Zehn

Admiral Lagemann spreizte in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Ich weiß, das ist keine wünschenswerte Einschätzung unserer Lage.«

»Es ist eine ungeheuer wertvolle Einschätzung«, erwiderte Geary. »Ich weiß nicht, ob mir rechtzeitig etwas gelingt, das noch was bewirken könnte, aber zumindest weiß ich jetzt, ich muss es auf jeden Fall versuchen.« Er betrachtete die Entfernung bis zurück zum Midway-System und wusste genau, dass es bis dorthin viel zu weit war, wenn er in Erwägung zog, wie wenig Zeit ihm nur blieb. »Es könnte unmöglich sein. Vor allem weil wir dieses Superschlachtschiff im Schlepptau haben werden.«

»Wir können nicht riskieren, dieses Schiff zu verlieren«, pflichtete Lagemann ihm bei. »Sind Sie schon an Bord gewesen?«

»Nur virtuell. Ich habe ein paar Abteile und einige Korridore gesehen, und natürlich habe ich mitangesehen, wie das Schiff eingenommen wurde.«

»Eine fantastische Operation«, meinte Lagemann. »Die Colonels und Generäle bei mir auf der Mistral sind einhellig der Meinung, dass General Carabali großartige Arbeit geleistet hat. Aber egal, ich war inzwischen persönlich auf diesem Schiff. Während die anderen Mitglieder meiner Beurteilungsgruppe mit den letzten Schlussfolgerungen beschäftigt waren, habe ich mich freiwillig zum Saubermachen gemeldet, weil ich die Gelegenheit nutzen und mir ein Raumschiff ansehen wollte, das von Aliens gebaut worden ist. Außerdem kann es nie schaden, wenn Matrosen und Marines einen Admiral dabei erleben, wie er richtig Hand anlegt, nicht wahr?« Nachdenklich hielt er inne. »Sich auf diesem Schiff aufzuhalten, das war für mich wie ein Traum. Es war tatsächlich so ein Gefühl, irgendwie vertraut und doch alles fremd. Ich ging durch einen Korridor und alles um mich herum kam mir völlig normal vor, bis ich dann auf einmal auf irgendetwas stieß, das absolut fremdartig wirkte und dennoch dorthin gehörte. Man macht sich nie Gedanken darüber, wie viele Dinge wir in einer bestimmten standardmäßigen Art und Weise erledigen, weil jeder so vorgeht. Und dann auf einmal bekommt man etwas ganz und gar Fremdartiges vorgesetzt, weil es von Aliens geschaffen wurde, die eine ganz andere Vorstellung davon haben, wie etwas sein sollte.«

Geary nickte. »Das ist genau das, was die Ingenieure im einen Moment begeistert und im nächsten Moment in den Wahnsinn treibt, weil sie nicht dahinterkommen, wie ein bestimmtes Teil funktioniert.«

»Wenn wir es mitnehmen, wer wird es dann steuern? Und wer wird der befehlshabende Offizier sein?«

Darüber hatte Geary sich bislang noch gar keine Gedanken gemacht.

»Sie benötigen zumindest einen Captain«, machte Lagemann ihm klar. »Vielleicht sogar einen Admiral, wenn sich einer freiwillig meldet.«

»Wo soll ich einen Admiral finden, der dumm genug ist, sich für so etwas freiwillig zu melden?«, gab Geary lächelnd zurück. »Das wird ein verdammt harter Job werden. Die Lebenserhaltungssysteme spinnen, weil wir das Schiff so stark beschädigt haben. Zu essen gibt es nur Gefechtsrationen, und sämtliche Einrichtung ist nicht auf unsere Körpermaße abgestimmt.«

»Klingt ja regelrecht himmlisch«, sagte Lagemann.

»Kann irgendwer auf der Mistral die Dinge im Auge behalten, wenn Sie sich auf dem Superschlachtschiff aufhalten?« Lagemann hatte sich in den Reihen der ehemaligen Gefangenen als zuverlässige Informationsquelle und als geduldiger Zeitgenosse erwiesen, während andere außer sich gewesen waren, als sie feststellen mussten, dass sie beim Schicksal der Allianz-Flotte und der Allianz selbst kein Wörtchen mitzureden hatten.

»Admiral Meloch«, antwortete er. »Angela hat eine ruhige Hand und bewahrt einen kühlen Kopf. Oder General Ezeigwe. Er gehört zu den Aerospace-Verteidigungsstreitkräften, aber drehen Sie ihm daraus keinen Strick.«

»Werde ich nicht machen.« Geary überlegte nur einen Moment lang, dann verspürte er ein Drängen, dass er nach der von Lagemann überbrachten Einschätzung der Situation schnell zur Tat schreiten sollte. »Also gut, betrachten Sie sich als Befehlshaber auf das Superschlachtschiff versetzt. Stimmen Sie sich mit dem Commander der Marines vor Ort und dem leitenden Offizier der Ingenieure an Bord des Schiffs ab. Ich werde General Carabali und Captain Smythe informieren.«

Lagemann stand auf und lächelte begeistert. »Es wird mir guttun, endlich wieder für etwas verantwortlich zu sein. Wissen Sie zufällig, wann das nächste Shuttle von hier zum Superschlachtschiff fliegt?«

»Wir werden bestimmt in Kürze etwas arrangieren können.«

»Sagen Sie, hat das Superschlachtschiff schon einen eigenen Namen? Irgendetwas, das nicht so umständlich klingt wie ›das eroberte Kik-Superschlachtschiff‹?«

»Darüber hatte ich mir bislang auch noch keine Gedanken gemacht. Ich werde Ihnen Bescheid geben, sobald ich etwas habe.«

»Großartig. Bei allem nötigen Respekt, Admiral, aber ich habe erfahren, dass die Tochter eines Mannes, mit dem ich gedient hatte, Offizierin auf der Dauntless ist. Bevor ich mit einem Shuttle zum… ›eKSss‹ zurückfliege, würde ich sie gern aufsuchen und ihr sagen…« Auf einmal wurde Lagemann ernst. »Ich würde sie gern wissen lassen, wie ihr Vater gestorben ist. So etwas möchte ich lieber persönlich erledigen.«

Nachdem Lagemann gegangen war, saß Geary eine Weile da und versuchte zu entscheiden, was er tun sollte. Ein Gedanke wog dabei schwerer als alles andere: Er konnte unmöglich noch zeitig nach Pele oder Midway zurückkehren, solange die Spinnenwölfe sich nicht damit einverstanden erklärten, dass er ihr Territorium durchqueren durfte, von dem er nur hoffen konnte, dass es sich weit genug erstreckte, um auf dem Weg zurück in das von Menschen kontrollierte Gebiet möglichst wenige fremde Systeme durchfliegen zu müssen. Also war es notwendig, mit denjenigen zu reden, die bislang versucht hatten, mit den Spinnenwölfen zu kommunizieren.

Er rief Rione, die sich in ihrem Quartier eine Reihe von Piktogrammen ansah.

»Sie sollten sich doch ausruhen, Madam Gesandte.«

»Sie etwa nicht? Und seit wann sind Sie der Meinung, ich würde Ihre Befehle befolgen?« Sie sah noch immer übermüdet aus und schien nicht in der Stimmung für ein harmloses Wortgeplänkel zu sein.

»Ich weiß, Sie haben mit den Spinnenwölfen darüber gesprochen, dass sie uns die Durchquerung ihres Territoriums gestatten sollen, damit wir auf dem Weg nach Hause zurückkehren können«, erklärte er ohne weitere Vorrede. »Das ist nun zu unserer höchsten Priorität geworden. Wir müssen schnellstens in die Nähe von Pele oder Midway gelangen.«

Rione musterte ihn kritisch, dann nickte sie. »Die Enigmas?«

»Ja, höchstwahrscheinlich.«

»Verstehe. Darauf hätte ich auch von selbst kommen können. General Charban und ich werden uns sofort an die Arbeit machen. Ach, Sie oder irgendwer sonst hatte die Frage gestellt, wie die Spinnenwölfe mit ihren Klauen kleine Objekte handhaben können. Mittlerweile wissen wir, dass sich in jeder Klaue kleine… wurmartige Tentakel befinden, die für feinmotorische Aufgaben ausgefahren werden können.«

»Kleine wurmartige Tentakel? In jeder Klaue?«

Seine Reaktion musste sehr verräterisch gewesen sein, da Rione ihn schief angrinste. »Ich weiß. Kann es in irgendeiner Weise noch abscheulicher werden, als es ohnehin schon ist? Das ist eine Sache, die wir überwinden müssen. Apropos, ich empfehle Ihnen, unbedingt mit Dr. Setin und Dr. Shwartz Kontakt aufzunehmen. Sie haben eine faszinierende Theorie über die Spinnenwölfe entwickelt, die Sie sicher gern hören würden.«

»Okay, danke.« Er stellte eine Verbindung zur Mistral her, wo sich sofort ein schuldbewusst dreinblickender Dr. Setin meldete.

»Admiral! Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja, das können Sie.« Geary musterte aufmerksam den Experten für nichtmenschliche intelligente Spezies und versuchte dahinterzukommen, wieso er so wirkte wie ein Student, den man bei der Abschlussprüfung beim Pfuschen ertappt hatte. »Sind Sie beschäftigt, Doctor?«

»Ja, sehr, Admiral«, platzte Setin heraus. »Es ist so wichtig, dass wir der Meinung waren, uns keine Pause gönnen zu können. Ich wusste, Sie würden das verstehen.«

Und deshalb haben Sie mir gar nicht erst etwas davon gesagt? »Die Gesandte Rione sprach davon, Sie und Dr. Shwartz hätten eine Theorie über die Spinnenwölfe entwickelt.«

»Oh, richtig. Aber wir befinden uns noch nicht in einer Phase, in der wir…«

Dr. Shwartz erweiterte den Ausschnitt des Komm-Schirms, sodass Geary sie ebenfalls sehen konnte. Sie machte einen erschöpften, aber auch erfreuten Eindruck. »Ich finde, wir sollten es dem Admiral sagen. Es ist mehr ein Gefühl, ein Instinkt, aber noch nichts wissenschaftlich Greifbares. Wir können uns mit den Worten und Sätzen der Spinnenwölfe befassen, bis alle bekannten Sterne erloschen und neue entstanden sind, und trotzdem werden wir keine Gewissheit bekommen. Was ich bei diesen Wesen fühle — und Dr. Setin stimmt mit mir überein, dass es durchaus möglich sein könnte — ist, dass sie in Mustern oder Strukturen denken.«

»Muster? Strukturen?«

»Ja. General Charban und Gesandte Rione und auch wir alle versuchen, über spezifische Dinge zu reden. Ich brauchte einige Zeit, bis mir klar wurde, dass diese Aliens immer über Verbindungen zwischen Dingen reden. Sie und ich, wir sehen einen Wald, der aus einzelnen Bäumen besteht. Sie dagegen sehen den Wald an sich als die primäre Sache.« Sie hielt inne und verzog unzufrieden den Mund. »Vielleicht ist das nicht der richtige Vergleich, weil sie Begriffe benutzen, die sich auf ein Gleichgewicht der Kräfte zu beziehen scheinen. Zum Beispiel Spinnennetze. Deshalb kam ich auf diesen Gedanken. Unsere akademische Voreingenommenheit verlangt von uns die Annahme, selbst wenn etwas wie eine Spinne aussieht, kann es eigentlich keine Spinne sein. Es muss zerlegt und analysiert werden, um herauszufinden, was es in Wahrheit ist. Aber was, wenn die Spinnenwölfe sich tatsächlich aus den Wesen entwickelt haben, an die sie uns erinnern? Irgendwelche Spinnenwesen. Wesen, die Netze spinnen, durch die alles zusammengehalten wird, alle Spannungen und Kräfte im Gleichgewicht, ein Bild der Schönheit und Stabilität. Stellen Sie sich eine Spezies vor, die alles unter diesem Gesichtspunkt betrachtet.«

Geary runzelte die Stirn und lehnte sich nach hinten. »So wie ihre Schiffsformationen. Nicht bloß funktional, sondern auch schön anzusehen. Und wenn sie von etwas abstammen, das Netze spinnen konnte, dann besitzen sie einen natürlichen Instinkt für die Ingenieurskunst, die von uns Menschen voller Ehrfurcht betrachtet wird.«

»Ja. Etwas, das grundlegend anders denkt als wir, aber immer noch auf eine Weise, die wir begreifen können.«

»Menschen können Muster sehen«, wandte Geary ein. »So was ist uns nicht fremd.«

»Das können wir«, meldete sich Dr. Setin zu Wort. »Aber das ist auch nicht die Voreingenommenheit, von der wir sprachen. Dadurch bin ich erst auf den Gedanken gekommen, die Überlegungen von Dr. Shwartz als so faszinierend anzusehen, weil Menschen nicht instinktiv in Mustern denken. Wir denken mehr im Sinne von Gegensätzen. Schwarz und weiß, gut und böse, Yin und Yang, These und Antithese, Ja und Nein, rechts und links, Freund und Feind. Für uns zählen die Gegensätze, und sobald etwas nicht das eindeutige Gegenteil von etwas anderem ist, bewerten wir es auf einer Skala zwischen den beiden absoluten Punkten. Etwas ist dann lauwarm. Es ist ein Vielleicht. Es ist in einer Grauzone. Wenn wir unseren Verstand richtig anstrengen, dann erkennen wir Muster und Strukturen, aber das ist eben nicht unsere natürliche Art, etwas zu betrachten.«

Darüber musste er erst noch eine Weile nachdenken, da die Konsequenzen aus dieser Theorie erst langsam deutlich wurden. Schließlich erwiderte er: »Dann sehen uns diese Aliens weder als Verbündete noch als Feinde, sondern wir sind Teil eines Musters.«

»Das glauben wir jedenfalls«, antwortete Dr. Shwartz. »Ein Satz, den sie uns übermittelt hatten, hat mich nachdenklich werden lassen. Er schien zu besagen: ›Das Bild ist verändert, aber geblieben.‹ Dann dachte ich: ›Was ist, wenn es nicht Bild, sondern Muster heißt?‹ Unsere Ankunft hat das Muster verändert, aber es ist nicht verschwunden, sondern nur anders als zuvor. Und dann sagten die Spinnenwölfe: ›Gemeinsam halten wir das Bild.‹ Nun, wenn das so viel heißt wie ›Gemeinsam halten wir das Muster‹, dann erklärt sich dadurch, was sie von uns erwarten. Ich glaube, wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass unsere Rolle in diesem Muster ihrer Ansicht nach die eines weiteren Ankers ist, damit das Muster stabil bleiben kann, durch das sie ihr Universum betrachten.«

»Sie glauben, diese Wesen sehen die Menschheit als eine stabilisierende Kraft an?«, fragte Geary.

Die beiden Ärzte zögerten und sahen sich kurz an. »Das klingt eigenartig, nicht wahr?«, sagte dann Dr. Shwartz. »Wir sehen uns selbst nicht so. Aber wie viele außenstehende Beobachter haben bislang auch ihr Urteil über die Menschheit abgegeben? Vielleicht sehen wir im Vergleich zu den paranoiden Enigmas und den aggressiven Bärkühen für die Spinnenwölfe ganz gut aus.«

»Es gibt da einen Begriff, ein Piktogramm«, ergänzte Dr. Setin, »das sie immer wieder verwenden. Die Software, die sie uns mitgegeben haben, interpretiert es auf unterschiedliche Weise. Mal als Anker, mal als Fundament, als Band oder Kiel oder Pfeiler. Allesamt Dinge, die einer anderen Sache Stabilität verleihen. Dieses Piktogramm taucht auf, wenn sie mit uns reden. Dieses Konzept eines festen, stabilen Ankers scheint für sie von äußerster Wichtigkeit zu sein.«

In diesem Moment begriff er. »Weil sich ohne Anker jedes Muster aufzulösen beginnt.«

»Ja, genau.«

»Ich glaube«, fuhr Dr. Shwartz warnend fort, »dass ihre Vorstellung von einem Anker nicht nur stoffliche Objekte betrifft, sondern auch solche, die sich nicht fassen lassen. Also Ideen, Theorien, Philosophien, Mathematik. Das alles trägt etwas zu dem Muster bei, es hilft dem Muster, seine Form zu wahren.«

Wären sie doch bloß nicht so extrem hässlich… »Das klingt, als wenn eine Verständigung zwischen den Spinnenwölfen und uns möglich sein sollte. Zumindest in einem Maß, dass wir in Frieden koexistieren können und vielleicht ein paar Ideen austauschen werden.«

»Ja, das glaube ich, Admiral.« Sie machte eine Geste, die ihr Unbehagen ausdrückte. »Selbstverständlich ist das alles noch nicht mehr als eine Theorie. Es ist nicht immer klar, wie sie reagieren werden, wenn wir etwas zu sagen versuchen. Und ihnen ihre Gefühle anzusehen, ist… eine ziemliche Herausforderung.«

»Wir konnten leichte Farbveränderungen feststellen«, erklärte Dr. Setin. »Wir haben sie bei ihnen an Kopf und Körper beobachten können, aber wir wissen natürlich nicht, welcher Farbton was bedeutet. Womöglich gibt es noch andere Hinweise auf ihre Emotionen, zum Beispiel Düfte oder Hormonemissionen. Aber da wir nur auf Distanz kommunizieren und uns nie in einem Raum mit ihnen aufhalten, lässt sich dazu natürlich nichts sagen.«

»Ich… verstehe.« Wie mochten die Spinnenwölfe wohl riechen? Er war sich nicht mal sicher, ob er das überhaupt wissen wollte. »Haben sie sich zu dem Schiff geäußert, das von uns erobert wurde?«

»Das Schiff?« Beiden schien das Thema unbehaglich zu sein. »Darüber haben wir nicht viel geredet…«, sagte Dr. Setin.

»Wieso nicht? Sind die Spinnenwölfe darüber verärgert?«

»Nein, es ist…« Dr. Setin senkte den Blick. »Der Angriff. Wir sahen die… die Folgen. So viele, so schrecklich viele…«

Geary begriff, um was es hier ging. »Die Bärkühe, die wir töten mussten. Ich weiß, das ist nicht so leicht zu verarbeiten. Das haben wir nicht aus freien Stücken gemacht. Sie haben uns gejagt, sie sind uns hierher gefolgt und haben uns angegriffen. Und sie haben sich geweigert zu kapitulieren.«

»Aber wenn man auf eine völlig fremde Spezies trifft und sie einfach so…«

»Haben Sie sich auch so viele Gedanken über die Männer und Frauen gemacht, die gestorben sind, weil die Bärkühe nicht mal mit uns reden wollten?« Das war ihm schroffer als beabsichtigt über die Lippen gekommen. »Tut mir leid. Aber so traurig das auch ist, die Bärkühe haben weniger Mitgefühl mit ihresgleichen gezeigt als wir. Das ist ein Unterschied zwischen unseren Spezies, der mir keine andere Wahl ließ. Wenn Sie glauben, dass ich darüber erfreut bin, dann täuschen Sie sich.«

»Das wissen wir, Admiral«, beteuerte Dr. Shwartz. »Wir bedauern, dass es so kommen musste. Und das ist keine Kritik an Ihrem Handeln.«

Dr. Setin machte nicht den Eindruck, dass er diese Meinung hundertprozentig teilte, aber zumindest war er klug genug, den Mund zu halten.

»Was ist mit den sechs lebenden Bärkühen, Admiral?«, erkundigte sich Dr. Shwartz. »Wir bekommen immer zur Antwort, dass es sich um eine Verschlusssache handelt.«

»Soweit wir das beurteilen können, erholen sie sich zwar, aber sie liegen nach wie vor im Koma«, sagte Geary. »Sie sind völlig isoliert von jeglichem menschlichen Kontakt, um zu verhindern, dass sie beim Erwachen in Panik geraten. Mehr weiß ich dazu momentan auch nicht.«

Nachdem das Gespräch beendet war, saß Geary eine Weile da und starrte auf das Sternendisplay. Er überlegte, dass er vielleicht versuchen sollte, sich eine Weile auszuruhen. Oder irgendetwas einfach nur zu tun, um seinen Spaß zu haben. Er könnte ein Buch le—

Der Summer seines Komms ertönte.

Flottenarzt Dr. Nasr sah aus, als hätte er seit Tagen kein Auge mehr zugekriegt. Vermutlich war das auch der Fall, obwohl Geary allen befohlen hatte, einen Ruhetag einzulegen. Aber Ärzte waren schon immer der Meinung gewesen, über der militärischen Disziplin zu stehen, die allen außer ihnen sagte, was zu tun und zu lassen war. Sie machten auch keinen Hehl daraus, dass sie ihren hippokratischen Eid für wichtiger hielten als die Regeln und Gesetze, denen sich andere Offiziere unterordnen mussten. »Sie hatten mir eine Nachricht hinterlassen, Admiral?«

Tatsächlich? Wann war denn das gewesen? Dann erinnerte er sich doch wieder. Die Nachricht war im Zwischenspeicher des Komm-Systems der Dauntless gelandet und hatte übermittelt werden sollen, als die Flotte vor Tagen den Sprungraum verlassen hatte. Weder er noch der Arzt hatten bislang Zeit gefunden, sich um diese Nachricht zu kümmern. »Es geht um einen Offizier der Flotte, Commander Benan.«

»Benan?« Nasrs Blick verriet, dass er sein Gedächtnis durchforstete. »Wurde er bei der Schlacht verwundet?«

»Nein. Es geht um die Gründe für seine Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen, dass er aus dem Gefangenenlager bei Dunai befreit worden ist.«

Nasr seufzte. »Admiral, ich bewundere es wirklich, wie besorgt Sie um jeden Ihrer Offiziere sind, aber im Moment haben wir alle Hände voll zu tun, um die Verwundeten zu versorgen.«

»Doctor«, sagte Geary in einem unbewussten Tonfall, der den Arzt argwöhnisch dreinschauen ließ, »was wissen Sie über mentale Blockaden?«

Der Mann starrte Geary sekundenlang schweigend an. »Nicht viel.«

»Wissen Sie, ob sich die Art der Blockaden in den letzten hundert Jahren maßgeblich verändert hat?«

Wieder schickte der Arzt eine lange Pause voraus, ehe er eine zunehmend finstere Miene aufsetzte und schließlich den Kopf schüttelte. »Nicht in einer Weise, die etwas ausmachen würde.«

»Aber sie werden heutzutage eingesetzt«, sagte Geary und machte daraus eine Feststellung.

»Sie wissen davon, Admiral?«

»Ich weiß davon. Bis vor Kurzem war mir davon allerdings noch nichts bekannt.«

Der Arzt schloss für einen Moment die Augen, dann schaute er wieder Geary an. »Offiziell werden keine Blockaden eingesetzt, nicht einmal für die höchsten Geheimhaltungsstufen. Ich könnte darüber mit niemandem sonst reden, aber Sie sind der Flottenbefehlshaber. Ich habe keine Blockade. Lieber hätte ich den Dienst quittiert, anstatt mich darauf einzulassen. Aber ich habe einen Eid abgelegt, dass ich die Sicherheitsprotokolle beachte.«

»Commander Benan konnte auch nur mit mir darüber reden, weil ich der Flottenbefehlshaber bin.«

»Commander Benan? Warum sollte ein Offizier wie er mit Ihnen… er hat eine Blockade?«

»Ja.« Geary überlegte, was er weiter dazu sagen konnte und durfte. »Durch einen puren Zufall habe ich all die Voraussetzungen erfüllt, unter denen er mit mir darüber reden konnte.«

»Mir konnte er es nicht sagen.« Der Arzt schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, Wut prägte seine Gesichtszüge. »Verdammt! Wissen Sie eigentlich, Admiral, dass Sie bereits gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen, wenn Sie mit mir über einen speziellen Fall einer mentalen Blockade reden?«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Sicherheitsvorschriften Sie daran hindern zu erfahren, was mit einem Patienten nicht stimmt? Einem Patienten, der ein Offizier dieser Flotte ist?«

»Nicht einmal das darf ich Ihnen sagen!« Geary hatte sich daran gewöhnt, dass Dr. Nasr sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, doch jetzt machte er keinen Hehl aus seiner Verärgerung. »In dieser Flotte könnte es ein oder zwei Ärzte geben, die sich mit der Anwendung von Blockaden auskennen, aber ich weiß nicht, wer diese Leute sind.«

»Die Vorfahren mögen uns beistehen«, seufzte Geary. »Bedeutet das wenigstens, dass Blockaden äußerst selten eingesetzt werden?«

»Soweit ich weiß.« Der Arzt antwortete voller Ironie, während er eine Anfrage in seine Konsole eintippte. »Auf jeden Fall erklärt das die Probleme, die wir bei Commander Benan erleben. Persönlichkeitsveränderungen, Wutausbrüche, gelegentliche Verwirrung.«

»Er hatte eine tadellose Personalakte, als er von den Syndiks gefangen genommen wurde«, betonte Geary.

»Tatsächlich?« Nasr öffnete eine Akte und überflog sie. »Verstehe… ja… Er meldete sich auf seinem neuen Schiff, und drei Monate später geriet er in Gefangenschaft. Davor zwei Wochen Urlaub, dazu gut drei Wochen im Transit, ehe er sein Schiff erreicht hatte. Insgesamt etwas mehr als vier Monate.« Er hielt inne und legte die Stirn in Falten. »Ja, genau. Sechs Monate. Das ist die übliche Zeit, ehe erste Symptome der Blockade auftreten. Commander Benan wurde gefangen genommen, ehe sich die Symptome zeigen konnten.«

Wäre er nicht in Gefangenschaft geraten, hätte sich sein Verhalten an Bord des Schiffs zusehends verschlechtert, und er hätte gegen die Disziplin und die allgemeine Ordnung verstoßen, und das alles ohne erkennbaren Grund, bis man ihn schließlich aus dem Flottendienst entlassen hätte.

»Ich habe da etwas in Erinnerung, was Selbstmorde angeht«, sagte Geary zögerlich. »Als ich vor hundert Jahren das Training für den Fall von Gefangennahme und Verhör durchlief, da erfuhren wir nicht viel über Blockaden, aber es war die Rede von Selbstmorden, als davon gesprochen wurde, warum Blockaden nicht eingesetzt wurden.«

»Ja.« Der Arzt verzog angewidert den Mund. »Das kommt bei blockierten Personen häufig vor. Sie leiden unter den Symptomen, sie wissen, was mit ihnen nicht stimmt, aber sie sind nicht in der Lage, mit irgendwem darüber zu reden. Und jeder Versuch einer Behandlung schlägt fehl, weil das behandelnde Personal den wahren Grund nicht kennt…« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Eine impulsive Entscheidung. Der einzige Ausweg. Die einzige Lösung, um Frieden zu finden. Das ist alles. Ich bin im Begriff, eine Aussage zu machen, die mir große Probleme mit der Sicherheit bescheren würde, Admiral.«

»Reden Sie, ich werde Sie verteidigen.«

»Danke. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich über Blockaden nachgedacht habe, ist mir bewusst geworden, dass es tatsächlich ihre Aufgabe ist, auf die älteste und sicherste Methode Geheimnisse unter Verschluss zu halten. Die Blockaden treiben die betroffene Person letztlich in den Selbstmord, und sobald die Person tot ist, kann sie niemandem mehr ihr Geheimnis mitteilen.«

Tote reden nicht. Wie alt war dieses Sprichwort wohl? Geary atmete leise schnaubend aus und versuchte, sich zu beruhigen. »Warum tötet man diese Person nicht einfach?«

»Aber, Admiral, wir sind doch zivilisiert. Wir würden doch nicht einfach so jemanden töten!« Diesmal trieften die Worte des Arztes vor Sarkasmus.

»Ich verstehe schon, warum sie das so sehr unter Verschluss halten«, fuhr Geary fort. »Wenn mehr als nur eine Hand voll Leute davon wüsste, dass die Allianz Blockaden einsetzt, würden die Fakten doch irgendwie an die Öffentlichkeit dringen, und die Reaktion darauf würde verdammt heftig ausfallen. Wie oft greifen die Syndiks zu mentalen Blockaden?«

»Überhaupt nicht«, sagte Dr. Nasr und schüttelte den Kopf. »Ich hätte davon erfahren, wenn sie es tun würden. Die Syndiks sind nicht so zivilisiert wie wir, und allem Anschein nach erschießen sie jeden, der zufälligerweise etwas weiß, was er nicht wissen sollte. Wenn man nur kaltblütig genug an die Sache herangeht, ist das die viel effizientere Lösung, um ein Problem aus der Welt zu schaffen.«

Was sollte er dazu noch sagen? »Danke für Ihre Auskünfte, Doctor. Nach allem, was Sie jetzt wissen — können Sie Commander Benan nun gezielter und besser behandeln?«

»Ich kann ein paar Dinge ausprobieren, aber ich bezweifle, dass sie viel nützen werden. Die Blockade muss aufgehoben werden, Admiral. Danach können wir versuchen, den angerichteten Schaden zu beheben.«

»Kann ich Ihnen befehlen, die Blockade aufzuheben?«

»Nein, Admiral«, antwortete Nasr und machte eine hilflose Geste. »Selbst wenn Sie das könnten, wüsste ich nicht, was ich tun soll. In der Theorie weiß ich zwar in groben Zügen, wie man ein Gehirn mit einer Blockade versieht, aber ich kann das nicht in die Praxis umsetzen. Ich hätte eine solche Ausbildung auch niemals mitgemacht. Das heißt, dass ich erst recht keine Ahnung habe, wie man die Blockade wieder aufhebt.«

»Dann muss Commander Benan warten, bis wir wieder zu Hause sind, bevor eine wirksame Behandlung begonnen werden kann.«

»Wenn er solange durchhält. Und wenn Sie nach unserer Rückkehr die Zustimmung erhalten, die Blockade aufheben zu lassen. Diejenigen, die das können, werden es auch nur machen, wenn sie auf dem ordnungsgemäßen Weg den richtigen Befehl dafür erhalten.« Dr. Nasr schüttelte erneut den Kopf. »Es tut mir leid, Admiral.«

»Sie trifft überhaupt keine Schuld.«

»Wenn es sonst nichts mehr gibt… ich werde in einer Viertelstunde im OP erwartet.«

»Bekommen Sie eigentlich genug Schlaf?«

Dr. Nasr hielt kurz inne. »Meine Patienten brauchen mich, Admiral. Wenn Sie mich dann entschuldigen würden, ich muss…« Er hielt inne und sah zur Seite, wo soeben eine Nachricht für ihn einging. »Eine Bärkuh hat das Bewusstsein wiedererlangt, Admiral. Sie ist jetzt tot.«

»Tot.« Geary bemerkte einen bitteren Geschmack im Mund. »Ich nehme an, in dem Moment, als sie erkannt hat, dass sie sich in Gefangenschaft befindet.«

»Ja. Ihr gesamter Metabolismus hat sich einfach abgeschaltet. Wie, das weiß ich nicht. Aber angesichts der kompletten Isolation, in der sie sich befinden, war es bereits zu spät, um noch etwas zu unternehmen.«

»Ich hatte gehofft, eine von ihnen würde erkennen, dass wir ihr geholfen haben, um ihr das Leben zu retten, und sie würde verstehen, dass wir ihr nichts antun wollen.«

Der Arzt zögerte abermals, dann sagte er mit Nachdruck: »Admiral, diese Kreaturen hier, die…«

»…die Spinnenwölfe.«

»Ja. Haben Sie mal die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass sie womöglich so essen wie die Spinnen, mit denen wir vertraut sind?«

»Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben, um genau darüber nicht nachzudenken.«

»Das ist verständlich.« Dr. Nasr zog einen Mundwinkel nach unten. »Manche Spinnen fressen ihre Beute nicht sofort auf, sondern lähmen sie oder wickeln sie in einen Kokon, damit sie sich nicht mehr bewegen kann. Dann wenden sie sich vorläufig von ihr ab, weil sie sie jetzt essen können, wann ihnen danach ist. Sie wollen nicht, dass ihrer Beute etwas zustößt, sie soll vielmehr leben und für den Verzehr frisch gehalten werden.«

Im ersten Moment verstand Geary nicht, aber nachdem ihm die Worte des Arztes einen Augenblick lang durch den Kopf gegangen waren, begann er zu begreifen. »Es könnte sein, dass die Bärkühe den Spinnenwölfen schon einmal begegnet sind und sie dabei herausgefunden haben, dass die ihre Beute am liebsten lebend essen und dass sie die Bärkühe als eine solche Beute ansehen, nicht wahr?«

»Wir müssen eine solche Möglichkeit in Erwägung ziehen«, antwortete Dr. Nasr. »Wir wissen es zwar nicht mit Gewissheit, aber genauso wenig wissen wir, dass die Bärkühe noch nie mit derartigen Jägern zu tun gehabt haben, bevor es ihnen gelungen ist, die Herrschaft über ihre Welt zu erlangen. Wir können nichts darüber sagen, ob sie mit einer Spezies zusammengetroffen sind, die vom Geschmack von Bärkühen angetan ist. Menschen betrachten sich selbst üblicherweise nicht als Beute, Admiral. Aber wenn wir den Eindruck bekommen, dass wir für einen anderen nichts weiter darstellen als die nächste Mahlzeit, dann ist das ein wirklich entsetzliches Gefühl. Zuerst habe ich mich gefragt, warum eine intelligente Spezies die Fähigkeit entwickelt, alle Lebensfunktionen einfach abzuschalten und damit zu sterben. Aber dann kam mir der Gedanke, dass die Bärkühe schon immer von irgendwem als Beute angesehen worden sind. Es könnte sein, dass ihre Fähigkeit, sich selbst den Tod aufzuzwingen, zur gleichen Zeit entstand, als sie Intelligenz entwickelten. Ich kann mir die körperlichen Schmerzen vorstellen, die ich empfinden würde, wenn jemand mich verspeisen wollte. Aber ich weiß nicht, wie entsetzlich die seelischen Schmerzen sein können, wenn man weiß, dass man soeben aufgefressen wird. Unter solchen Umständen dürfte es sehr angenehm sein zu wissen, dass man diesen Schmerzen ein Ende bereiten kann, wann immer man das will.«

Ein Summer ertönte in Dr. Nasrs Büro, der Mann zuckte daraufhin zusammen. »Meine Operation, Admiral. Ich muss jetzt los.«

»In Ordnung, Doctor. Stellen Sie nur sicher, dass die restlichen fünf Bärkühe weiterhin betäubt bleiben.«

Dr. Nasr hielt inne, kurz bevor er die Verbindung unterbrechen konnte. »Ihnen ist doch klar, dass wir so wenig über ihre Physiologie wissen, dass wir sie mit unseren Beruhigungsmitteln ohne Weiteres töten könnten.«

»Ich verstehe schon, Doctor.« Es ist egal, ob wir etwas unternehmen oder nichts tun, beides kann verkehrt sein. »Aber wenn wir nicht wollen, dass die verbliebenen fünf sich auch noch umbringen oder auf andere Weise ums Leben kommen, sehe ich im Moment keine Alternative zu den Beruhigungsmitteln.«

Nach dem Gespräch saß Geary da und grübelte über die Situation nach. Was sollte er mit den Bärkühen anfangen? Eine als humanitär gedachte Geste hatte sich in die Notwendigkeit verwandelt, sie in einem Zustand zwischen Leben und Tod zu halten, um sie daran zu hindern, dass sie ihnen einfach wegstarben. Wäre es vielleicht humaner, sie einfach sterben zu lassen?

Ihm wurde bewusst, dass er sie nach den Unterhaltungen mit den Wissenschaftlern und dem Arzt wieder als Bärkühe sah, nicht als Kiks. Doch es war egal, welchen Namen er benutzte, die Probleme blieben die Gleichen. Und das Gespräch mit Dr. Nasr über Commander Benan war auch alles andere als erfreulich verlaufen.

Zweifellos hatten sich ein paar wichtige Leute eingeredet, dass in bestimmten Fällen der Einsatz von mentalen Blockaden gerechtfertigt war und dass es sich um eine humane Methode handelte, um Wissen zu handhaben, das zu gefährlich war, um es in die falschen Hände geraten zu lassen. Aber zumindest eine Person, die von Benans Beteiligung an Brass Prince wusste, hatte keine Blockade erhalten und war dadurch in die Lage versetzt worden, Rione mit diesem Wissen zu erpressen. Alles deutete darauf hin, dass es ein sehr hochrangiges Individuum in den Reihen der Flotte oder der Regierung sein musste.

Es war längst an der Zeit, Licht in ein sehr unerfreuliches Dunkel zu bringen. Er konnte sich an Lieutenant Iger wenden, um sich über die angemessenen Sicherheitsvorkehrungen zu informieren, aber der würde ihm zweifellos erklären, dass die darin bestanden, niemandem gegenüber auch nur ein Wort über diese Angelegenheit zu verlieren. Vorausgesetzt, der Geheimdienstoffizier war in dieser Angelegenheit überhaupt auf dem Laufenden. Nein, das würde er gar nicht erst versuchen. »Stell keine Fragen, wenn du nicht die Antworten hören willst«, hatte ein Chief ihm mal gesagt, als er noch ein Ensign gewesen war. Es kam ihm vor, als wären hundert Jahre vergangen, seit er diese Unterhaltung geführt hatte — aber dann machte er sich bewusst, dass sie wirklich hundert Jahre her war. Doch auch eine derartige Zeitspanne reichte nicht, um diesen besonders weisen Ratschlag zu vergessen.

Wenn ich ins Allianz-Gebiet zurückkehre, wird es Veränderungen geben, und Leuten wie Commander Benan wird geholfen werden. Ich werde jeden dazu anhalten, der notwendig ist, um das geschehen zu lassen. Sicherheitsbedenken sind kein Freibrief für Leute in hohen Positionen, um Taktiken zu verheimlichen, zu deren Anwendung sie sich öffentlich niemals bekennen würden.

Am nächsten Morgen legte er einen Zwischenstopp auf der Brücke der Dauntless ein, um den aktuellen Status zu überprüfen. Dabei gab er sich alle Mühe, ausgeruht und gelassen zu erscheinen. Er hätte diese Überprüfung auch von seinem Quartier aus vornehmen können, doch eine Führungspersönlichkeit musste sich immer wieder unters Volk mischen, um zu zeigen, dass sie mit Leib und Seele bei der Sache war.

»Ich hoffe, wir bekommen heute zu hören, dass wir grünes Licht kriegen, um quer durch das von den Spinnenwölfen kontrollierte Gebiet heimkehren zu können«, sagte er zu Tanya.

»Gut«, erwiderte sie. »Aber bevor Sie sich mit ihnen auf irgendwelche Vereinbarungen einlassen, muss Lieutenant Yuon Ihnen noch was sagen.« Desjani deutete auf ihren Gefechtswachhabenden.

Lieutenant Yuon zwinkerte ein paar Mal, straffte ein wenig die Schultern und machte dann eine Geste hin zu seinem Display. »Admiral, Captain Desjani hatte uns angewiesen, die Sprungpunkte in diesem System sehr genau unter die Lupe zu nehmen. An dem Sprungpunkt, durch den wir ins System gekommen sind, gab es nichts festzustellen, was uns nicht bereits bekannt gewesen wäre. Allerdings sind wir an jedem der anderen Sprungpunkte auf etwas gestoßen.«

Auf Gearys Display leuchteten neue, intensiv rote Symbole auf, die auf eine bekannte Gefahr hinwiesen. »Minen?«

»Eine Mine, Admiral. Nur eine einzelne Mine. An jedem Sprungpunkt, versehen mit einer wirklich beeindruckenden Tarntechnologie. Eine richtig große Mine.«

Das ergab doch keinen Sinn. Eine einzige, große Mine? Geary warf Desjani einen verständnislosen Blick zu.

Wieder gab sie Yuon ein Zeichen. »Erstatten Sie Bericht, Lieutenant.«

»Jawohl, Captain. Ich habe die Sensoren angewiesen, alle verfügbaren Daten zu den Minen zu liefern, aber da war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Also habe ich sie das Gebiet rund um die Minen nach Auffälligkeiten scannen lassen, und schließlich sind sie fündig geworden und haben mir eine Raum-Zeit-Verzerrung angezeigt.«

»Eine Raum-Zeit-Verzerrung? Rund um eine Mine? Wie soll das…? Moment mal, eine Raum-Zeit-Verzerrung. Kommt es zu so etwas nicht in der Nähe von Hypernet-Portalen?«

»Sie haben es erkannt«, erwiderte Desjani und deutete Applaus an. »Oder besser gesagt: Lieutenant Yuon hat es erkannt.«

»Diese Minen sind die Hypernet-Portale in Waffenform, Admiral«, redete Yuon eifrig weiter. »Keine Transportfähigkeit, lediglich ein Mittel, um einen verheerenden Energieausstoß zu erzeugen.«

»Was sagen die Waffeningenieure dazu?«

»Wir haben Captain Smythe gefragt«, sagte Desjani. »Seine Leute haben es zunächst für unmöglich gehalten, so etwas in einem Objekt von der Größe einer Mine unterbringen zu können, selbst wenn sie so extrem groß ist. Dann aber mussten sie eingestehen, dass wirklich gute Ingenieure wohl dazu in der Lage sein könnten.«

»Wirklich gute Ingenieure«, wiederholte Geary. »Wie beispielsweise die Spinnenwölfe.«

»Und das«, fuhr sie fort, »ist der Grund, weshalb die Bärkühe nicht einfach in dieses Sternensystem und weiter zum nächsten gesprungen sind. Wenn jemand versucht, einen dieser Sprungpunkte ohne die Erlaubnis der Spinnenwölfe zu benutzen, erwartet ihn ein Feuerwerk. Ich dachte mir, das sollten Sie wissen.«

»Danke. Und Ihnen auch, Lieutenant Yuon. Das war eine beeindruckende Recherche und Analyse.«

Yuon strahlte vor Freude. Lieutenant Castries hob eine Faust, um ihm zu gratulieren.

»Wenn Sie mit diesen Typen verhandeln«, sagte Desjani zu Geary, »dann denken Sie immer daran, dass sie vermutlich immer noch ein Ass mehr im Ärmel haben — ganz zu schweigen davon, dass sie auch noch mehr Ärmel haben als wir. Woher wissen wir, was sie in Wahrheit denken?«

»Die zivilen Experten sind der Meinung, dass die Spinnenwölfe in Mustern denken. Uns fällt dabei wohl eine Rolle zu, die dieses Muster stabil hält.«

Desjani zog skeptisch die Brauen hoch. »Ein stabiles Muster? Im Sinne von… ähm… einfach allem?«

»Ja, im Sinne von allem. Dem Leben, dem Universum.«

»Wie können sie glauben, dass da irgendwas stabil ist? Es gibt nichts Stabiles, was das Leben, das Universum und den ganzen Rest angeht. Alles verändert sich ständig, alles ist im Fluss. Die können nicht glauben, dass irgendein Muster existiert, das sich nie verändert, solange es nur gut genug verankert ist.«

»Nein«, gab Geary zurück. »Sie sprachen davon, dass sich das Muster verändert und trotzdem gleich bleibt. Es kann sich also verändern, trotzdem ist dieses Muster für sie die Realität.«

»Hm«, machte sie unüberhörbar skeptisch. »Ich will ja nicht sagen, dass sie wie die Bärkühe oder wie die Enigmas sind, aber es handelt sich trotzdem um Aliens.«

»Das müssen Sie mir nicht erzählen.«

Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, meldete sich Rione bei Geary, Charban war im Hintergrund zu sehen. »Die Spinnenwölfe sind einverstanden, dass wir ihr Territorium durchfliegen«, verkündete sie und klang ein wenig außer Atem.

»Den lebenden Sternen sei Dank. Wie schnell…«

»Das ist noch nicht alles.« Rione verzog den Mund zu einem triumphierenden Lächeln. »Sie verfügen über ein Hypernet. Sie werden einige ihrer Schiffe zur Verfügung stellen, die uns durch dieses Hypernet in ein System begleiten, das nahe an von Menschen besiedeltes Gebiet heranreicht.«

Geary konnte kaum glauben, dass sie so viel Glück haben sollten. »Das ist ja großartig. Wann…«

»Das ist noch immer nicht alles«, unterbrach Rione ihn erneut. »Sie stellen zwei Bedingungen. Die erste lautet, dass eines ihrer Schiffe mit einer diplomatischen Delegation an Bord uns nach Hause begleitet.«

»Einverstanden«, sagte er ohne zu zögern.

»Ein solches Zugeständnis hätte zur Folge, dass die Spinnenwölfe erfahren, wo genau die Menschen leben, Admiral.«

»Ich vermute, sie haben ohnehin längst eine Vorstellung davon, falls ihre Grenze zu den Enigmas so weit an Pele heranreicht. Vielleicht sind sie nie mit uns in Kontakt gekommen, aber sie müssen Hinweise auf eine andere Spezies bemerkt haben, denen die Enigmas auf dieser Seite gegenüberstanden. Was ist die andere Bedingung?«

»Sie wollen etwas von uns«, sagte Charban.

»Und das wäre?«

»Nun, das ist das Problem. Wir kommen nicht dahinter, was es ist.«

»Aber… irgendeine Information? Wollen sie das Superschlachtschiff, das wir den Bärkühen abgenommen haben?«

»Nein, es ist eindeutig nicht das Superschlachtschiff. Es ist auch keine Information. Es ist ein Objekt. Irgendetwas vermutlich Technisches.«

»Ein Volk aus Ingenieursgenies will von uns etwas Technisches haben?«

»Ja, und sie scheinen es unbedingt haben zu wollen. Das Angebot, ihr Hypernet benutzen zu dürfen, ging bei uns ein, während wir noch versuchten dahinterzukommen, was sie haben wollen. Offenbar haben sie unsere Verwirrung so gedeutet, dass wir einen höheren Preis aushandeln wollten.«

»Das soll mir recht sein. Aber wir wissen trotzdem noch immer nicht, was sie meinen?«

»Nein, Admiral.« Charban wirkte frustrierter als zuvor. »Aus den Piktogrammen und Worten, die sie verwenden, ergibt sich am ehesten der Begriff Universalreparatursubstanz.«

»Universalreparatursubstanz?«, fragte Geary. »Wir besitzen eine Universalreparatursubstanz?«

Charban spreizte hilflos die Hände. »Jedenfalls glauben sie das, und sie wollen diese Substanz von uns haben.«

»Aber wieso glauben sie das? Wie kommen sie auf die Idee, dass wir eine solche Universalreparatursubstanz besitzen?«

»Unsere Kommunikation ist zu eingeschränkt, um darauf eine Antwort von ihnen zu bekommen. So beharrlich und überzeugt, wie sie sind, kann ich nur annehmen, dass sie glauben, wir hätten den Einsatz dieser Universalreparatursubstanz vorgeführt.«

Geary sah sich auf der Brücke um. »Was haben wir, was sich mit dem Begriff beschreiben ließe?«

Alle dachten angestrengt nach, doch niemand hatte irgendeinen Vorschlag.

»Leim?«, fragte Lieutenant Yuon schließlich.

Es war zumindest einen Versuch wert. »Leim?«, leitete Geary die Frage an Charban weiter.

»Nein, Admiral. Daran hatte ich auch gedacht und ihnen eine Tube Klebstoff angeboten, aber sie bestanden weiter darauf, die Universalreparatursubstanz ausgehändigt zu bekommen.«

»Admiral, fragen Sie bei den Ingenieuren nach«, schlug Desjani vor. »Captain Smythe und seine Leute. Wenn irgendeiner darüber etwas weiß, dann einer der Ingenieure der Hilfsschiffe.«

»Wenn einer der Ingenieure etwas über eine Universalreparatursubstanz weiß und mir davon nie ein Wort gesagt hat«, knurrte Geary, »dann wird er das noch bitter bereuen.«

Smythe, dem die Anstrengungen der letzten Tage anzusehen waren, schaute Geary völlig ratlos an. »Universalreparatursubstanz?«

»Genau. Was haben wir, das sich so beschreiben lassen würde?«

»Gar nichts. Das ist das Gleiche wie ein… ein Alleslöser. Es wäre schön, so etwas zu haben, aber niemand hat das jemals erfunden. Obwohl… ein Alleslöser wäre eine schlechte Sache, weil man ihn in kein Behältnis füllen kann, da er ja alles löst und…«

»Captain Smythe«, fiel Geary ihm ins Wort. »Die Spinnenwölfe sind davon überzeugt, dass wir das Zeugs haben.«

»Ich hab’s jedenfalls nicht.«

»Informieren Sie bitte alle Ihre Ingenieure, dass wir diese Universalreparatursubstanz benötigen, und fragen Sie sie, um was es sich dabei ihrer Meinung nach handeln könnte.«

»Wird gemacht, Admiral. Aber ich würde keine allzu großen Erwartungen hegen, dass irgendwer in dieser Flotte Ihnen das geben kann, wonach Sie suchen.«

Geary wartete, bis Smythe die Verbindung beendet hatte, dann schickte er eine Nachricht an alle Schiffe in der Flotte, ob irgendjemand eine Ahnung hatte, was die Aliens wollten.

Anschließend wartete er und wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Mit jeder Sekunde rückte der Vergeltungsschlag der Enigma gegen Midway näher, und er konnte nichts anderes tun als dazusitzen. »Captain Smythe«, wandte er sich schließlich wieder an den Ingenieur. »Haben Sie eigentlich inzwischen einen Weg gefunden, wie wir das Superschlachtschiff von der Stelle kriegen?«

»Ähm… ja, Admiral«, antwortete Smythe, der nur für einen winzigen Moment wegen des plötzlichen Themenwechsels verblüfft zu sein schien. »Wir benutzen die Schlachtschiffe.«

»Schlachtschiffe? Plural?«

»Ja.« Smythes Miene hellte sich auf, da er die Gelegenheit für gekommen sah, über etwas zu reden, was jeder Ingenieur als sexy bezeichnen würde. »Vier Stück. Relentless, Reprisal, Superb und Splendid. Die wurden alle ziemlich übel beschossen, aber die Antriebssysteme sind nach wie vor in guter Verfassung. Wir koppeln sie an das Superschlachtschiff, verbinden die Antriebskontrollen durch eine Steuereinheit miteinander, und dann schleppen sie das Superschlachtschiff nach Hause.«

»Das werden aber vier sehr unglückliche Schlachtschiffe sein«, murmelte Desjani.

»Wir haben sonst nichts, das mit so viel Masse zurechtkommen kann«, konterte Geary. »Außerdem sollen sie das Ding ja auch verteidigen. Da wir jede Waffe an diesem Superschlachtschiff außer Gefecht gesetzt haben, müssen jetzt unsere Schlachtschiffe dafür sorgen, dass niemand es zerstören kann. Gibt es schon eine Antwort auf die Frage nach der Universalreparatursubstanz?«

»Nicht, seit Sie mich das letzte Mal danach gefragt haben«, konterte sie.

»Und die Frage ist jedem Schiff geschickt worden?«

»Ja, Admiral, Sie haben die Frage über die Kommandofrequenz an alle Schiffe rausgeschickt.«

Etwas ging Geary durch den Kopf. »Kommandofrequenz«, sagte er rasch, um den Gedanken nicht zu verlieren.

»Die haben Sie benutzt«, bestätigte Desjani. »Darüber erreichen Sie die Befehlshaber aller Schiffe in der Flotte.«

»Ja… so wie sonst auch.«

Was war das nur? Welche Überlegung versuchte da bloß, ihm zu entgleiten? »Wen werden Sie fragen? Auf den jeweiligen Schiffen, meine ich?«

»Verschiedene Besatzungsmitglieder, würde ich sagen«, antwortete Desjani und zuckte flüchtig mit den Schultern. »Ihre Offiziere vermutlich.«

»Ihre Offiziere. Haben Sie die Offiziere der Dauntless gefragt?«

»Ja, Admiral.« Ihr Tonfall hatte etwas Neugieriges, zugleich aber auch Trotziges. »Wollen Sie auf irgendetwas Spezielles hinaus?«

»Ich bin mir…« Ein alter Witz ging ihm durch den Kopf. Wenn Junioroffiziere nicht weiter wussten, sollten sie ihre Senioroffiziere fragen, weil die ihnen nur zu gern vorschrieben, was sie tun und lassen sollten. »Ich bin ein Idiot.«

Desjani sah ihn fragend an. »War das jetzt rein dienstlich gemeint? Persönlich muss ich nämlich auf das Schärfste widersprechen.«

»Captain, wenn Sie wissen wollen, wie man etwas macht, an wen wenden Sie sich dann? Wer erledigt Dinge, die erledigt werden müssen?«

Ihr verwirrter Gesichtsausdruck wich einem Lächeln. »Die Chiefs.«

»Die Chiefs. Die Seniorrekruten. Warum haben wir keinen von denen gefragt, was sie von dieser Universalreparatursubstanz halten?«

»Weil wir beide Idioten sind. Da hätten wir als Erstes nachfragen sollen.« Desjani aktivierte das interne Komm. »Hier spricht der Captain. Alle Chief Petty Officers begeben sich sofort in die Chiefsmesse. Geben Sie mir Bescheid, wenn alle vollzählig versammelt sind.«

Gut fünf Minuten später konnte Desjani die Frage an ihre versammelten Seniorrekruten weitergeben. »Jetzt heißt es abwarten, Admiral.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, da tauchte das Bild von Master Chief Gioninni auf der Brücke auf. »Captain? Wollen Sie tatsächlich wissen, was eine Universalreparatursubstanz sein könnte?«

»Ich nehme an, Sie können was dazu sagen?«, erwiderte Desjani.

»Ja, Captain. Sie hatten kaum Ihre Frage gestellt, da haben Senior Chief Tarrini und ich uns angesehen, und sie hat im gleichen Moment wie ich gesagt: ›Klebeband!‹«

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