur Seite und verzog den Mund. »Ich bin bereit, Ihnen eine Frage zu beantworten, Admiral.«
Er stand da und betrachtete sie mit neu erwachtem Argwohn. »Seit diese Mission begonnen hat, verhalten Sie sich, als würden Sie einen ganzen Berg an zusätzlichen Geheimnissen mit sich herumschleppen, Madam Gesandte. Warum wollen Sie ausgerechnet jetzt anfangen zu reden?«
»Die Umstände, Admiral. Angenommen, ich hätte Befehle erhalten, von denen Sie nichts wissen, dann könnte die Entdeckung einer weiteren intelligenten Spezies bewirkt haben, dass Sie etwas erfahren sollen.«
»Verstehe. Eine Frage?« Wieder nickte sie. »Also gut. Wie lauten Ihre Befehle?«
Sie reagierte mit einem vertrauten Blick, der kaum verhüllte Belustigung mit einem Hauch Überlegenheit vereinte. »Darauf kann ich nicht antworten. Versuchen Sie es noch einmal. Ich würde vorschlagen, mich zu fragen, was ich tun werde, nicht aber, wie meine Befehle lauten.«
Geary nahm Platz und deutete auf einen der anderen Sessel. »Victoria, ich wäre Ihnen dankbar, zu erfahren, was Sie tun werden.«
Sie setzte sich und sah ihm in die Augen. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Flotte nach Hause zu bringen.«
»Ist das etwas Neues?«
»In Bezug darauf, was ich tun würde oder wie meine Befehle gelautet haben könnten?«
»Sowohl als auch.«
»Das sind zwei Fragen«, gab sie zurück. »Vielleicht sogar drei.«
»Können Sie mir sagen, von wem diese Befehle kommen?«
»Nein.« Sie wich seinem Blick aus, ihr Gesicht war auf einmal bleich. »Es ist… Ich verspreche Ihnen, Admiral, ich bin auf Ihrer Seite, auch wenn meine Handlungsmöglichkeiten bislang etwas eingeschränkt waren.«
»Gut.« Konnte er ihr glauben? Zumindest hatte sie angefangen zu reden. »Arbeiten Sie mit jemandem zusammen? Ich nehme an, Sie haben immer noch Agenten in meiner Flotte.«
»Könnte sein.«
»Wissen Sie, was mit Captain Jane Geary los ist? Warum sie sich mit einem Mal so aggressiv aufführt?«
Rione zog eine Augenbraue hoch. »Damit habe ich nichts zu tun. Ich weiß nicht, ob jemand auf sie einwirkt, damit sie sich verhält wie Captain Falcos uneheliche Tochter. Das heißt natürlich nicht, dass da nicht tatsächlich jemand dahintersteckt, aber soweit ich das beurteilen kann, hat sie diesen Wandel ganz allein vollzogen.«
Er wusste nicht, warum er Rione glaubte, auf jeden Fall tat er es. Was immer es auch sein mochte, das Jane Gearys Verhalten so verändert hatte, es war nicht auf Riones Handeln zurückzuführen. »Was muss ich wissen, was ich nicht weiß?«
»Das ist schon wieder eine andere Frage«, erwiderte Rione und hob mahnend den Zeigefinger. »Sie sind selbst auch ziemlich aggressiv geworden, Admiral.«
Er beugte sich vor und musterte sie. »Von meinem Handeln hängen viele Menschenleben ab, Madam Gesandte.«
»Das ist richtig.« Sie hielt inne und dachte über irgendetwas nach, das sie ihm nicht anvertrauen würde. Schließlich sah sie ihn wieder an. »Ich bin der ehrlichen Meinung, dass Sie im Augenblick alles wissen, was Sie wissen müssen. Ihnen könnten sogar Dinge bekannt sein, von denen ich nichts weiß.«
»Ich würde zu gern wissen, was Sie heute antreibt.«
Sie sah ihn mit ernster Miene an. »Meine Prioritäten haben sich nie geändert.«
Damit meinte sie die Allianz und einen bestimmten Mann. »Wie geht es Paol?« Ihr Ehemann war in Kriegsgefangenschaft geraten und für tot gehalten worden, bis er vor Kurzem aus einem Arbeitslager der Syndiks befreit werden konnte. Geary hatte aus der Krankenstation alle Berichte über Paol Benan erhalten, weshalb er über dessen Gesundheitszustand Bescheid wusste. Dennoch wollte er hören, was Rione ihm über Commander Benan sagen konnte.
Es dauerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Die Krankenstation behält ihn im Auge.«
Geary hörte das Unbehagen aus ihrer Stimme heraus. »Sind Sie sicher vor ihm?«
»Ich weiß nicht, aber ich glaube schon. Vermutlich haben die Syndiks ihm Dinge angetan, an die er sich nicht erinnern kann; Dinge, die für diejenigen, die ihn untersuchen, nicht zu erkennen sind. Er ist immer noch ein sehr wütender Mann, Admiral.« Sie sah ihm wieder in die Augen. »Ich habe ihm gesagt, er soll sich von Ihnen fernhalten, sonst werde ich ihn verlassen. Darum ist es nicht zu weiteren Konfrontationen gekommen. Ich bin der letzte Strohhalm, an den er sich klammern kann.«
Trotz der immensen Verantwortung, die auf ihm lastete, und trotz der vielen Menschenleben, die von seinen Entscheidungen abhängig waren, erfüllte ihn dieses relativ unbedeutende menschliche Drama mit Schuld und Trauer. »Es tut mir leid.«
»Es muss Ihnen nicht leid tun. Ich hatte den ersten Schritt getan, und Sie haben es beendet, noch bevor einer von uns wusste, dass Paol noch lebte. Bringen Sie einfach diese Flotte heim.« Sie war wieder ganz die Gesandte. »Sie sind angemessen auf unsere gegenwärtige Situation eingestellt. Ich glaube, General Charban hat recht, wenn er sagt, die Enigmas werden uns nicht bis hierher verfolgen. Aber Sie dürfen diese Bedrohung nicht vergessen.«
Geary seufzte, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. »Es gibt im Moment jede Menge dringlicher Probleme, um die ich mich kümmern muss. Was können die Enigmas jetzt schon tun?«
»Das weiß ich nicht, und Sie wissen es auch nicht. Und genau das sollte Ihnen Sorgen bereiten.«