Die Schlachtkreuzer und der Rest der Verfolgergruppe hatten mittlerweile die sechs Spinnenwolf-Schiffe überholt, sodass die sich jetzt zwischen ihnen und der anderen Hälfte der Allianz-Flotte befanden. Der Abstand zwischen beiden Teilen der Flotte wurde beständig größer, da Schlachtkreuzer, Leichte Kreuzer und Zerstörer schneller beschleunigen konnten als die schwerfälligeren Schlachtschiffe, Hilfsschiffe und Sturmtransporter. Geary behielt den Statusbericht der vier Schlachtschiffe im Auge, die das ehemalige Superschlachtschiff der Bärkühe abschleppten. Die Anzeigen verrieten, welche Belastung die Relentless, die Reprisal, die Superb und die Splendid aushalten mussten, während sie sich bemühten, gemeinsam mit der Invincible zu beschleunigen. Wenn man genug Zeit hatte, genügte schon ein kleiner Schub, um ein träges Objekt wie das Superschlachtschiff auf Geschwindigkeit zu bringen. Doch so viel Zeit konnten sie sich nicht nehmen, stattdessen mussten sie alles einsetzen, was ihre Antriebseinheiten hergaben.
Alle Statusberichte wiesen auf Probleme hin. Zwar nicht einmal annähernd so massiv wie bei Honor, da die Schiffe der Verfolgergruppe Steuerdüsen und Antriebseinheiten jedoch mit maximaler Leistung hatten arbeiten lassen, wurden nun bei etlichen Schiffen Schäden gemeldet. Die Implacable und die Intemperate hatten je eine Hauptantriebseinheit verloren, die Ingenieure arbeiteten bereits hektisch daran, sie zu reparieren, während bei der Valiant die Hälfte der Systeme für die Steuerdüsen ausgefallen war, sodass die drei Schlachtkreuzer hinter den ihnen in der Formation zugewiesenen Plätzen herhinkten. Begleitet wurden sie von etlichen Leichten Kreuzern und zehn Zerstörern, bei denen es ebenfalls zu teilweisen Ausfällen in den Antriebssystemen gekommen war. Eben setzte Geary mit Erleichterung zu dem Gedanken an, dass es wenigstens keine Totalausfälle gegeben hatte, doch dann unterbrach er sich und dachte an etwas anderes. Schließlich wollte er das Glück nicht herausfordern.
Die Dragon und die Victorious konnten zwar ihren Platz in der Formation halten, dafür hatten sie mit fluktuierenden Schildausfällen zu kämpfen, während auf Dutzenden Schiffen einzelne Höllenspeer-Batterien versagten.
Auch die Hauptformation unter Captain Armus hatte mit diversen Problemen zu kämpfen, aber dank der Hilfsschiffe war es möglich, diese Ausfälle schnell zu beheben. Wie von Captain Smythe vorausgesagt, fehlte es nicht mehr nur der Witch, sondern auch der Jinn und der Goblin an jenen wichtigen Rohstoffen, die erforderlich waren, um Ersatzteile herzustellen. Die Bestände der Cyclops waren so gering, dass es nur noch eine Frage von Stunden sein konnte, ehe sie den gleichen Zustand melden würde. Die Ingenieure der Hilfsschiffe halfen den Besatzungen der anderen Schiffe bei den Reparaturen, aber das war auch das Einzige, was sie im Augenblick für sie tun konnten.
»Es könnte schlimmer aussehen«, meinte Geary. »Diese Formation hat bis zum Sprung noch ein paar Stunden Zeit, um Defekte zu beheben, und dann ist während des Aufenthalts im Sprungraum genug Gelegenheit, um interne Arbeiten durchzuführen.«
»Und die Kiks jagen uns noch immer nicht«, fügte Desjani an.
Gearys flüchtiges Lächeln verschwand schnell wieder, als er sich den Reparaturstatus seiner Schiffe noch einmal genauer ansah. Ja, sie hatten noch Zeit, um Arbeiten auszuführen, doch ob sie auch die nötigen Ersatzteile zur Verfügung haben würden, stand auf einem anderen Blatt. »Ich hoffe, uns geht nicht in nächster Zeit auch noch das Klebeband aus. Davon werden wir jede Menge benötigen.«
Er hatte sich immer wieder gefragt, ob noch irgendetwas bei Pele auftauchen würde, während seine Flotte das System durchquerte. Womöglich noch ein paar Enigma-Schiffe, die sich beeilten, um sich der Hauptstreitmacht anzuschließen. Aber kaum waren die Enigmas in den Sprungraum übergewechselt, gab es im System nur noch die beiden Unterformationen der Allianz-Flotte sowie die Schiffe der Spinnenwölfe. Die Hauptformation befand sich deutlich abgeschlagen hinter der Verfolgergruppe, als die Schlachtkreuzer und ihre Begleitschiffe sich zu drehen begannen, um auf 0,1 Licht abzubremsen, damit sie in den Sprungraum überwechseln konnten.
Geary spürte die Kräfte, die auf die Dauntless einwirkten, als die Hauptantriebseinheiten auf volle Leistung hochgefahren wurden, um das Schiff langsamer werden zu lassen. Tanya hatte für dieses Manöver die Sicherheitsmargen auf das absolute Minimum zusammengestrichen, um die Zeit bis zum Sprung noch um ein paar Minuten zu reduzieren. Irgendwann würde er schon dahinterkommen, wie er herausfinden konnte, was sie dabei den Antriebseinheiten, der Schiffsstruktur und den Trägheitsdämpfern abverlangte.
Andererseits trieb sie es dabei praktisch nie zu weit. Sie nutzte mit den Schiffen die vertretbaren Margen immer nur fast, aber nie restlos aus. Üblicherweise jedenfalls.
»Wir haben es fast«, stellte Desjani fest, die lauter reden musste, um das gequälte Aufheulen der Trägheitsdämpfer zu übertönen, die darum bemüht waren, die Schiffe und ihre Besatzungen davor zu bewahren, von den auf sie einwirkenden Kräften zermalmt zu werden. »Die Spinnenwölfe sind immer noch exakt zehn Lichtminuten hinter uns.«
»Sie wollen, dass wir als Erste in das hineinspringen, was die Enigmas für uns bei Midway vorbereitet haben«, erwiderte Geary. »Und das kann ich ihnen nicht mal verübeln.« Er betätigte seine Komm-Kontrollen. »Captain Armus, wir sehen uns bei Midway. Ich bin davon überzeugt, dass wir dort Ihre Feuerkraft benötigen werden. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary Ende.« Er beendete seine Mitteilung auf die förmliche Weise, weil ihm das diesmal angebracht erschien.
Die Zeit reichte nicht, um vor dem in fünfzehn Minuten stattfindenden Sprung noch eine Reaktion von Armus zu empfangen, deshalb versuchte Geary sich zu entspannen, obwohl das Bremsmanöver ihm zusetzte.
»An alle Einheiten in der Verfolgergruppe: Hier spricht Admiral Geary. Seien Sie alle umfassend gefechtsbereit, wenn wir Midway erreichen. Die Enigma-Streitmacht, die wir vorhin in den Sprungraum haben wechseln sehen, wird uns bei unserer Ankunft entweder erwarten oder aber bereits damit beschäftigt sein, Ziele in diesem System anzugreifen. So oder so werden wir ihnen einmal mehr zeigen, dass es keine gute Idee ist, ein von Menschen beanspruchtes System zu attackieren. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary Ende.«
»Für eine Mitteilung innerhalb der Flotte sind Sie schrecklich förmlich, Admiral, oder sehe ich das falsch?«
»Wenn ich das nächste Mal mit ihnen rede, könnten wir uns bereits mitten im Gefecht befinden.«
Beim Bremsvorgang der Verfolgergruppe bekamen alle hinter der Formation herhinkenden Schiffe Gelegenheit, wieder zu den schnelleren Schiffen aufzuschließen. Die Implacable, die Intemperate und die Valiant sowie diverse Leichte Kreuzer und Zerstörer kehrten auf ihren Platz relativ zur Dauntless zurück. Je näher sie dem Sprungpunkt kamen, umso langsamer wurden sie.
Jedes Schiff hatte schließlich 0,1 Licht erreicht, als sich der Sprungpunkt unmittelbar vor ihnen befand. »Alle Einheiten zum Sprung ansetzen.«
Geary zwang sich zur Ruhe, als die Umgebung schlagartig grau und konturlos wurde. »Wie macht sich die Dauntless?«, fragte er Desjani.
»Glauben Sie meinen Statusmeldungen nicht?«
»Natürlich tue ich das. Ich würde nur gern auch noch Ihren persönlichen Eindruck erfahren.«
Tanya zuckte mit den Schultern. »Als Flaggschiff wurden wir bei der Aufrüstung etlicher Systeme bevorzugt behandelt. Als die Ingenieure abgezogen wurden, um Gefechtsschäden und ausgefallene Systeme zu reparieren, hat das Tempo der Aufrüstung etwas nachgelassen. Trotzdem befindet sich die Dauntless in einer guten Verfassung. Ich kann natürlich nicht dafür garantieren, dass es nicht zu irgendwelchen Vorfällen kommt, falls das aber eintritt, dürfte es nichts Schwerwiegendes werden.«
»Gut. Ich weiß, auf die Dauntless kann ich immer zählen.« Er sagte das nicht nur in der Absicht, von den Mannschaften gehört zu werden, die in diesem Moment nahe genug waren, um die Aussage mitzubekommen, damit sie es ihren Kameraden weitererzählten. Vielmehr glaubte er wirklich, dass es stimmte. Außerdem meinte er, wenn er über die Dauntless redete, damit zugleich auch immer die Befehlshaberin des Schiffs.
Desjanis Lächeln verriet ihm, dass ihr das auch bewusst war. »Danke, Admiral.«
»Zehn Minuten bis zum Verlassen des Sprungraums«, meldete Lieutenant Castries.
Desjani hatte das Kinn auf eine Hand gestützt, der Ellbogen ruhte auf der Armlehne. »Wissen Sie, was bizarr wäre?«, fragte sie plötzlich Geary.
»Da kommen mir ein paar Dinge in den Sinn. Woran genau hatten Sie gedacht?«
»Wieder mal stehen wir kurz davor, den Sprungraum zu verlassen. Wir sind alle aufgeregt und einsatzbereit, wir wissen, dass uns Ärger droht oder drohen könnte. In diesem Fall wissen wir es natürlich schon.«
»Und das ist bizarr?«
»Nein, das ist der Normalfall. So läuft es immer ab. Bizarr wäre es, wenn wir unser Ziel erreichen und uns darauf gefasst machen, den Sprungraum zu verlassen, und wir wären alle die Ruhe selbst und würden uns keine Gedanken darüber machen, was uns da erwartet.«
»Da ist was Wahres dran«, entgegnete Geary. »Ich schätze, wenn wir Varandal erreichen…« Tanyas Gesichtsausdruck ließ ihn mitten im Satz abbrechen.
»Sie sind doch nicht besorgt, was uns bei unserer Rückkehr ins Allianz-Gebiet erwarten könnte, oder?«, fragte sie ihn. »Ernsthaft? Politische Machtspiele? Befehle vom Flottenhauptquartier? Forderungen, dass Black Jack die Regierungsmacht an sich reißen soll? Forderungen, dass man Black Jack verhaften soll, bevor er einen Putsch in die Wege leiten kann? Sie machen sich doch deswegen keine Sorgen, oder…?«
Er ließ sich mehrere mögliche Antworten durch den Kopf gehen, ehe er sich entschied: »Sagen wir, ich versuche, nicht darüber nachzudenken.«
»Muss schön sein.«
»Oh ja, sehr sogar.« Er lächelte sie an. »Aber bedenken Sie eines, Captain Desjani. Wenn wir das hier durchziehen, wenn wir alles hinter uns bringen, was jetzt noch vor uns liegt, und wenn wir dann Varandal erreichen, dann werden wir da mit sechs Schiffen der Spinnenwölfe und einem erbeuteten Kik-Superschlachtschiff aufkreuzen.«
Sie musste ebenfalls lächeln. »Überraschung! Wir sind nicht bloß wieder da, wir haben auch noch neue Freunde mitgebracht. Oh ja, damit dürften wir so manche sorgfältige Planung gründlich über den Haufen werfen.«
»Fünf Minuten«, meldete Lieutenant Castries.
Desjani wurde wieder ernst. »Glauben Sie, den Syndiks bei Midway gelingt es, die Enigmas wenigstens für eine Weile aufzuhalten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Geary und wünschte, er könnte zumindest eine plausible Einschätzung der Lage vornehmen. »Es hängt alles davon ab, was ihnen zur Verfügung steht und wie geschickt sie das einsetzen. Wenn ihnen keine Verstärkung geschickt worden ist, dann haben sie gegen eine so große Enigma-Streitmacht keine Chance. Aber ich bin mir ja nicht mal sicher, ob sie sich überhaupt noch als Syndiks bezeichnen. Mein Eindruck von ihnen war, dass zumindest einige der CEOs bei Midway der Syndikat-Regierung nicht allzu loyal gegenüberstehen.«
»Loyal und Syndik-CEOs? Haben Sie gerade beides in einem Atemzug ausgesprochen?«, fragte Desjani. »Vertrauen Sie dieser Frau, mit der Sie gesprochen haben? Wie hieß sie noch mal?«
»Iceni. CEO Iceni. Ich würde nicht behaupten, dass ich ihr vertraue. Ich bin schließlich nicht verrückt. Aber unsere Interessen könnten eine gemeinsame Schnittmenge haben, wie Victoria Rione es wohl ausdrücken würde.«
Das brachte ihm einen finsteren Blick ein. »Mir wäre es recht, wenn Sie in einer Unterhaltung mit mir nicht diese Frau zitieren würden.«
»Tschuldigung.«
»Eine Minute bis zum Verlassen des Sprungraums«, meldete Lieutenant Castries mit unverändert ruhiger Stimme. Dennoch konnte man deutlich spüren, wie die Anspannung auf der Brücke anstieg.
»Zeit, sich auf den Job zu konzentrieren«, sagte Desjani zu Geary.
»Schilde auf Maximum«, verkündete Lieutenant Yuon. »Alle Waffen bereit.«
Die letzten Sekunden wurden heruntergezählt, Geary spürte, wie sich sein Magen auf eine vertraute Weise verkrampfte. Dann folgte der Moment der Desorientierung, und das Grau des Sprungraums war mit einem Mal dem von Sternen erfüllten Schwarz gewichen, als sie Midway erreichten.
Was sie am meisten gefürchtet hatten — die Sirenen der Gefechtssysteme, die vor in unmittelbarer Nähe befindlichen gegnerischen Schiffen warnten —, trat nicht ein. Diese Systeme waren so vorprogrammiert worden, dass sie sofort mit allen verfügbaren Waffen auf Enigma-Schiffe feuerten, sollten die sich vor dem Sprungpunkt in Position gebracht haben. Aber auch das war nicht der Fall. Als Geary die vom Sprung hervorgerufene Verwirrung abschüttelte, sah er auf seinem Display die Symbole aufleuchten, doch keines von ihnen befand sich in der Nähe seiner Flotte. Der Feind war nicht gekommen, um sie bei ihrer Ankunft gebührend zu empfangen, dennoch hielten sich die Enigmas im System auf.
»Was machen die da?«, fragte sich Desjani.
»Ich weiß es nicht«, konnte Geary nur antworten.
Er hatte erwartet und befürchtet, dass die Enigmas sofort Kurs auf das Hypernet-Portal nehmen würden, das nicht ganz sechs Lichtstunden von diesem Sprungpunkt entfernt war und sich fast auf der gegenüberliegenden Seite des Systems befand. Hätten die Enigmas auf 0,2 Licht oder mehr beschleunigt, wären sie gerade einmal dreißig Stunden später am Portal eingetroffen. Dort wäre es für zweihundertzweiundzwanzig Enigma-Kriegsschiffe ein Leichtes gewesen, binnen kürzester Zeit die Trossen zu zerstören, die zusammen die Energiematrix aufrechterhielten.
Ebenso hätten die Enigmas die primäre bewohnte Welt anfliegen können, die in nur viereinhalb Lichtstunden um ihren Stern kreiste, um ein Orbitalbombardement zu beginnen, das alles menschliche Leben ausgelöscht und den Planeten unbewohnbar gemacht hätte.
Stattdessen verharrten die Enigmas in einer Entfernung von dreißig Lichtminuten von dem Sprungpunkt, durch den Gearys Flotte ins System gekommen war.
»Die warten auf uns«, sagte Desjani. »Sie wussten, wir würden herkommen, und deshalb warten sie da auf uns, um uns anzugreifen. Aber warum haben sie es nicht so wie bei Alihi mit einem Hinterhalt versucht?«
Kaum hatte sie ausgesprochen, kam ihm die Antwort darauf in den Sinn. »Weil sie zwar wussten, wir würden herkommen, aber keinen präzisen Zeitpunkt kannten. Die Enigmas bei Hua haben einen Alarm ausgegeben, eine überlichtschnelle Nachricht, dass wir uns auf dem Rückflug nach Midway befinden. Dadurch wussten die Enigmas nur in einem groben Rahmen, wann mit unserer Ankunft zu rechnen war. Doch das war nicht genau genug, um einen dieser Hinterhalte direkt am Sprungpunkt zu inszenieren.«
Damit ergab sich eine andere Frage, auf die Desjani prompt zu sprechen kam. »Wenn sie wussten, sie haben noch etwas Zeit, warum haben sie sich dann nicht schon im System ausgetobt. Sie hätten doch längst etwas zerstören können oder sie könnten kurz davor sein, weil sie wissen, dass wir nicht zeitig genug eintreffen, um sie aufzuhalten.«
Sein Blick wanderte vom Hypernet-Portal zu der bewohnten Welt, von dort zu einem Raumdock im Orbit um einen Gasriesen, eine Lichtstunde vom Stern entfernt, von dieser Einrichtung weiter zu den Syndik-Flotten an anderer Stelle in diesem System… Wo soll ich hin? Ich muss versuchen, die… »Verdammt!«
»Heißt das, Sie haben die Antwort auf diese Frage gefunden?«, wollte Desjani wissen.
»Ja.« Er zeigte auf das Display. »Sie wollen uns auch erwischen. Hätten sie das Hypernet-Portal zerstört und die Menschen in diesem System ausgelöscht, dann gäbe es für uns keinen Grund mehr, hierzubleiben und uns ein Gefecht mit ihnen zu liefern.«
»Aber sie wollen, dass wir bleiben und kämpfen.« Sie nickte mit finsterer Miene. »Also lassen sie alles intakt, was wir retten wollen. Das heißt, sie werden auch nicht einfach die Flucht ergreifen. Sie wollen nicht nur dafür sorgen, dass die Haustür wieder fest verschlossen wird. Sie wollen auch dafür sorgen, dass wir ausgeschaltet werden, damit wir nicht kehrtmachen und abermals in ihr Territorium vordringen. Aber so gut stehen ihre Chancen gar nicht. Sie müssen irgendetwas unternehmen, mit dem sie sicherstellen, dass wir komplett ausradiert werden. Und dann…« Sie betrachtete irritiert ihr Display. »Drei Syndik-Flotten. Sind die für uns ein Grund zur Sorge? Werden sie uns helfen? Oder werden sie sich gegen uns wenden? Oder haben sie vielleicht vor, einfach nur dazusitzen und uns zuzusehen, wie wir gegen die Enigmas kämpfen, damit sie sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen können, weil sich ihre Feinde gegenseitig zerfleischen?«
»Wenn wir uns um eine Sache nicht sorgen müssen, dann dürfte das ein Angriff der Syndiks auf uns sein.« Er verspürte den dringenden Wunsch zu handeln, doch ihm war auch klar, dass die Flotte bei der momentanen Geschwindigkeit fünf Stunden benötigen würde, um die Enigma-Streitmacht zu erreichen. Viel sinnvoller war es dagegen, sich zunächst ein Bild von der Situation im System zu machen und erst dann zu handeln.
Desjani schüttelte den Kopf. »Diese CEO, die bei unserem letzten Aufenthalt in diesem System das Sagen über die Schiffe hatte… Wie hieß sie noch gleich? Kolani. Sie war schroff und bösartig. Ihr würde es Spaß machen, auf uns loszugehen, selbst wenn das nur noch bedeuten sollte, dass sie unsere Verletzten töten kann, nachdem die Enigmas uns zusammengeschossen haben.«
Drei Syndik-Flotten, die im Vergleich zu den Streitkräften der Allianz und der Enigmas winzig wirkten. Ein Schlachtschiff und zwei Schwere Kreuzer am Orbitaldock nahe dem Gasriesen; ein weiteres Schlachtschiff mit sechs Schweren und vier Leichten Kreuzern sowie zehn Jägern in der Nähe des Hypernet-Portals; zwei Schwere und sechs Leichte Kreuzer, dazu zwölf Jäger, die auf dem Weg zum Gasriesen waren und dabei einem Vektor folgten, der den Schluss zuließ, dass sie aus der Nähe der bewohnten Welt gekommen sein mussten.
»Wenn es den Syndiks gelingt, alle Kräfte zu sammeln und zu bündeln… wenn sie diese drei winzigen Flotten zusammenfügen…«, begann Geary.
»…dann haben sie eine kleine Flotte«, meinte Desjani. »Wenn man die Streitkräfte von diesem Planet und die in der Nähe des Gasriesen dazu nimmt und dabei das Schlachtschiff unberücksichtigt lässt, dann kommt in etwa das zusammen, was die Syndiks auch schon hatten, als wir das letzte Mal hier durchgekommen sind. Sieht so aus, dass hier Ruhe geherrscht hat. Die Jungs nahe dem Hypernet-Portal müssen die Verstärkung sein, die die Zentralregierung der Syndiks auf Prime hergeschickt hat.
»Viel ist es nicht«, musste Geary einräumen, »aber zwei Schlachtschiffe sollte man auch nicht außer Acht lassen.« Kaum hatte er ausgesprochen, veränderte sich eine Gefahrenanzeige auf seinem Display und gab einen neuen Status bekannt. »Als nicht funktionstüchtig eingestuft? Das Schlachtschiff nahe dem Gasriesen kann nicht kämpfen?«
»Das sagen jedenfalls die Flottensensoren, Admiral«, bestätigte Lieutenant Yorn. »Die Analyse der Außenhülle ergibt, dass es völlig neu ist, aber nach allem zu urteilen, was die Sensoren hinsichtlich Aktivitäten und Ausrüstung feststellen können, scheint es sich noch im Bau zu befinden.«
»Das würde erklären, warum es sich in der Orbitalwerft des Systems befindet«, sagte Desjani. »Die beiden Schweren Kreuzer in unmittelbarer Nähe müssen dann wohl seiner Verteidigung dienen.«
Vor Geary tauchte Lieutenant Igers Gesicht auf. »Admiral, wir haben eine Nachricht abgefangen, die von der Flotte der Syndikatwelten nahe dem Hypernet-Portal an die Orbitalwerft geschickt wurde. Wir waren nahe genug dran, um sie empfangen zu können. Die Nachricht identifiziert den Befehlshaber der Flotte am Hypernet-Portal als CEO Boyens.«
»Dann haben sie ihn offenbar doch nicht erschossen«, meinte Desjani und klang dabei ein wenig enttäuscht.
»Wichtiger ist allerdings«, fuhr Iger fort, »was die Nachricht enthält. Wir konnten sie nicht vollständig entschlüsseln, aber wir können mit Gewissheit sagen, dass es sich um eine Aufforderung zur Kapitulation handelt.«
Geary brauchte einen Moment, ehe er darauf etwas erwidern konnte. »Kapitulation? Galt sie den Kreuzern und dem Schlachtschiff oder dem Dock?«
»Allen, Admiral. Davon sind wir überzeugt.«
»Wer wäre denn schon so verrückt, mit einem Schlachtschiff eine Rebellion anzuzetteln, das gar nicht einsatzbereit ist?«, wunderte sich Desjani. »Das heißt, die Streitmacht, die sich vom Planeten nähert, ist ebenfalls auf dem Weg, um sich die Rebellen vorzunehmen.«
»Möglicherweise nicht«, wandte Lieutenant Iger hastig ein. »Die Flottensensoren haben Hinweise auf Beschädigungen in einigen Städten auf der Primärwelt entdeckt. Die Reparaturen sind zwar bereits angelaufen, aber die Schäden sind so umfangreich, dass sie sich immer noch feststellen lassen.«
»Eine Bombardierung durch die Enigmas?«, warf Geary ein. »Nein, es ist nicht genug Zeit verstrichen, dass diese Flotte die bewohnte Welt erreicht haben könnte, um sie zu bombardieren. Ganz zu schweigen davon, dass so schnell keine Reparaturarbeiten vorgenommen würden.«
»Richtig, Sir. Und es sind auch keine Bombentrichter zu entdecken. Es sieht vielmehr nach Schäden aus, wie sie durch schwere Bodenkämpfe entstehen.«
Bodenkämpfe? Wer hatte da gegen wen gekämpft? »Spielt sich hier ein Bürgerkrieg ab?«
»Nein, Sir. Dann hätten wir bei unserer Ankunft etwas von den Kämpfen sehen müssen. Was geschehen ist, liegt bereits eine Weile zurück.«
»Jemand hat gewonnen, jemand hat verloren«, sagte Desjani. »Wenn die Schiffe nahe dem Gasriesen und an der Orbitalstation von den Rebellen kontrolliert werden, dann haben sie womöglich dort gewonnen, aber auf dem Planeten verloren.«
Iger hörte jemandem zu, der ihm etwas sagte, dann wandte er sich wieder an Geary. »Admiral, in diesem Sternensystem herrscht ein sehr ungewöhnlicher Signalverkehr — Nachrichten, die bereits vor unserer Ankunft und vor der Ankunft der Enigmas übermittelt wurden. Die Nachricht von der Flotte, die von CEO Boyens befehligt wird, wurde im üblichen Standardformat gesendet, aber die Bewohner dieses Systems haben in letzter Zeit die standardmäßigen Syndik-Codes nicht benutzt, auch wenn sie sich an deren Protokolle zu halten scheinen. Die Nachrichtensendungen, die wir empfangen konnten, reden von ›Präsidentin‹ Iceni und ›General‹ Drakon, als ob diese beiden hier das Sagen haben. Nach den Videobildern zu urteilen, handelt es sich bei ihnen um die Personen, die wir als CEO Iceni und CEO Drakon kennengelernt haben.«
»Dann wissen wir ja jetzt, wer gewonnen hat.«, sagte Geary zu Desjani.
»›Präsidentin‹ Iceni?«, wiederholte sie. »Wer soll sie denn gewählt haben? Wem wollen die was vormachen?«
»Gab es auf dem Planeten nicht noch einen weiteren CEO?«, wollte Geary wissen.
»Ja, Sir«, antwortete Lieutenant Iger. »CEO Hardrad. In den Nachrichtenübertragungen jüngeren Datums kommt er überhaupt nicht vor. Iceni hatte das Sternensystem insgesamt unter sich, Drakon war Befehlshaber der Bodentruppen. Und Hardrad war im Auftrag der Syndiks für die innere Sicherheit zuständig.«
Die innere Sicherheit. Auf einem Planeten der Syndikatwelten umfasste das weitaus mehr als bloß den Polizeiapparat. Hardrad war jemand, der die Bevölkerung unter Kontrolle hielt. Doch wenn er jetzt nicht mehr da war…
»Augenblick mal«, sagte Geary. »Wenn Iceni und Drakon als diejenigen, die ohnehin das Sagen hatten, eine Revolte gegen die Syndiks angezettelt und Hardrad aus dem Weg geräumt haben, dann ist die Flotte unter Boyens’ Kommando womöglich gar nicht als Verstärkung hier eingetroffen.«
Iger sprach kurz mit jemandem, der neben ihm stand, dann nickte er Geary zu. »Ja, Admiral, das ist durchaus möglich. Diese Flotte könnte geschickt worden sein, um die Revolte niederzuschlagen und das System wieder unter Syndik-Kontrolle zu bringen.«
»Wissen wir denn, wem dieses Schlachtschiff gehört, das noch nicht eingesetzt werden kann?«, fragte Desjani.
»Ja, Captain. Nach den Kommunikationsstrukturen untersteht es der Kontrolle durch die Behörden auf dem bewohnten Planeten.«
Desjani lachte kurz auf. »Hier kämpfen nicht drei, sondern vier Parteien — wir, die Enigmas, die Syndiks und die Rebellen. Jetzt müssen wir bloß noch herausfinden, was die anderen drei vorhaben.«
»Was Boyens vorhat, weiß ich«, entgegnete Geary und zeigte auf die Syndik-Flotte nach dem Hypernet-Portal. »Als wir ihn als Gefangenen an Bord der Dauntless hatten, wirkte er auf mich sehr berechnend. Er versuchte vor jedem Schritt herauszufinden, wohin der ihn führen würde, ehe er diesen Schritt auch unternahm. Und selbst dann schien er lieber noch abzuwarten, um zu sehen, was andere taten, ehe er sich auf einen bestimmten Kurs festlegte. Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass er den Befehl erhalten hat, die Rebellen in diesem Sternensystem zu unterwerfen. Wenn er sich mit den Enigmas anlegt, könnten dabei seine eigenen Schiffe beschädigt oder sogar zerstört werden, was es ihm schwieriger oder sogar unmöglich machen würde, die Aufständischen zu besiegen. Also wird er sich erst mal von jedem Kampf fernhalten, in der Nähe des Hypernet-Portals bleiben und darauf warten, dass wir die Enigmas schlagen. Ist das geschehen, wird er sich die Rebellen vorknöpfen, die bis dahin vermutlich ein paar Schiffe verloren haben dürften. Auf diese Weise kann Boyens nur gewinnen.«
»Was ist mit den Rebellen, Admiral?«, fragte Iger. »Wäre es für sie nicht von Nutzen, wenn sie sich ebenfalls aus dem Kampf mit den Enigmas heraushielten, damit sie ihre Streitkräfte für das Gefecht mit Boyens’ Flotte schonen können?«
Desjani schnaubte verächtlich. »So was passt zu den Syndiks. Die warten einfach ab und schauen zu, wie wir und die Enigmas aufeinander losgehen.«
»Wenn wir sie brauchen, werden die Rebellen sich uns anschließen müssen«, überlegte Geary und zog sich damit einen skeptischen Blick von Desjani zu. »Wenn wir verlieren, müssen sie sich nicht nur gegen Boyens zur Wehr setzen, der sie wieder gefügig machen will…«
»…was zweifellos bedeutet, dass er sie für Wochen unter Beschuss nehmen wird«, warf Desjani ein.
»…sondern auch gegen die Enigmas, denen es vermutlich darum geht, alles menschliche Leben in diesem System auszulöschen.«
»Da könnten Sie recht haben«, räumte sie ein.
»Und sie werden wohl auch an unserer Dankbarkeit ihnen gegenüber interessiert sein«, ergänzte Lieutenant Iger. »Damit wir ihnen Unterstützung gegen die Flotte der Syndikatwelten gewähren.«
Geary lehnte sich zurück und dachte über die Optionen nach, während alle anderen warteten. Er spürte, dass sie versuchten, nicht in seine Richtung zu schauen, während Sekunde um Sekunde verstrich.
»Wir sind vor zwanzig Minuten hier eingetroffen. In zehn Minuten wird die Enigma-Streitmacht unsere Ankunft sehen können. Sie sind hier und warten darauf, uns zu vernichten. Ich gehe davon aus, dass sie bei unserem Anblick sofort Kurs auf uns nehmen und beschleunigen, um uns in eine Schlacht hineinzuziehen.«
Desjani nickte. »Das sehe ich auch so. Was sollen wir also machen?«
»Wir fliegen ihnen entgegen, Captain, und prügeln auf sie ein, und dann verpassen wir ihnen einen Tritt, der sie mit solcher Wucht in ihr eigenes Territorium zurückschickt, dass sie erst bei Pandora zum Stehen kommen.«
Er wusste, diese Worte würden sich in der Flotte herumsprechen, zumindest in jenem Teil der Flotte, die nach Midway vorausgeflogen war. Nach den begeisterten Rufen zu urteilen, die bereits jetzt durch die Korridore der Dauntless hallten, würden sie wohl überall auf Zustimmung stoßen. »An alle Einheiten: Hier spricht Admiral Geary. Beschleunigen Sie sofort auf 0,15 Licht.«
Dann rief er General Charban: »General, diese Nachricht, die Sie zusammengestellt haben und mit der wir den Enigmas das Angebot machen wollen, dass wir sie in Ruhe lassen, wenn sie uns in Ruhe lassen… senden Sie sie an die Enigma-Streitmacht, auch wenn ich nicht erwarte, dass sie auf dieses Angebot eingehen werden. Aber ich will es zumindest versucht haben.«
Charman nickte betrübt. »Ich glaube auch, dass sie mindestens noch eine deutliche Lektion benötigen, um zu begreifen, dass sie ihre Absichten uns gegenüber nicht mit Gewalt durchsetzen können. Die Nachricht wird sofort gesendet, Admiral. Sollte irgendeine Reaktion darauf erfolgen, werde ich Sie umgehend davon unterrichten.«
Geary aktivierte wieder das Fenster, in dem Lieutenant Iger wartete. »Lieutenant, finden Sie über die Lage im System so viel wie möglich heraus. Stellen Sie fest, wer tatsächlich das Sagen hat, und wie sich derjenige verhält. Bringen Sie einfach alles in Erfahrung, das meine Entscheidung über unsere weitere Vorgehensweise auf die eine oder andere Art beeinflussen könnte.«
Iger salutierte, dann verschwand sein Bild.
Als die Hauptantriebseinheiten der Schlachtkreuzer, der Leichten Kreuzer und der Zerstörer der Verfolgergruppe hochfuhren, sah Geary, dass sich neben ihm ein weiteres Fenster öffnete. Zu sehen war darin nur Text, der auf den ersten flüchtigen Blick den Eindruck eines offiziellen Dokuments erweckte. Dann begann eine Stimme den Text vorzulesen, während zeitgleich die gerade aktuelle Passage farblich hervorgehoben wurde. »Die Flottenvorschriften bestimmen, dass kein Schiff mit einem Brennstoffzellenbestand von weniger als siebzig Prozent an einem Gefecht teilnehmen darf, da sichergestellt sein muss, dass genügend Energiereserven vorhanden sind, um auf jede denkbare Situation reagieren zu können. Jede Einheit, die einen Bestand von siebzig Prozent erreicht, muss umgehend…«
Endlich fand Geary die Taste, mit der er die Ansage abstellen konnte.
Gleich darauf begann sie, die Aufforderung zu wiederholen.
Abermals betätigte er die Taste.
Die Stimme unternahm einen dritten Anlauf, Geary hielt die Taste gedrückt und ließ sie erst wieder los, als er sich sicher war, dass die vom Hauptquartier in den Flottensystemen installierte Subroutine ins Koma gefallen war. Er überprüfte die Statusanzeigen für die Flotte und stellte fest, dass die Zerstörer nach dem Sprint durch Pele zum Teil die genannte Marke bereits erreicht hatten oder sich zügig darauf zubewegten.
»Probleme?«, fragte Desjani hörbar beunruhigt, da sie wohl fürchtete, es könnten wieder Komplikationen mit dem Komm-System aufgetreten sein.
»Stabsinfektion«, erwiderte Geary und verwendete die übliche Bezeichnung für in Flottensystemen installierte Pflichtsubroutinen, damit Vorschriften und Bestimmungen des Hauptquartiers beachtet wurden. »Die Brennstoffzellen der Zerstörer nähern sich der Siebzig-Prozent-Marke.«
»Oh nein«, rief Desjani in gespieltem Entsetzen. »Was werden Sie jetzt machen? Die Flotte umkehren lassen? Die Enigmas bitten, das anstehende Gefecht solange aufzuschieben, bis wir die Vorgaben aus den Flottenvorschriften wieder erfüllen?«
»Nein.« Er tippte auf seine Komm-Kontrollen. »An alle Einheiten: Hier spricht Admiral Geary. Ich übernehme volle Verantwortung für die Brennstoffzellenbestände auf allen Schiffen der Flotte. Sie werden auf meinen ausdrücklichen Befehl hin weiter an allen erforderlichen Kampfhandlungen teilnehmen. Dieser Befehl wird zu den Akten genommen.«
»Dafür kann man Sie vor ein Kriegsgericht stellen, das wissen Sie ja«, kommentierte Desjani.
»Habe ich auch schon gehört.«
Ihre nächste Bemerkung wurde jäh unterbrochen, da die Gesandte Rione die Brücke betrat und zielstrebig zu Geary ging, um sich neben seinen Platz zu stellen. »Was haben Sie vor?«, fragte sie.
»Ich werde die Enigmas besiegen«, antwortete er knapp. »Ich halte das für nötig.«
»Und dann? CEO Boyens wird Sie zweifellos fragen, ob Sie ihm dabei helfen, in diesem System ›die Ordnung wiederherzustellen‹.«
»Ich werde ihn nicht daran hindern können, mich zu fragen.«
Rione warf ihm einen wütenden Blick zu. »Admiral, wir brauchen dieses Sternensystem. Es ist nicht nur unser Portal ins Gebiet der Enigmas, sondern auch der einzige uns bekannte Weg zu den von den Spinnenwölfen kontrollierten Gebieten.«
»Glauben Sie mir, Madam Gesandte, ich bin mir dieser Tatsache völlig bewusst.« Geary tippte mit den Fingern auf seine Armlehne. »Wollen Sie mir als Nächstes sagen, dass ich Boyens helfen muss, dieses System wieder unter die Kontrolle der Syndikatwelten zu bringen?«
»Ich will Ihnen sagen, Admiral, dass in diesem System bereits eine große Schlacht eingeleitet worden ist, die alles hier ganz erheblich in Mitleidenschaft ziehen könnte. Ein Kampf zwischen Syndik-Loyalisten und Rebellen würde höchstwahrscheinlich zu noch schwereren Schäden führen. Wir brauchen kein Sternensystem, das von einem Bürgerkrieg in Stücke gerissen und dann zerstört wird, nur weil es vor den Enigmas gerettet werden sollte.«
»Ich habe Ihre Bedenken zur Kenntnis genommen, Madam Gesandte«, gab Geary in kühlem Tonfall zurück. »Ich werde mich bemühen, alle Zerstörungen auf Objekte, Personen und Orte zu beschränken, die für die Allianz nicht von Bedeutung sind.«
Rione reagierte mit versteinerter Miene, doch als sie sich vorbeugte, um aus nächster Nähe auf ihn einzureden, waren ihrer Stimme die Gefühlsregungen deutlich anzuhören. »Verdammt, hören Sie mir gefälligst zu, Black Jack. Mag ja sein, dass sie glauben, Sie könnten im Moment tun, was immer Ihnen in den Sinn kommt. Aber Tatsache ist, dass ein einziger falscher Schritt alles zerstören könnte.«
»Ich bin mir dessen durchaus bewusst«, entgegnete er leise. »Und ich bin mir sicher, wenn ich eine Meuterei innerhalb meiner Flotte auslösen will, dann muss ich meinen Schiffen nur den Befehl erteilen, den Syndikatwelten dabei zu helfen, die Ordnung wiederherzustellen. Selbst wenn mich so etwas moralisch nicht abstoßen würde, wäre meine Flotte nicht bereit, einen solchen Befehl auszuführen. Nicht mal, wenn er von Black Jack kommt.«
Sie richtete den Zeigefinger auf sein Display. »Haben Sie sich schon mal gefragt, wieso Boyens sich in der Nähe des Hypernet-Portals aufhält, Admiral?«
»Natürlich. Er bleibt für den Fall da, dass die Enigmas die lokale Bevölkerung auslöschen, weil er dann so tun kann, als hätten er und seine Flotte tapfer gekämpft, um dann schnell durch das Hypernet-Portal zu entkommen«, erwiderte er.
»Das ist möglich, aber Boyens weiß, dass das Hypernet-Portal mit einem Sicherheitsmechanismus ausgestattet ist. Er weiß, er kann es kollabieren lassen, ohne seine Flotte in Gefahr zu bringen. Außerdem hat er ein Schlachtschiff dabei, das er ins Spiel bringen kann, wenn wir nicht tun, was er will.«
Das war eine unerfreuliche Möglichkeit. Das Hypernet-Portal bei Midway war entscheidend für die Bedeutung dieses Sternensystems für die Allianz. Wenn die Syndiks die Kontrolle über das System verloren, gab es für sie keinen Grund, das Portal intakt zu lassen. »Ich kann…« Was denn? Damit drohen, eine offizielle Flotte der Syndikatwelten anzugreifen, obwohl ein Friedensvertrag existiert? Einen neuen Krieg beginnen? Wie viel Begeisterung würde die kriegsmüde Bevölkerung der Allianz für eine solche Vorgehensweise aufbringen?
»Woher wollen Sie wissen«, redete Rione weiter auf ihn ein, »dass die Enigmas angreifen, wenn sie sehen, womit sie es hier zu tun haben? Das ist doch eine große Streitmacht, oder nicht? Bestimmt mehr, als sie sich ausgerechnet haben.«
»Es ist keine große Streitmacht«, widersprach Geary. »Nicht, wenn man deren Flotte betrachtet. Zudem sind einige Kriegsschiffe auf unserer Seite bei den vorangegangenen Gefechten stark in Mitleidenschaft gezogen worden, und das werden die Enigmas feststellen können. Wenn sie glauben…« Er hielt inne, da ihm ein anderer Gedanke kam. »Captain Desjani, haben wir eigentlich herausbekommen, wie detailliert die Nachrichten sein können, die die Enigmas mit Überlichtgeschwindigkeit senden?«
Sie schüttelte den Kopf und ignorierte demonstrativ Riones Gegenwart. »Nein. Basisinformationen, soweit wir das sagen können. Ich habe mich darüber mit meinem Komm-Offizier unterhalten, und er ist der Ansicht, wenn die Enigmas routinemäßig komplexe Nachrichten mit Überlichtgeschwindigkeit senden könnten, dann hätte uns das beim Durchqueren ihrer Systeme auffallen müssen, weil wir dann viel weniger Komm-Verkehr festgestellt hätten. So aber hat sich das alles im normalen Rahmen bewegt, was den Schluss nahelegt, dass sie nur kleine Datenpakete mit Überlicht verschicken können und für alles andere weiterhin normale Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit benutzen müssen.«
»Was bedeuten würde, dass die Enigmas hier zwar wissen, dass die Allianz-Flotte hierher unterwegs ist, ihnen aber nicht zwangsläufig auch bekannt ist, wie viele Schiffe sie umfasst.«
»Sie würden wissen…« Desjani grinste. »Sie würden nur wissen, was sie sehen. Würden sie glauben, dass die Bärkühe all unsere Schlachtschiffe und alle Schweren Kreuzer zerstört haben? Dass nur unsere schnellsten Schiffe entkommen konnten?«
»Ja, vielleicht. Wenn die Enigmas nicht wissen, dass die Schlachtschiffe und die Schweren Kreuzer dicht hinter uns sind, werden sie womöglich übermütig und denken, wir wären schon erheblich geschwächt. Falls ihnen aber bekannt ist, dass der Rest unserer Flotte hierher unterwegs ist, werden sie versuchen, unsere Formation zu vernichten, bevor die Verstärkung eintrifft«, ergänzte Geary.
»Was die Enigmas ermutigen wird, so schnell wie möglich anzugreifen«, folgerte Desjani.
Rione hatte die Unterhaltung mitverfolgt, nun war ihr Blick auf einen weit entfernten Punkt gerichtet, während sie mit nachdenklicher Miene dreinschaute. »Die Enigmas müssen nicht unbedingt von dem erbeuteten Kriegsschiff der Bärkühe wissen. Auch nicht von den sechs Schiffen, mit denen die Spinnenwölfe unterwegs sind. Aber sie können darüber informiert sein. Die Syndiks und die Rebellen dagegen haben definitiv keine Ahnung, was noch aus dem Sprungraum kommt.«
Geary lächelte. »Meinen Sie, deren Auftauchen wird CEO Boyens von seiner bisherigen Planung abbringen?«
»Durchaus möglich, Admiral. Diese Information der Regierung auf Prime zu überbringen, könnte wichtiger sein als Boyens’ mögliche Absicht, uns zu erpressen, indem er das Hypernet-Portal bedroht. Dennoch sollten Sie versuchen, von diesem System nicht zu viel zu zerstören.«
»Ich werde mir Mühe geben, Madam Gesandte.«
Desjani war inzwischen ernst geworden, während sie Geary ansah. »Sagen Sie, Admiral, haben Sie schon mal überlegt, was die Enigmas tun könnten, wenn sie das Superschlachtschiff der Kiks sehen? Das taugt nämlich genauso wenig wie eines dieser Syndik-Schlachtschiffe. Im Augenblick ist seine militärische Funktion nur eines: ein SGSLSEZ.«
»Ein SGSLSEZ?«, wiederholte Geary ratlos.
»Ein sehr großes, sehr langsames, sehr einladendes Ziel.«
»Das werde ich mir merken. Wenigstens ist unser funktionsunfähiges Superschlachtschiff noch nicht eingetroffen. Und vergessen Sie nicht: Auch wenn es das neueste Hobby innerhalb der Flotte zu sein scheint, sich immer neue Kürzel auszudenken, heißt das Schiff jetzt Invincible.«
»So ganz gefällt mir das nach wie vor nicht.«
Die Enigmas mussten die Ankunft der Allianz-Flotte rund eine halbe Stunde nach deren Verlassen des Sprungraums sehen. Dann hatten sie höchstwahrscheinlich begonnen, in Richtung der gegnerischen Schiffe zu beschleunigen, während Geary seine Formation längst auf die Enigmas hatte Kurs nehmen lassen. Auf einem Display, das große Bereiche des Sternensystems darstellte, war die Flugbahn der Allianz-Flotte als weite Kurve zu sehen, die sich auf den Stern und damit auf den Punkt zubewegte, an dem die Enigma-Formation auf ihr Eintreffen gewartet hatte.
Der Abstand zwischen beiden Streitmächten sollte rapide zusammenschrumpfen, es sei denn, die Enigmas hatten entgegen allen Erwartungen einen anderen Kurs eingeschlagen, der von der Allianz-Flotte wegführte. Sollten sie geradewegs auf das Hypernet-Portal zufliegen, konnten sie es immer noch zerstören, lange bevor Gearys Verfolgergruppe dort eintraf, um sie daran zu hindern.
In den letzten Minuten, die bis zu dem Moment verstrichen, an dem sie endlich sehen würden, wie die Enigmas reagierten, versuchte Geary einen unbesorgten Eindruck zu machen. Die Syndiks und die Aufständischen in diesem System würden beide sogar noch fast eine Stunde länger warten müssen, ehe sie sahen, was sich vor ihren Augen abspielte.
Als das Licht der Enigma-Reaktion dann endlich die Flotte erreichte, wurde die Darstellung auf dem Display innerhalb von Sekundenbruchteilen aktualisiert. Desjani verzog den Mund zu einem fast boshaften Grinsen. »Sie kommen uns entgegen. So wie erwartet.«
Die Enigmas beschleunigten auf einem Vektor, der eindeutig auf Gearys Schiffe abzielte, wobei die Schiffe der Aliens einmal mehr ihre beeindruckende Manövrierfähigkeit unter Beweis stellten, da sie in einem Maß beschleunigten, mit dem Allianz-Schiffe es einfach nicht aufnehmen konnten.
Die geschätzte Zeit bis zum Zusammentreffen wurde laufend auf den neuesten Stand gebracht und dabei genauso schnell nach unten korrigiert, wie die Enigma-Schiffe Fahrt aufnahmen.
Dann ging fast ein Ruck durch die feindliche Formation, da die Aliens nicht weiter beschleunigten. »Sie haben gemerkt, dass wir uns mit 0,15 Licht nähern«, sagte Desjani. »Also haben sie bei… 0,16 Licht aufgehört zu beschleunigen. Wenn beide Seiten ihre Geschwindigkeit beibehalten, begegnen wir uns in fünfundsechzig Minuten. Aber dann sind wir so schnell, dass niemand im Vorbeiflug einen Treffer landen wird.«
Geary nickte, da er wusste, seine Schiffe mussten irgendwann abbremsen, wenn seine Feuerkontrollsysteme eine Chance haben sollten, wenigstens ein paar Enigmas zu treffen. Die Enigmas würden ebenfalls die Geschwindigkeit verringern müssen, wenn sie der Allianz-Flotte irgendeinen Schaden zufügen wollten. Aber… würden sie wirklich so handeln?
Das war etwas, das ein von Menschen gesteuertes Kriegsschiff tun würde. Aber damit hatte er es hier nicht zu tun. Da waren keine menschlichen Befehlshaber am Werk, die menschliche Taktiken anwandten.
Geary beobachtete die Enigmas, wie sie sich schnell und auf einem schnurgeraden Kurs der Allianz-Formation näherten. Auf ihrer langen Reise durch das Gebiet der Enigmas hatten sie einiges über deren Taktiken herausbekommen. Sie wussten, wie die Enigmas kämpften. Die aufrechte, direkte Art war nicht die ihre. Es war nicht so, dass es ihnen an Mut fehlte oder dass sie den Tod fürchteten. Sie verhielten sich ganz einfach anders, als es ein Mensch getan hätte. Und eine Taktik, zu der die Enigmas gegriffen hatten, war…
»Sie werden uns rammen.«