»Und jetzt ist meine Aufgabe vollbracht«, sagte Laurana, »ich kann hingehen, wohin ich möchte.«
»Ja«, sagte Elistan langsam, »und ich weiß, warum du gehen willst«. Laurana errötete. »Aber wohin willst du gehen?«
»Silvanesti«, erwiderte sie. »Der letzte Ort, an dem ich ihn sah.«
»Nur ein Traum...«
»Nein, das war mehr als ein Traum«, antwortete Laurana und erschauderte. »Es war Wirklichkeit. Er war dort. Er lebt, und ich muß ihn finden.«
»Meine Liebe, dann solltest du aber lieber hier bleiben«, schlug Elistan vor. »Du hast gesagt, in dem Traum hätte er eine Kugel der Drachen gefunden. Wenn das stimmt, wird er nach Sankrist kommen.«
Laurana antwortete nicht. Unglücklich und unentschlossen starrte sie aus dem Fenster von Fürst Gunthers Schloß, wo sie, Elistan, Flint und Tolpan als seine Gäste wohnten.
Sie hätte mit den Elfen gehen sollen. Bevor diese die Lichtung von Weißstein verlassen hatten, hatte ihr Vater ihr angeboten, mit ihnen zurück ins südliche Ergod zu kommen. Aber Laurana hatte abgelehnt. Obwohl sie es nicht aussprach, wußte sie, daß sie niemals mehr bei ihrem Volk leben würde.
Ihr Vater hatte sie nicht gedrängt, und in seinen Augen sah sie, daß er ihre unausgesprochenen Worte gehört hatte. Elfen werden um Jahre älter, nicht um Tage so wie die Menschen. Bei ihrem Vater schien es, als ob sich die Zeit beschleunigt hätte und er sich veränderte, während sie ihn beobachtete. Sie hatte das Gefühl, als ob sie ihn durch Raistlins Stundenglasaugen sehen würde, und der Gedanke ängstigte sie. Und die Neuigkeiten, die sie ihm mitteilte, vergrößerten nur seine Verbitterung.
Gilthanas war nicht zurückgekehrt. Laurana konnte ihrem Vater auch nicht sagen, wo sich sein geliebter Sohn aufhielt, denn die Reise, die er und Silvara unternahmen, war dunkel und gefahrvoll. Laurana sagte ihrem Vater nur, daß Gilthanas nicht tot war.
»Du weißt, wo er ist?« fragte die Stimme nach einer Pause.
»Ja«, antwortete Laurana, »oder besser – ich weiß, wo er hingegangen ist.«
»Und du kannst darüber nicht sprechen, nicht einmal zu mir seinem Vater?«
Laurana schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, Stimme, ich kann nicht. Vergib mir, aber wir haben uns geeinigt, als wir uns zu dieser verzweifelten Aktion entschlossen hatten, daß jene von uns, die darüber Bescheid wissen, keinem anderen davon sagen würden. Keinem«, wiederholte sie.
»Du vertraust mir also nicht...«
Laurana seufzte. Ihre Augen wanderten zu dem zersprungenen Weißstein. »Vater«, sagte sie, »du wärst beinahe in den Krieg gezogen... gegen das einzige Volk, das uns helfen könnte...«
Ihr Vater antwortete nicht, aber mit seinem kühlen Abschied und mit der Art, wie er am Arm seines ältesten Kindes lehnte, machte er Laurana klar, daß er nur noch ein Kind hatte.
Theros ging mit den Elfen. Nach seiner dramatischen Vorführung der Drachenlanze wurde auf dem Treffen von Weißstein einstimmig entschieden, mehr von diesen Waffen herzustellen und alle Rassen zum Kampf gegen die Drachenarmeen zu verbünden.
»Zur Zeit«, verkündete Theros, »haben wir nur diese wenigen Lanzen, die ich in einem Monat schmieden konnte, und ich bringe mehrere uralte Lanzen, die die Silberdrachen in jener Zeit, als die Drachen von der Welt verbannt worden waren, versteckt haben. Aber wir brauchen mehr – viel mehr. Ich brauche Männer, die mir helfen!«
Die Elfen willigten ein, Männer zur Verfügung zu stellen, um Drachenlanzen herzustellen, gleichgültig, ob sie sich am Kampf beteiligen würden oder nicht.
»Diese Angelegenheit muß noch diskutiert werden«, sagte die Stimme.
»Diskutiert nicht zu lange«, schnappte Flint Feuerschmied, »oder ihr findet euch in der Diskussion mit einem Drachenfürsten wieder.«
»Die Elfen behalten ihre Meinung für sich und bitten nicht um den Rat von Zwergen«, erwiderte die Stimme kühl. »Außerdem wissen wir nicht einmal, ob diese Lanzen funktionieren! In der Legende heißt es, daß sie von Demjenigen mit dem Silberarm geschmiedet werden müssen, das steht fest. Aber es heißt auch, daß der Streitkolben von Kharas zum Schmieden benötigt wird. Wo ist der Streitkolben jetzt?« fragte er Theros.
»Der Streitkolben konnte nicht rechtzeitig geholt werden. Er wurde in alten Zeiten benötigt, weil die Geschicklichkeit der Menschen nicht ausreichte, um diese Lanzen herzustellen. Meine ist ausreichend«, fügte dieser stolz hinzu. »Du hast gesehen, was die Lanze mit dem Stein gemacht hat.«
»Wir werden sehen, was sie gegen Drachen ausrichtet«, entgegnete die Stimme, und das zweite Treffen von Weißstein näherte sich seinem Ende. Gunther schlug zum Schluß vor, die Lanzen, die Theros mitgebracht hatte, den Rittern nach Palanthas zu schicken.
Diese Gedanken gingen Laurana durch den Kopf, während sie auf die trostlose winterliche Landschaft starrte. Bald würde es schneien, hatte Fürst Gunther gesagt.
Ich kann hier nicht bleiben, dachte Laurana und drückte ihr Gesicht gegen das eiskalte Fenster. Ich werde verrückt.
»Ich habe Gunthers Karten studiert«, murmelte sie eher zu sich, »und ich habe die Stellungen der Drachenarmeen gesehen. Tanis wird niemals Sankrist erreichen. Und falls er die Kugel hat, ist er sich wohl gar nicht der Gefahr bewußt. Ich muß ihn warnen.«
»Meine Liebe, du redest unvernünftig«, sagte Elistan sanft.
»Wenn Tanis Sankrist nicht sicher erreichen kann, wie willst du ihn dann erreichen? Denk logisch, Laurana...«
»Ich will aber nicht logisch denken!« schrie Laurana, stampfte mit ihrem Fuß auf und starrte den Kleriker wütend an. »Ich bin es leid, vernünftig zu sein! Ich habe diesen ganzen Krieg satt. Ich habe meinen Teil erfüllt – mehr als meinen Teil. Ich will einfach nur Tanis finden!«
Als Laurana Elistans mitfühlendes Gesicht sah, seufzte sie.
»Es tut mir leid, mein teurer Freund. Ich weiß, du sagst die Wahrheit«, sagte sie beschämt. »Aber ich kann hier nicht bleiben und untätig herumsitzen!«
Obwohl Laurana es nicht erwähnte, hatte sie noch eine andere Sorge. Diese menschliche Frau, diese Kitiara. Wo war sie?
Waren sie zusammen, wie sie es im Traum gesehen hatte? Laurana wurde sich plötzlich bewußt, daß sie das Bild, Kitiara mit Tanis, der seinen Arm um sie gelegt hatte, beunruhigender fand als das Bild ihres eigenen Todes.
In diesem Moment betrat Fürst Gunther den Raum.
»Oh!« sagte er überrascht, als er Elistan und Laurana sah.
»Tut mir leid, ich störe hoffentlich nicht...«
»Nein, komm bitte herein«, sagte Laurana schnell.
»Danke«, sagte Gunther, trat ein und schloß sorgfältig die Tür – nachdem er vorher im Korridor nachgesehen hatte, ob niemand in der Nähe war. Er trat zu ihnen ans Fenster. »In der Tat muß ich mit euch beiden reden. Ich habe Wills nach euch geschickt. Das war, glaube ich, am besten. Keiner weiß, daß wir uns unterhalten.«
Noch mehr Intrigen, dachte Laurana müde. Auf ihrer ganzen Reise zu Gunthers Schloß hatte sie nichts anderes als von den politischen Machtkämpfen gehört, die die Ritterschaft zerstörten.
Schockiert und außer sich vor Wut über Gunthers Geschichte von Sturms Verhandlung, war Laurana vor das Kapitel der Ritter getreten, um zu Sturms Verteidigung zu sprechen. Obwohl vor einer Ritterversammlung noch nie eine Frau erschienen war, waren die Ritter von der wortgewandten Rede der kraftvollen, wunderschönen jungen Frau zugunsten Sturms beeindruckt gewesen. Die Tatsache, daß Laurana ein Mitglied der königlichen Elfenfamilie war und daß sie die Drachenlanzen mitgebracht hatte, sprach nur noch mehr für sie.
Selbst Dereks Anhänger, diejenigen, die nicht nach Palanthas gereist waren, hatten nichts an ihr auszusetzen. Aber die Ritter waren unfähig gewesen, eine Entscheidung zu fällen. Der Mann, der Fürst Alfred in seiner Abwesenheit vertrat, stand eher auf Dereks Seite, und Fürst Michael war so wankelmütig, daß Gunther gezwungen war, die Angelegenheit über eine offene Abstimmung entscheiden zu lassen. Die Ritter verlangten Zeit zum Überlegen, und die Versammlung wurde vertagt. Sie hatten sich an diesem Nachmittag wieder versammelt. Offenbar kam Gunther gerade von dort.
Laurana erkannte an Gunthers Blick, daß die Dinge günstig verlaufen waren. Aber wenn das so war, warum dieses Manöver?
»Sturm wurde begnadigt?« fragte sie.
Gunther grinste und rieb sich die Hände. »Nicht begnadigt, meine Liebe. Das hätte seine Schuld impliziert. Nein. Er wurde völlig entlastet! Das habe ich durchgesetzt. Begnadigung wäre für uns alle nicht günstig gewesen. Ihm wurde die Ritterschaft gewährt. Sein Kommando wurde offiziell bestätigt. Und Derek ist in ernsthaften Schwierigkeiten!«
»Das freut mich für Sturm«, sagte Laurana kühl und warf Elistan einen besorgten Blick zu. Obwohl ihr gefiel, was sie von Fürst Gunther gesehen hatte, war sie selbst in einem königlichen Haushalt aufgewachsen und wußte, daß Sturm zu einer Spielkarte gemacht wurde.
Gunther bemerkte das Eis in ihrer Stimme, und sein Gesicht wurde ernst. »Laurana«, sagte er mit betrübter Stimme. »Ich weiß, was du denkst – daß ich Sturm an Fäden ziehe. Laß uns offen und brutal reden. Die Ritter sind gespalten, geteilt in zwei Lager – Dereks und meins. Und wir beide wissen, was mit einem gespaltenen Baum geschieht: beide Teile welken und sterben. Diese Schlacht zwischen uns muß enden, oder es wird tragisch enden. Nun, Laurana und Elistan, ich habe gelernt, euch zu trauen und mich auf euer Urteil zu verlassen, und so frage ich euch: Ihr habt mich kennengelernt, und ihr habt Fürst Derek Kronenhüter kennengelernt. Wen würdet ihr zum Führer der Ritter wählen?«
»Dich natürlich, Fürst Gunther«, sagte Elistan aufrichtig.
Laurana nickte. »Ich stimme dem zu. Diese Fehde ist für die Ritterschaft zerstörerisch. Das habe ich bei dem Rittertreffen gesehen. Und – was ich von den Berichten aus Palanthas gehört habe – schadet es auch unserer Sache. Meine erste Sorge gilt jedoch meinem Freund.«
»Ich verstehe, und ich bin froh, dich so reden zu hören«, sagte Gunther, »denn dadurch fällt es mir leichter, dich um einen sehr großen Gefallen zu bitten.« Gunther nahm Lauranas Arm.
»Ich möchte, daß du nach Palanthas gehst.«
»Was? Warum? Ich verstehe nicht!«
»Natürlich nicht. Laß mich erklären. Setz dich bitte. Du auch, Elistan. Ich gieße uns Wein ein...«
»Für mich nicht«, sagte Laurana und setzte sich ans Fenster.
»Nun gut.« Gunthers Gesicht wurde wieder ernst. Er legte seine Hand auf Lauranas. »Wir kennen uns mit Politik aus, du und ich. Ich werde all meine Karten vor dir offenlegen. Zum Schein wirst du nach Palanthas reisen, um den Rittern den Gebrauch der Drachenlanzen beizubringen. Das ist ein legitimer Grund. Ohne Theros seid ihr, du und der Zwerg, die einzigen, die etwas davon verstehen. Und – laß uns ehrlich sein – der Zwerg ist zu klein, um mit einer Lanze umzugehen.«
Gunther räusperte sich. »Du wirst also die Lanzen nach Palanthas bringen. Aber was wichtiger ist, du wirst ein Entlastungsschreiben des Kapitels mitnehmen, das Sturms Ehre völlig wiederherstellt. Das wird Derek den Todesstoß versetzen. In dem Moment, in dem Sturm seine Rüstung anlegt, werden alle wissen, daß das Kapitel voll hinter mir steht. Es würde mich nicht wundern, wenn Derek nach seiner Rückkehr ein Prozeß erwartet.«
»Aber warum ich?« fragte Laurana barsch. »Ich könnte beispielsweise Fürst Michael den Gebrauch der Drachenlanze beibringen. Er kann sie nach Palanthas bringen, mit dem Schreiben für Sturm...«
»Laurana...«, Fürst Gunther ergriff ihre Hand, zog sie näher und sprach flüsternd weiter, »... du verstehst immer noch nicht! Ich kann Fürst Michael nicht trauen! Ich kann nicht – ich wage nicht, überhaupt einem Ritter zu vertrauen! Derek ist von seinem hohen Roß gestoßen worden – um es so auszudrücken -, aber er hat das Turnier noch nicht verloren. Ich brauche jemanden, dem ich völlig vertrauen kann! Jemand, der Derek durchschaut, und der Sturms beste Interessen im Herzen hat!«
»Ich habe Sturms Interessen im Herzen«, sagte Laurana kühl. »Ich stelle sie über die Interessen der Ritterschaft.«
»Aber vergiß nicht, Laurana«, sagte Gunther, während er sich erhob und sich niederbeugte, um ihre Hand zu küssen. »Sturms einziges Interesse ist die Ritterschaft. Was meinst du wohl, was mit ihm passieren würde, wenn die Ritterschaft fällt? Was würde mit ihm passieren, wenn Derek die Macht ergreift?«
Am Ende willigte Laurana schließlich ein, nach Palanthas zu gehen, wie Gunther es gewußt hatte. Als die Zeit ihrer Abreise heranrückte, begann sie fast jede Nacht von Tanis zu träumen, daß er ankommen würde, nachdem sie gerade einige Stunden zuvor gefahren wäre. Mehr als einmal war sie an dem Punkt, doch noch abzulehnen, aber dann dachte sie an Tanis, daran, daß sie ihm womöglich einmal gegenüberstehen würde und ihm sagen müßte, daß sie sich geweigert hätte, zu Sturm zu gehen, um ihn vor dieser Gefahr zu warnen. Dieser Gedanke hielt sie davon ab, ihre Meinung zu ändern. Dies – und ihre Achtung vor Sturm.
In diesen einsamen Nächten sehnten sich ihr Herz und ihre Arme nach Tanis, und sie hatte Visionen von ihm, wie er diese menschliche Frau mit dem dunklen lockigen Haar, funkelnden braunen Augen und dem merkwürdigen, bezaubernden Lächeln hielt, so daß ihre Seele schmerzliche Qualen litt.
Ihre Freunde konnten ihr nur wenig Trost geben. Einer von ihnen, Elistan, verließ das Schloß, als ein Bote der Elfen erschien, die den Kleriker zu sich baten, und um einen Abgesandten der Ritter als seine Begleitung nachfragten. Es blieb wenig Zeit für den Abschied. Noch am Tag der Ankunft des Elfenboten machten sich Elistan und Fürst Alfreds Sohn, ein ernster junger Mann namens Douglas, auf ihre Reise ins südliche Ergod. Laurana hatte sich noch nie so einsam gefühlt, als sie sich von ihrem Lehrmeister verabschiedete.
Auch Tolpan stand vor einem traurigen Abschied.
Bei all der Aufregung wegen der Drachenlanze hatten alle Gnosch und seine Lebensaufgabe vergessen, die in tausend funkelnden Stücken auf dem Gras lag. Alle, außer Fizban. Der alte Magier erhob sich vom Boden, wo er zusammengekauert vor dem gespaltenen Weißstein gelegen hatte, und ging zu dem schwergeprüften Gnomen, der jammervoll auf die zerstörte Kugel der Drachen starrte.
»Nun, nun, mein Junge«, sagte Fizban, »das ist nicht das Ende von allem!«
»Nein?« fragte Gnosch, dem so elend zumute war, daß er einen Satz zu Ende sprach.
»Nein, natürlich nicht! Du mußt das aus der richtigen Perspektive sehen. Nun, jetzt hast du die Chance, die Kugel der Drachen von innen nach außen zu untersuchen!«
Gnoschs Augen strahlten auf. »Du hast recht«, sagte er nach einer kurzen Pause, »und ich wette, ich könnte sie zusammenkleben...«
»Ja, ja«, sagte Fizban schnell, aber Gnosch stürzte nach vorn, und sein Redestrom wurde immer schneller.
»Wir können die Teile markieren, verstehstdu, unddannzeichnenwireinDiagramm, wojedesTeilaufdemBodengelegenhat, was...«
»Recht, recht«, murmelte Fizban.
»Tretet zur Seite, tretet zur Seite«, sagte Gnosch wichtigtuerisch und schob die Leute von der Kugel weg. »Paßt auf, wohin Ihr geht, Fürst Gunther, und ja, wir werden sie nun von innen nach außen studieren, und in einigen Wochen werde ich meinen Bericht fertiggestellt haben.«
Gnosch und Fizban riegelten den Platz ab und machten sich an die Arbeit. Für die nächsten zwei Tage stand Fizban am zerbrochenen Weißstein und fertigte Zeichnungen an, in denen er angeblich den genauen Standort jedes einzelnen Teils markierte, bevor es eingesammelt wurde. (Eine von Fizbans Zeichnungen landete zufällig im Beutel des Kenders. Tolpan entdeckte später, daß es in Wirklichkeit ein Spiel war, das der Magier gegen sich selbst gespielt und – offenbar – verloren hatte.)
Gnosch kroch derweil glücklich im Gras herum und steckte kleine Pergamentfetzen mit Nummern an Glasteile, die kleiner waren als die Pergamentfetzen. Er und Fizban sammelten schließlich 2687 Stücke der Kugel der Drachen in einen Korb und transportierten sie zurück zum Berg Machtnichts.
Tolpan stand vor der Wahl, bei Fizban zu bleiben oder mit Laurana und Flint nach Palanthas zu reisen. Die Entscheidung war einfach. Der Kender wußte, daß solch unschuldige Wesen wie das Elfenmädchen und der Zwerg ohne ihn nicht überleben konnten. Aber es war hart, seinen alten Freund zu verlassen.
Zwei Tage, bevor das Schiff in See stechen sollte, stattete er den Gnomen und Fizban einen letzten Besuch ab.
Nach einer erheiternden Fahrt mit dem Katapult fand er Gnosch im Untersuchungszimmer. Die Teile der zerbrochenen Kugel der Drachen lagen mit Zetteln und Nummern versehen auf zwei Tischen ausgebreitet.
»Absolutfaszinierend«, Gnosch sprach so schnell, daß er stotterte, »weil wirdasGlasanalysierthaben, merkwürdigesMaterial, soetwashabenwirnochniegesehen, diegrößteEntdekkung, indiesemJahrhundert...«
»Dann ist deine Lebensaufgabe erfüllt?« unterbrach Tolpan.
»Und die Seele deines Vaters...«
»Ruhtgemütlich!« Gnosch strahlte, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. »Undsoglücklichdaßduvorbeikommenkonntest, undwenndujeinderNachbarschaftbistkommvorbeiundbesuchmich...«
»Das werde ich«, sagte Tolpan lächelnd.
Tolpan fand Fizban zwei Ebenen tiefer. (Eine faszinierende Reise – er schrie einfach nur den Namen seiner Ebene, dann sprang er ins Nichts. Netze flatterten hervor, Glocken und Gongs ertönten und Pfeifen bliesen. Tolpan wurde schließlich eine Ebene über dem Boden festgehalten, gerade als der ganze Platz mit Schwämmen überflutet wurde.)
Fizban war in der Waffenentwicklung, umgeben von Gnomen, die ihn mit unverhohlener Bewunderung anstarrten.
»Ah, mein Junge!« sagte er und beäugte Tolpan geistesabwesend. »Du kommst gerade recht, um beim Testen unserer neuen Waffe zuzusehen. Revolutioniert die Kriegsführung. Macht die Drachenlanze altmodisch.«
»Wirklich?« fragte Tolpan aufgeregt.
»Tatsache!« bestätigte Fizban. »Nun, stell dich dort drüben hin...« Er winkte einem Gnomen zu, der zu der Stelle sprang, auf die Fizban gezeigt hatte.
Fizban hob etwas auf, was für den verwirrten Kender wie eine Armbrust aussah, an der sich ein wütender Fischer zu schaffen gemacht hatte. Es war wirklich eine Armbrust. Aber statt eines Pfeils hing ein riesiges Netz am Haken. Fizban befahl den Gnomen, sich hinter ihn zu stellen und Platz zu machen.
»Nun, du bist der Feind«, sagte Fizban zum Gnomen mitten im Zimmer. Der Gnom setzte sofort eine wilde, kriegerische Miene auf. Die anderen Gnomen nickten zustimmend.
Fizban zielte, dann ließ er los. Das Netz segelte durch die Luft, verhedderte sich am Haken der Armbrust und schnappte zurück wie ein einfallendes Segel, um sich um den Magier zu schlingen.
»Verdammter Haken!« murrte Fizban.
Die Gnomen und Tolpan befreiten ihn aus dem Netz.
»Ich glaube, es heißt Abschied nehmen«, sagte Tolpan und streckte langsam seine kleine Hand aus.
»Wirklich?« Fizban sah verwirrt aus. »Soll ich irgendwo hingehen? Niemand hat mir Bescheid gesagt! Ich habe noch nicht gepackt...«
»Ich gehe weg«, sagte Tolpan geduldig, »mit Laurana. Wir nehmen die Lanzen und... oh, ich glaube, ich darf das niemandem sagen«, fügte er verlegen hinzu.
»Mach dir keine Sorgen. Kein Wort darüber«, wisperte Fizban heiser, was deutlich im überfüllten Raum zu hören war.
»Du wirst Palanthas lieben. Wunderschöne Stadt. Grüß Sturm von mir. Oh, und Tolpan«, der alte Magier sah ihn scharf an, »du hast das Richtige getan, mein Junge!«
»Ja?« fragte Tolpan erleichtert. »Da bin ich aber froh.« Er zögerte. »Ich frage mich... was du mir gesagt hast... der dunkle Weg. Habe ich...«
Fizbans Gesicht wurde ernst, als er Tolpan fest an die Schulter griff. »Ich befürchte ja. Aber du hast den Mut, ihn zu begehen.«
»Hoffentlich«, sagte Tolpan mit einem kleinen Seufzer.
»Nun, leb wohl. Ich komme zurück. Sobald der Krieg vorbei ist.«
»Oh, dann bin ich wahrscheinlich nicht mehr hier«, sagte Fizban und schüttelte dabei so heftig den Kopf, daß sein Hut herunterfiel. »Sobald die neue Waffe fertig ist, werde ich nach...«, er hielt inne. »Wohin sollte ich gehen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber mach dir keine Sorgen. Wir werden uns wiedersehen. Zumindest läßt du mich nicht vergraben unter einem Haufen von Hühnerfedern zurück!« murmelte er und suchte nach seinem Hut.
Tolpan hob ihn auf und gab ihn Fizban.
»Auf Wiedersehen«, sagte der Kender mit einem Würgen in der Stimme.
»Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« Fizban winkte fröhlich. Dann, nachdem er den Gnomen einen gehetzten Blick zugeworfen hatte, zog er Tolpan zu sich. »Ah, ich habe etwas vergessen. Wie war noch einmal mein Name?«
Noch eine andere Person verabschiedete sich von dem alten Magier, aber unter anderen Umständen.
Elistan lief zum Strand von Sankrist, um auf das Boot zu warten, das ihn zurück ins südliche Ergod bringen würde. Der junge Mann, Douglas, ging neben ihm. Die zwei waren in eine Unterhaltung vertieft. Elistan erklärte einem hingerissenen und aufmerksamen Zuhörer die Wege der uralten Götter.
Plötzlich sah Elistan hoch und erkannte den alten verwirrten Magier, den er auf dem Treffen von Weißstein gesehen hatte.
Elistan hatte tagelang versucht, den alten Magier zu treffen, aber Fizban war ihm immer aus dem Weg gegangen. Darum war er sehr erstaunt, den alten Mann auf sich zukommen zu sehen.
Sein Kopf war gebeugt, und er murmelte etwas vor sich hin.
Einen Moment lang dachte Elistan, daß er vorbeigehen würde, ohne sie zu bemerken, als der alte Magier plötzlich den Kopf hob.
»Oh! Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?« fragte er blinzelnd.
Einen Moment lang konnte Elistan nicht sprechen. Das Gesicht des Klerikers wurde leichenblaß unter seiner gebräunten Haut. Als er schließlich dem alten Magier antworten konnte, war seine Stimme heiser. »Das sind wir, in der Tat. Mir ist das erst jetzt bewußt geworden. Und obwohl wir erst kürzlich miteinander bekannt gemacht wurden, habe ich das Gefühl, daß ich dich seit sehr langer Zeit kenne.«
»Wirklich?« Der alte Mann blickte argwöhnisch. »Du willst doch wohl nichts über mein Alter sagen, oder?«
»Nein, sicherlich nicht!« Elistan lächelte.
Das Gesicht des alten Mannes hellte sich auf.
»Nun, eine angenehme Reise. Und eine sichere. Leb wohl.«
Auf einen alten, verbeulten Stab gestützt, wackelte der alte Mann an ihnen vorbei. Plötzlich hielt er inne und drehte sich um. »Oh, nebenbei bemerkt, Fizban heiße ich.«
»Das werde ich mir merken«, sagte Elistan ernst und verbeugte sich. »Fizban.«
Erfreut nickte der alte Magier und ging weiter am Strand entlang, während Elistan, plötzlich nachdenklich und still, seinen Weg mit einem Seufzen wieder aufnahm.