Der Nebel hob sich mit der Morgendämmerung.
Der Tag brach hell und klar an – so klar, daß Sturm von den Zinnen das schneebedeckte Grasland seines Geburtsortes in der Nähe der Vingaard-Burg erkennen konnte – ein Land, das nun völlig von den Drachenarmeen kontrolliert wurde. Die ersten Sonnenstrahlen schienen auf die Flagge der Ritter. Das goldene Emblem glitzerte im Morgenlicht. Dann hörte Sturm die rauhen, schmetternden Hörner.
Die Drachenarmee marschierte auf den Turm zu.
Die jungen Ritter – ungefähr hundert an der Zahl – standen schweigend auf den Zinnen und beobachteten die riesige Armee, die mit der Unermüdlichkeit gieriger Insekten über das Land kroch.
Anfangs hatte sich Sturm über die Worte des sterbenden Ritters gewundert. »Sie liefen vor uns!« Warum war die Drachenarmee gerannt? Dann verstand er: Die Drakonier hatten sich die Prahlerei der Ritter in einem uralten, jedoch simplen Manöver zunutze gemacht. Sich vor dem Feind zurückziehen... nicht zu schnell, aber daß es den Anschein hat, die vorderen Reihen würden sich fürchten. Laß den Eindruck entstehen, daß sie in Panik ausbrechen. Laß deinen Feind ruhig angreifen. Dann arbeiten sich deine Armeen heran, umzingeln ihn und schneiden ihn in Stücke.
Sturm brauchte sich die Leichname nicht anzusehen – die in der Ferne im niedergetrampelten blutigen Schnee kaum sichtbar waren -, um zu erkennen, daß er die Lage richtig beurteilt hatte.
Sie lagen dort, wo sie verzweifelt versucht hatten, sich neu zu gruppieren. Es war jetzt gleichgültig, wie sie gestorben waren.
Er fragte sich nur, wer auf seinen Körper sehen würde, wenn alles vorüber war.
Flint spähte durch einen Spalt in der Mauer. »Zumindest werde ich im Trockenen sterben«, murrte der Zwerg.
Sturm lächelte leicht und strich sich seinen Schnurrbart. Seine Augen wanderten nach Osten. Als er über das Sterben nachdachte, sah er auf das Land, in dem er geboren worden war eine Heimat, die er kaum kannte, ein Vater, an den er sich kaum erinnerte, ein Volk, das seine Familie ins Exil getrieben hatte.
Und jetzt gab er sein Leben, um dieses Land zu verteidigen.
Warum? Warum ging er nicht einfach nach Palanthas zurück?
Sein ganzes Leben lang hatte er den Kodex und den Maßstab befolgt. Der Kodex: Est Sularus oth Mithas – Die Ehre ist mein Leben. Der Kodex war das einzige, was ihm noch geblieben war. Der Maßstab hatte versagt. Rigide, unflexibel, hatte der Maßstab die Ritter in Stahl eingeschlossen, der schwerer und dicker war als ihre Rüstungen. Die Ritter, im Überlebenskampf isoliert, hatten sich verzweifelt an den Maßstab geklammert --- und nicht bemerkt, daß er ein Anker war, der sie nach unten zog.
Warum bin ich anders, fragte sich Sturm. Aber er wußte die Antwort. Es lag an dem Zwerg, dem Kender, dem Magier, dem Halb-Elf... Sie hatten ihn gelehrt, die Welt durch andere Augen zu sehen: Schlitzaugen, kleinere Augen, sogar Stundenglasaugen. Ritter wie Derek sahen die Welt nur schwarz und weiß.
Sturm hatte die Welt in all ihren Farben gesehen.
»Es ist Zeit«, sagte er zu Flint. Die beiden stiegen von dem hohen Aussichtspunkt hinunter, gerade als die ersten Giftpfeile des Feindes über die Mauern surrten.
Kreischend und gellend, mit schmetternden Hörnern und klirrenden Schildern und Schwertern griff die Drachenarmee den Turm des Oberklerikers an, als das schwache Sonnenlicht den Himmel erfüllte.
Bei Abendanbruch flatterte die Flagge noch. Der Turm stand. Aber die Hälfte seiner Verteidiger war tot.
Die Lebenden hatten den ganzen Tag keine Zeit gehabt, die starren Augen der Gefallenen zu schließen oder die verzerrten, im Todeskampf erstarrten Glieder zu richten. Ruhe kam erst mit der Nacht, als sich die Drachenarmee zurückzog.
Sturm schritt auf den Zinnen, sein Körper schmerzte vor Müdigkeit. Jedoch immer wenn er versuchte, sich auszuruhen, zuckten angespannte Muskeln, und sein Gehirn schien zu brennen. Und so ging er umher – vor und zurück, vor und zurück mit langsamen, gemessenen Schritten. Er konnte nicht wissen, daß sein fester Gang das Entsetzen des Tages aus den Gedanken der jungen Ritter vertrieb. Ritter im Hof, die die Körper ihrer Freunde und Kameraden aufbahrten und dachten, daß am nächsten Tag ein anderer das für sie selbst tun würde, hörten Sturms festen Schritt und spürten ihre Angst vor dem nächsten Tag schwinden.
Sein Auf- und Abgehen schien alle zu beruhigen, nur ihn selbst nicht. Sturms Gedanken waren düster und quälend: Gedanken an Niederlage; Gedanken an unehrenhaftes Sterben; marternde Erinnerungen an den Traum: sein Körper von den elenden Kreaturen zerhackt und verstümmelt. Würde der Traum sich bewahrheiten? Würde er am Ende versagen, unfähig, die Angst zu bekämpfen? Würde der Kodex ihn im Stich lassen, so wie der Maßstab?
Stapf... stapf... stapf... stapf...
Hör auf! sagte sich Sturm wütend. Du bist bald genauso verrückt wie der arme Derek. Er drehte sich abrupt um und sah sich Laurana gegenüber. Seine Augen trafen ihre, und die düsteren Gedanken hellten sich auf. Solange solch ein Friede und solch eine Schönheit existierten, bestand in dieser Welt Hoffnung. Er lächelte sie an, und sie lächelte zurück – ein angespanntes Lächeln, aber es wischte Müdigkeit und Sorge aus ihrem Gesicht.
»Ruh dich aus«, sagte er ihr. »Du siehst erschöpft aus.«
»Ich habe zu schlafen versucht«, murmelte sie, »aber ich hatte fürchterliche Träume – Hände in Kristall eingeschlossen, riesige Drachen, die durch Steinkorridore fliegen.« Dann hockte sie sich erschöpft in eine windgeschützte Ecke.
Sturms Blick fiel auf Tolpan, der neben ihr lag. Der Kender schlief fest, zu einer Kugel eingerollt. Sturm sah ihn lächelnd an. Nichts konnte Tolpan erschüttern. Der Kender hatte wahrhaftig einen glorreichen Tag erlebt – einen Tag, der ewig in seiner Erinnerung leben würde.
»Ich war noch nie bei einer Belagerung dabei gewesen«, hatte Sturm Tolpan dem Zwerg anvertrauen gehört, nur Sekunden bevor Flint mit seiner Streitaxt einen Goblin geköpft hatte.
»Du weißt, daß wir alle sterben werden«, hatte Flint geknurrt und das schwarze Blut von seiner Klinge gewischt.
»Das hast du schon gesagt, als wir diesem schwarzen Drachen in Xak Tsaroth gegenüberstanden«, hatte Tolpan erwidert.
»Dann hast du das gleiche in Thorbadin gesagt, und dann im Boot...«
»Dieses Mal werden wir sterben!« hatte Flint vor Zorn gebrüllt. »Und wenn ich dich töten muß!«
Aber sie waren nicht gestorben – zumindest nicht heute. Aber es gibt immer noch das Morgen, dachte Sturm, während sein Blick auf den Zwerg fiel, der an einer Mauer lehnte und an einem Holzstück schnitzte.
Flint sah auf. »Wann geht es los?« fragte er.
Sturm seufzte, sein Blick wanderte zum östlichen Himmel.
»Morgendämmerung«, antwortete er. »In wenigen Stunden.«
Der Zwerg nickte. »Können wir durchhalten?« Seine Stimme klang sachlich, die Hand am Holz war fest und beständig.
»Wir müssen«, erwiderte Sturm. »Der Bote wird heute nacht Palanthas erreichen. Wenn sie sofort handeln, erreichen sie uns nach einem zweitägigen Marsch. Wir müssen ihnen zwei Tage geben...«
»Wenn sie sofort handeln?« wiederholte Flint knurrend.
»Ich weiß...«, sagte Sturm leise und seufzte. »Du solltest gehen«, wandte er sich an Laurana. »Geh nach Palanthas. Überzeuge sie von der Gefahr.«
»Dein Bote muß das tun«, sagte Laurana müde. »Wenn er es nicht schafft, wird auch mein Wort sie nicht umstimmen.«
»Laurana«, begann er.
»Brauchst du mich?« fragte sie abrupt. »Kannst du mich hier gebrauchen?«
»Das weißt du selbst«, antwortete Sturm. Er hatte während des Kampfs über die unermüdliche Stärke, den Mut und die Geschicklichkeit des Elfenmädchens gestaunt.
»Dann bleibe ich«, sagte Laurana einfach. Sie wickelte sich in ihre Decke und schloß die Augen. »Ich kann nicht schlafen«, flüsterte sie. Aber innerhalb weniger Minuten kam ihr Atem genauso regelmäßig und leise wie der des schlummernden Kenders.
Sturm schüttelte den Kopf und schluckte. Sein Blick traf Flints. Der Zwerg seufzte und widmete sich wieder seiner Schnitzerei. Keiner sprach, aber beide dachten das gleiche. Sie würde einen schlimmen Tod erleiden, wenn die Drakonier den Turm erobern würden. Lauranas Tod könnte ein Alptraum sein.
Der Himmel im Osten war hell und kündete den Sonnenaufgang an, als die Ritter von den schmetternden Hörnern aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen wurden. Hastig erhoben sie sich und griffen nach ihren Waffen, stellten sich an die Mauern und spähten auf das düstere Land.
Die Lagerfeuer der Drachenarmee brannten schwach und gingen langsam bei Tagesanbruch aus. Sie konnten hören, wie Leben in das Lager kam. Die Ritter umklammerten ihre Waffen und warteten. Dann sahen sie sich verwundert an.
Die Drachenarmee zog sich zurück! Obwohl in der Dunkelheit nur schwach zu erkennen, war es offensichtlich, daß sich die schwarze Welle langsam zurückzog. Sturm beobachtete es verwirrt. Die Armee marschierte hinter den Horizont zurück.
Aber sie waren immer noch da, das wußte Sturm. Er spürte sie.
Einige der jüngeren Ritter begannen zu jubeln.
»Seid ruhig!« befahl Sturm barsch. Ihre Rufe zerrten an seinen angespannten Nerven. Laurana stellte sich neben ihn und sah ihn erstaunt an. Sein Gesicht war im flackernden Fackellicht grau und eingefallen. Seine Fäuste ballten sich nervös.
Seine Augen verengten sich, als er sich nach vorn beugte und in den Osten starrte.
In Laurana kroch mit der Furcht die Kälte hoch. Sie erinnerte sich, was sie Tolpan gesagt hatte.
»Ist es das, was wir befürchtet haben?« fragte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Bete, daß wir uns irren!« sagte er leise mit gebrochener Stimme.
Minuten verstrichen. Nichts passierte. Flint kam zu ihnen und kletterte auf einen zerbrochenen Mauerteil, um über den Mauerrand zu sehen. Tolpan wurde wach und gähnte.
»Wann gibt es Frühstück?« fragte er fröhlich, aber niemand beachtete ihn.
Sie beobachteten und warteten. Jetzt spürten alle Ritter die Furcht in sich aufsteigen, stellten sich an die Mauern und starrten gen Osten, ohne den Grund dafür zu wissen.
»Was ist los?« wisperte Tolpan. Er kletterte zu Flint hoch. Er sah ein kleines rotes Stückchen von der Sonne am Horizont brennen, sein orangefarbenes Feuer färbte den nächtlichen Himmel purpurrot und löschte die Sterne aus.
»Worauf sehen wir?« fragte Tolpan und stieß Flint an.
»Nichts«, knurrte Flint.
»Aber warum gucken wir dann...« Der Kender hielt seinen Atem an. »Sturm...«, stammelte er mit bebender Stimme.
»Was ist?« fragte der Ritter und drehte sich beunruhigt um.
Tolpan starrte weiter. Die anderen folgten seinem Blick, aber ihre Augen waren nicht so gut wie die des Kenders.
»Drachen...«, antwortete Tolpan. »Blaue Drachen.«
»Das dachte ich mir«, sagte Sturm leise. »Die Drachenangst. Darum haben sie ihre Armee zurückgezogen. Die Menschen in ihrer Armee könnten nicht widerstehen. Wie viele Drachen?«
»Drei«, antwortete Laurana. »Ich kann sie jetzt auch sehen.«
»Drei«, wiederholte Sturm mit leerer, ausdrucksloser Stimme.
»Hör zu, Sturm!« Laurana zog ihn zur Mauer zurück. »Ich... wir... wollten nichts sagen. Es spielte keine Rolle, aber jetzt ist es doch wichtig. Tolpan und ich wissen, wie man die Kugel der Drachen benutzt!«
»Kugel der Drachen?« murmelte Sturm, der nicht richtig zuhörte.
»Die Kugel ist hier, Sturm!« redete sie unbeirrt weiter, ihre Hände umklammerten ihn. »Unten im Turm. Tolpan hat sie mir gezeigt. Drei lange und breite Korridore führen zu ihr... und...«
Ihre Stimme erstarb. Plötzlich sah sie, so lebendig wie in dem Traum in der Nacht, Drachen durch Steinkorridore fliegen...
»Sturm!« schrie sie und schüttelte ihn aufgeregt. »Ich weiß, wie die Kugel funktioniert! Ich weiß, wie man die Drachen tötet! Wenn wir jetzt Zeit haben...«
Sturm hielt sie fest, seine starken Hände packten sie bei den Schultern. In all den Monaten, seitdem er sie kannte, hatte er sie noch nie so schön gesehen. Ihr Gesicht, blaß vor Erschöpfung, strahlte vor Aufregung.
»Erzähl mir, schnell!« befahl er.
Laurana erklärte ihm, die Worte sprudelten aus ihr heraus, und der Plan wurde ihr selbst klarer, während sie ihm alles erzählte. Flint und Tolpan beobachteten die beiden, das Gesicht des Zwerges war entsetzt, das Gesicht des Kenders bestürzt.
»Wer wird die Kugel anwenden?« fragte Sturm langsam.
»Ich«, erwiderte Laurana.
»Aber Laurana«, schrie Tolpan, »Fizban hat gesagt...«
»Tolpan, halt den Mund!« zischte Laurana durch ihre zusammengepreßten Zähne. »Bitte, Sturm!« drängte sie. »Es ist unsere einzige Hoffnung. Wir haben die Drachenlanzen – und die Kugel der Drachen!«
Der Ritter sah sie an, dann sah er zu den Drachen, die aus dem immer heller werdenden Osten herbeieilten.
»Nun gut«, sagte er schließlich. »Flint und Tolpan, ihr geht nach unten und versammelt die Männer im Hof. Beeilt euch!«
Tolpan warf Laurana einen letzten besorgten Blick zu, dann sprang er von dem Mauerstück, auf dem er und der Zwerg gestanden hatten. Flint folgte ihm langsam. Sein Gesicht war düster und nachdenklich, als er zu Sturm trat.
Mußt du das tun? fragte Flint Sturm stumm, als sich ihre Blicke trafen.
Sturm nickte einmal. Er blickte zu Laurana und lächelte traurig. »Ich werde es ihr sagen«, sagte er leise. »Paß auf den Kender auf. Leb wohl, mein Freund.«
Flint schluckte und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war eine Maske der Trauer, als er mit einer knorrigen Hand über seine Augen fuhr, dann gab er Tolpan einen Stoß in den Rücken.
»Beweg dich!« schnappte der Zwerg.
Tolpan sah ihn erstaunt an, dann zuckte er die Achseln und hüpfte über die Zinnen und schrie mit seiner schrillen Stimme nach den überraschten Rittern.
Lauranas Gesicht glühte. »Komm auch, Sturm!« sagte sie und zog an ihm wie ein Kind, das seinen Eltern ein neues Spielzeug zeigen will. »Ich erkläre es den Männern, wenn du möchtest. Dann kannst du die Befehle geben und die Schlachtanordnung festlegen...«
»Du führst das Kommando, Laurana«, sagte Sturm.
»Was?« Laurana hielt inne, Furcht fuhr so plötzlich in ihr Herz, daß der Schmerz sie aufkeuchen ließ.
»Du hast gesagt, du brauchtest Zeit«, sagte Sturm und richtete seinen Schwertgürtel, um ihrem Blick auszuweichen. »Du hast recht. Du mußt die Männer in Position bringen. Du brauchst Zeit für die Kugel. Ich werde dir diese Zeit geben.« Er hob einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen auf.
»Nein! Sturm!« Laurana zitterte vor Entsetzen. »Das kann nicht dein Ernst sein! Ich kann nicht befehlen! Ich brauche dich! Sturm, tu mir das nicht an!« Ihre Stimme erstarb zu einem Wispern. »Tu mir das nicht an.«
»Du kannst befehlen, Laurana«, sagte Sturm und nahm ihren Kopf in seine Hände. Er beugte sich vor und küßte sie sanft.
»Leb wohl, Elfenmädchen«, sagte er leise. »Dein Licht wird in dieser Welt scheinen. Meine Zeit ist gekommen. Sei nicht traurig, meine Liebe. Weine nicht.« Er hielt sie fest. »Der Herr der Wälder sagte uns im Düsterwald, daß wir nicht um jene trauern sollen, die ihr Schicksal erfüllt haben. Mein Schicksal ist erfüllt. Jetzt beeil dich, Laurana. Du brauchst jede Sekunde.«
»Nimm wenigstens die Drachenlanze«, bettelte sie.
Sturm schüttelte den Kopf, seine Hand ruhte auf dem alten Schwert seines Vaters. »Ich weiß nicht, wie man sie benutzt. Leb wohl, Laurana. Sag Tanis...« Er hielt inne, dann seufzte er.
»Nein«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Er wird wissen, was in meinem Herzen war.«
»Sturm...« Lauranas Tränen ließen sie nicht sprechen. Sie konnte ihn nur stumm anstarren.
»Geh«, sagte er.
Laurana, blind vor Tränen, schaffte es irgendwie, die Treppen hinunter zum Hof zu gehen. Eine starke Hand ergriff sie hier.
»Flint«, begann sie schluchzend. »Er, Sturm...«
»Ich weiß, Laurana«, erwiderte der Zwerg. »Ich habe es in seinem Gesicht gesehen. Ich glaube, ich habe es schon gesehen, seitdem ich mich erinnern kann. Alles liegt nun bei dir. Du darfst ihn nicht enttäuschen.«
Laurana holte tief Luft, dann wischte sie ihre Tränen weg und trocknete ihr Gesicht, so gut es ging. Sie holte noch einmal tief Luft und hob ihren Kopf.
»Nun«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich bin bereit. Wo ist Tolpan?«
»Hier«, antwortete eine dünne Stimme.
»Geh nach unten. Du hast die Worte in der Kugel schon einmal gelesen. Lies sie noch einmal. Vergewissere dich, daß du alles richtig verstehst.«
»Ja, Laurana.« Tolpan schluckte und rannte weg.
»Die Ritter sind versammelt«, sagte Flint. »Sie warten auf dein Kommando.«
»Sie warten auf mein Kommando«, wiederholte Laurana geistesabwesend.
Zögernd sah sie hoch. Die roten Strahlen der Sonne blitzten auf Sturms heller Rüstung, als der Ritter die schmalen Stufen hochstieg, die zu einer Mauer weiter oben nahe dem mittleren Turm führten. Seufzend senkte sie ihren Blick auf den Hof, wo die Ritter warteten.
Laurana holte noch einmal tief Luft, dann schritt sie auf sie zu, der rote Busch flatterte an ihrem Helm, ihr goldenes Haar leuchtete im Morgenlicht.
Die kalte Sonne färbte den Himmel blutrot, vermischte sich mit der bläulichen Schwärze der schwindenden Nacht. Der Turm stand noch im Schatten, obwohl Sonnenstrahlen bereits die goldenen Fäden der flatternden Flagge aufleuchten ließen.
Sturm erreichte die Mauer. Über ihm ragte der Turm in die Höhe. Die Brustwehr, auf der Sturm stand, erstreckte sich mehr als dreißig Meter zu seiner Linken. Ihre steinerne Oberfläche war glatt und bot keinen Schutz, keine Deckung.
Im Osten sah Sturm die Drachen.
Es waren blaue Drachen, und auf dem Rücken des führenden Drachen saß ein Drachenfürst, die blauschwarze Drachenschuppenrüstung glänzte in der Sonne. Er konnte die entsetzliche gehörnte Maske und den schwarzen Umhang im Wind flattern sehen. Zwei andere blaue Drachen mit Reitern folgten dem Drachenfürsten. Sturm warf ihnen nur einen kurzen Blick zu.
Sie kümmerten ihn nicht. Den Kampf würde er mit dem Anführer, mit dem Fürsten, austragen.
Der Ritter sah nach unten in den Hof. Das Sonnenlicht kletterte gerade an den Mauern hoch. Sturm sah es an den Spitzen der silbernen Drachenlanzen rot aufblitzen, die nun jeder Mann in den Händen hielt. Er sah es auf Lauranas goldenem Haar brennen. Er sah die Männer zu ihm hochsehen. Er umklammerte sein Schwert und hob es in die Luft. Das Sonnenlicht blitzte auf der verzierten Klinge.
Laurana lächelte zu ihm hoch, obwohl sie ihn durch ihre Tränen kaum sehen konnte, und hob ihre Drachenlanze als Antwort in die Luft – ihr Abschied.
Getröstet von ihrem Lächeln wandte sich Sturm um, um seinen Feind zu erwarten.
Er ging zur Mitte der Mauer. Er wirkte wie eine kleine Gestalt, die zwischen Land und Himmel schwebte. Die Drachen konnten an ihm vorbeifliegen oder ihn umkreisen, aber das wollte er nicht. Sie sollten ihn als Bedrohung sehen. Sie sollten sich Zeit nehmen, um mit ihm zu kämpfen.
Er steckte das Schwert in die Scheide, legte einen Pfeil auf und zielte sorgfältig auf den Drachen an der Spitze. Geduldig wartete er und hielt den Atem an. Ich darf ihn nicht verschwenden, dachte er. Warte... warte...
Der Drache war nun in Schußweite. Sturms Pfeil zischte durch die Luft. Er erreichte sein Ziel. Der Pfeil traf den blauen Drachen am Hals. Er richtete wenig Schaden an, prallte an den blauen Schuppen ab, aber der Drache hob vor Schmerz und Verärgerung den Kopf und verlangsamte seinen Flug. Schnell schoß Sturm einen weiteren Pfeil ab, dieses Mal auf den Drachen, der direkt hinter dem Führer flog.
Der Pfeil bohrte sich in seinen Flügel, und der Drache kreischte vor Wut auf. Sturm schoß wieder. Dieses Mal wich der Reiter des führenden Drachen aus. Aber der Ritter hatte erreicht, was er wollte: Er hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, gezeigt, daß er eine Gefahr darstellte, sie gezwungen, mit ihm zu kämpfen. Er konnte die Geräusche von laufenden Füßen im Hof und das schrille Quietschen der Kurbeln, die die Gatter öffneten, hören.
Jetzt konnte Sturm sehen, wie sich der Drachenfürst in seinem Sattel erhob. Der Sattel war wie ein Streitwagen gebaut, so daß der Reiter auch stehend kämpfen konnte. Der Fürst hielt einen Speer in seiner behandschuhten Hand. Sturm ließ seinen Bogen fallen. Er hob seinen Schild auf, zog sein Schwert und beobachtete, wie der Drachen immer näher und näher kam, seine roten Augen funkelten, seine weißen Reißzähne blitzten.
Dann hörte Sturm weit entfernt den klaren hellen Schall einer Trompete, sein Klang war so kalt wie die Luft der schneebedeckten Berge seiner Heimat. Rein und klar schnitt der Trompetenruf in sein Herz, erhob sich mutig über die Dunkelheit und den Tod und die Verzweiflung, die ihn umgab.
Sturm beantwortete den Ruf mit einem wilden Schlachtruf, hob sein Schwert, um seinen Feind zu grüßen. Das Sonnenlicht blitzte rot auf seine Klinge. Der Drache schoß nach unten.
Wieder erscholl die Trompete, und wieder wollte Sturm antworten. Aber dieses Mal erkannte Sturm, daß er diese Trompete schon einmal gehört hatte.
Der Traum!
Sturm umklammerte sein Schwert mit einer Hand. Der Drache war drohend über ihm. Auf dem Drachen saß der Fürst, die Hörner seiner Maske flackerten blutrot, sein Speer war bereit.
Furcht ließ Sturms Magen sich zusammenziehen, seine Haut wurde eiskalt. Der Trompetenruf ertönte ein drittes Mal. Wie im Traum, und nach dem dritten Ruf war er umgekommen. Die Drachenangst überwältigte ihn. Flucht! schrie sein Bewußtsein.
Flucht! Die Drachen würden in den Hof einfallen. Die Ritter konnten noch nicht bereit sein, sie würden sterben, Laurana, Flint und Tolpan... Der Turm würde fallen.
Nein! Sturm riß sich zusammen. Alles andere war verloren: seine Ideale, seine Hoffnungen, seine Träume. Der Maßstab hatte sich als fehlerhaft erwiesen. Alles in seinem Leben war sinnlos. Aber sein Tod durfte nicht sinnlos sein. Er würde für Laurana Zeit herausholen, sie mit seinem Leben herausholen, denn das war alles, was er zu geben hatte. Und er würde nach dem Kodex sterben, denn das war alles, woran er sich klammern konnte.
Er hob sein Schwert in die Luft und schrie den ritterlichen Gruß an den Feind. Zu seiner Überraschung wurde er mit einer ernsten Würde von dem Drachenfürsten erwidert. Dann fuhr der Drache mit offenem Maul herab, bereit, den Ritter mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen zu zerreißen. Sturm schwang sein Schwert in einem Bogen und zwang den Drachen, seinen Kopf einzuziehen. Sturm hoffte, seinen Flug zu unterbrechen. Aber die Kreatur hielt seine Flügel auseinander, sein Reiter lenkte ihn sicher mit der einen Hand, während die andere den Speer hielt.
Sturm blickte nach Osten. Halbgeblendet von der Sonne sah Sturm den Drachen nur als einen schwarzen Fleck. Die Kreatur flog tiefer, bis sie auf gleicher Höhe mit der Mauer war. Da wurde ihm klar, daß der Drache von unten nach oben fliegen und seinem Reiter Platz zum Angriff geben würde.
Einen Moment lang war der sonnendurchflutete Himmel leer, dann schoß der Drache über den Mauerrand, sein entsetzlicher Schrei zerriß Sturms Trommelfell. Der Atem aus dem klaffenden Drachenmaul schnürte ihm die Kehle zusammen. Er taumelte benommen, aber schaffte es, auf den Füßen zu bleiben, als er mit seinem Schwert ausholte. Die uralte Klinge schlug in die linke Nüster des Drachen. Schwarzes Blut spritzte in die Luft.
Der Drache brüllte auf.
Aber der Hieb war teuer erkauft. Sturm blieb keine Zeit, sich zu erholen.
Der Drachenfürst hob seinen Speer, die Spitze leuchtete in der Sonne. Er beugte sich vor und stieß den Speer tief durch die Rüstung, durch das Fleisch und die Knochen.
Sturms Sonne zerbrach.