14 Die Kugel der Drachen. Drachenlanze

Die Ritter eilten an Laurana vorbei in den Turm des Oberklerikers und nahmen ihre Plätze ein, wie sie es ihnen erklärt hatte. Obwohl sie anfangs skeptisch waren, kam Hoffnung auf, als Laurana ihren Plan darlegte.

Der Hof war leer. Laurana wußte, daß sie sich beeilen mußte.

Sie sollte schon längst bei Tolpan sein und sich auf die Kugel der Drachen vorbereiten. Aber Laurana konnte diese glänzende einsame Figur oben auf der Mauer nicht verlassen.

Dann sah sie die Drachen am Himmel.

Schwert und Speer blitzten im hellen Sonnenlicht auf.

Lauranas Welt hörte auf, sich zu drehen. Die Zeit verlangsamte sich wie in einem Traum.

Das Schwert war blutig. Der Drache kreischte auf. Der Speer hing eine Ewigkeit in der Luft. Dann stand die Sonne still.

Der Speer stach zu.

Ein glänzender Gegenstand fiel langsam von der Mauer in den Hof. Der Gegenstand war Sturms Schwert, aus seiner leblosen Hand gefallen, und es war für Laurana die einzige Bewegung in einer bewegungslosen Welt. Der Körper des Ritters blieb stehen, aufgespießt vom Speer des Drachenfürsten. Der Drache schwebte darüber, seine Flügel im Gleichgewicht.

Nichts bewegte sich, alles hielt völlig still.

Dann riß der Fürst seinen Speer heraus, und Sturms Körper fiel da, wo er stand, zusammen, eine dunkle Masse gegen das Sonnenlicht. Der Drache brüllte auf, und ein Blitz fuhr aus seinem blutigen Maul, der in den Turm des Oberklerikers schlug. Mit einer dröhnenden Explosion fiel das Gestein zusammen. Flammen, heller als die Sonne, loderten auf. Die beiden anderen Drachen flogen nach unten zum Hof, als Sturms Schwert klirrend auf den Pflasterstein aufprallte.

Die Zeit lief wieder.

Laurana sah die Drachen auf sich zufliegen. Der Boden um sie erbebte, als die Steine nach unten fielen und Rauch und Staub die Luft füllten. Laurana konnte sich immer noch nicht bewegen. Sich zu bewegen, würde die Tragödie Wirklichkeit werden lassen. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu: Wenn du ganz stillstehst, wird nichts passieren.

Aber da lag das Schwert, nur wenige Meter von ihr entfernt.

Und sie sah den Drachenfürsten mit dem Speer winken, ein Signal zum Angriff für die Drachenarmee, die draußen auf den Ebenen wartete. Laurana hörte das Schmettern der Hörner. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Drachenarmee über das schneebedeckte Land ziehen.

Wieder bebte der Boden unter ihren Füßen. Laurana zögerte noch einen Augenblick und schickte dem Ritter ein stummes Lebewohl. Dann rannte sie, stolperte, als sich der Boden hob.

Sie bückte sich, ergriff Sturms Schwert und schwang es trotzig in die Luft.

»Soliasi Arath!« schrie sie in der Elfensprache. Ihre Stimme übertönte die Geräusche der Zerstörung in Herausforderung an die angreifenden Drachen.

Die Drachenreiter lachten und schrien verächtlich zurück.

Die Drachen kreischten vor grausamer Freude am Töten. Laurana lief auf das riesige geöffnete Gatter zu, den Eingang zum Turm. Die Steinmauern verschwammen vor ihren Augen, als sie an ihnen vorbeilief. Sie konnte einen Drachen hören, der sie verfolgte. Sie konnte seinen schnarrenden Atem hören, das Aufschlagen seiner Flügel. Sie hörte den Befehl des Drachenreiters an den Drachen, ihr nicht direkt in den Turm zu folgen. Gut! Laurana lächelte grimmig.

Sie lief durch den Korridor, eilte durch das zweite Gatter.

Ritter standen hier, bereit, es zu schließen.

»Laßt es offen!« keuchte sie atemlos. »Vergeßt nichts!«

Sie nickten. Sie eilte weiter. Jetzt war sie in der dunklen, engeren Kammer, in der sich die merkwürdig geformten zahnartigen Säulen erhoben. Hinter den Säulen sah sie weiße Gesichter hinter glänzenden Helmen. Hier und dort funkelte eine Drachenlanze. Die Ritter sahen sie an, als sie an ihnen vorbeilief.

»Geht zurück!« schrie sie. »Bleibt hinter den Säulen.«

»Sturm?« fragte einer.

Laurana schüttelte den Kopf, zu erschöpft, um zu antworten.

Sie rannte durch das dritte Gatter, das seltsame mit dem Loch in der Mitte. Hier standen vier Ritter und Flint. Dies war die Schlüsselposition. Laurana wollte hier jemanden, auf den sie sich verlassen konnte. Sie konnte mit dem Zwerg nur einen kurzen Blick tauschen, aber das reichte aus. Flint konnte das Ende seines Freundes aus ihrem Gesicht ablesen. Der Zwerg senkte einen Moment seinen Kopf, eine Hand über den Augen.

Laurana lief weiter. Durch den kleinen Raum, an den Doppeltüren aus solidem Stahl vorbei und dann in die Kammer mit der Kugel der Drachen.

Tolpan hatte die Kugel mit seinem Taschentuch abgestaubt.

Laurana konnte nun in sie hineinsehen, ein blaßroter Nebel mit unzähligen Farben wirbelte auf. Der Kender stand davor und starrte hinein, seine magischen Gläser saßen auf seiner kleinen Nase.

»Was muß ich tun?« keuchte Laurana atemlos.

»Laurana«, bettelte Tolpan, »tu es nicht. Ich habe gelesen wenn du nicht die Essenz der Drachen in der Kugel kontrollierst, werden die Drachen kommen, Laurana, und Kontrolle über dich gewinnen!«

»Sag mir, was ich tun muß!« sagte Laurana mit fester Stimme.

»Leg deine Hände auf die Kugel«, stammelte Tolpan, »und nein, warte, Laurana!«

Aber es war zu spät. Laurana hatte bereits beide Hände auf die eisige Kristallkugel gelegt. Farben blitzten in der Kugel auf, so hell, daß Tolpan seine Augen bedecken mußte.

»Laurana!« schrie er mit schriller Stimme. »Hör zu! Du mußt dich konzentrieren. Laß alles aus dem Bewußtsein hinaus, außer dem Willen, die Kugel an dich zu binden! Laurana...«

Falls sie ihn gehört hatte, zeigte sie keine Reaktion, und Tolpan bemerkte, daß sie bereits in die Schlacht um die Kontrolle mit der Kugel vertieft war. Ängstlich erinnerte er sich an Fizbans Warnung, Tod für jene, die du liebst, schlimmer noch – der Verlust der Seele. Er verstand die unheilverkündenden Worte, die in den flammenden Farben der Kugel geschrieben standen, nur undeutlich, aber er wußte genug, um sich klar zu sein, daß Lauranas Seele sich in Gefahr befand.

Voller Qualen beobachtete er sie, wollte ihr helfen – obwohl er wußte, daß er sich nicht trauen würde, etwas zu tun. Laurana stand lange Zeit unbeweglich da, die Hände auf der Kugel. Ihr Gesicht verlor langsam jedes Leben. Ihre Augen starrten tief in die wirbelnden Farben. Dem Kender wurde beim Zusehen schwindelig, und er drehte sich um. Draußen erfolgte eine weitere Explosion. Staub rieselte von der Decke. Tolpan bewegte sich unruhig. Aber Laurana rührte sich nicht.

Ihre Augen waren geschlossen, ihr Kopf nach vorn gebeugt.

Sie umklammerte die Kugel, ihre Hände waren weiß von dem Druck, den sie ausübte. Dann begann sie zu wimmern und ihren Kopf zu schütteln. »Nein«, stöhnte sie, und es schien, als ob sie verzweifelt versuchte, ihre Hände wegzuziehen. Aber die Kugel hielt sie fest.

Tolpan fragte sich düster, was er tun sollte. Er hätte sie am liebsten weggezogen. Er wünschte sich, er hätte diese Kugel zerstört, aber jetzt war es zu spät.

Laurana zuckte und bebte am ganzen Körper. Tolpan sah, wie sie auf die Knie fiel, ihre Hände hielten immer noch die Kugel fest. Dann schüttelte Laurana wütend den Kopf. Sie murmelte unbekannte Worte in der Elfensprache, kämpfte darum, aufzustehen, benutzte die Kugel, um sich hochzuziehen.

Ihre Hände liefen vor Anstrengung weiß an, und ihr Gesicht war schweißüberströmt. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen. Mit quälender Langsamkeit kam sie wieder auf die Füße.

Die Kugel funkelte ein letztes Mal auf, die Farben wirbelten zusammen, wurden zu allen Farben und doch zu keiner. Dann strömte aus der Kugel ein helles, reines, weißes Licht. Laurana stand aufrecht vor ihr. Ihr Gesicht entspannte sich. Sie lächelte.

Dann brach sie ohnmächtig auf dem Boden zusammen.

Im Hof des Turms des Oberklerikers verwandelten die Drachen die Steinmauern systematisch zu Schutt. Die Armee näherte sich dem Turm, Drakonier in den vorderen Reihen, bereit, durch die eingestürzten Mauern zu stürmen und alles zu töten, was noch lebendig war. Der Drachenfürst kreiste über dem Chaos, die Nüster seines blauen Drachen war schwarz vor getrocknetem Blut. Der Fürst überwachte die Zerstörung des Turms. Alles verlief gut, bis das helle Tageslicht von einem reinen weißen Licht, das aus den drei riesigen geöffneten Turmeingängen drang, überstrahlt wurde.

Die Drachenreiter sahen auf diese Lichtstrahlen, sich fragend, was sie wohl ankündigten. Ihre Drachen reagierten jedoch anders. Sie hoben ihre Köpfe, ihre Augen irrten umher. Die Drachen hörten den Ruf.

Gefangen von uralten Magiern, unter Kontrolle gebracht von einem Elfenmädchen – tat die Essenz der Drachen, die in der Kugel gehalten wurde, das, was sie tun mußte. Sie sandte ihren unwiderstehlichen Ruf aus. Und den Drachen blieb nichts anderes übrig, als diesem Ruf zu gehorchen und verzweifelt zu versuchen, seine Quelle zu erreichen.

Vergeblich versuchten die verwirrten Drachenreiter, ihre Drachen zu lenken. Aber die Drachen hörten längst nicht mehr auf die befehlenden Stimmen ihrer Reiter, sondern nur noch auf die Stimme der Kugel. Beide Drachen stürzten auf die einladenden Gatter zu, während ihre Reiter schrien und wild um sich traten.

Das weiße Licht breitete sich über den Turm hinaus aus, fiel auf die vorderen Reihen der Drachenarmee, und die Befehlshaber erstarrten, als ihre Armee wahnsinnig wurde.

Der Ruf der Kugel war für die Drachen deutlich. Aber Drakonier, die nur zum Teil Drachen waren, nahmen den Ruf als eine betäubende Stimme wahr, die wirre Befehle ausstieß. Jeder hörte die Stimme anders, jeder vernahm einen anderen Ruf.

Einige Drakonier fielen auf die Knie, umklammerten in Höllenqualen ihre Köpfe. Andere drehten sich um und flohen vor einem unsichtbaren Entsetzen. Wieder andere ließen ihre Waffen fallen und rannten direkt auf den Turm zu. Innerhalb weniger Augenblicke war ein organisierter, gut durchdachter Angriff zum Massenchaos geworden, als tausend Drakonier in tausend Richtungen kreischend auseinanderstoben. Die Goblins, die den Hauptteil ihrer Streitmacht ausbrechen und rennen sahen, verließen prompt das Schlachtfeld, während die Menschen verwirrt mitten im Durcheinander stehenblieben und auf Befehle warteten, die nicht kamen.

Der Drache des Drachenfürsten war trotz der Willensstärke seines Reiters kaum unter Kontrolle zu halten. Und die beiden anderen Drachen waren nicht mehr aufzuhalten. Der Fürst konnte nur ohnmächtig vor Wut kochen und versuchen zu entscheiden, was dieses weiße Licht bedeuten könnte und woher es kam. Und – falls möglich – versuchen, es zu löschen.

Der erste blaue Drache erreichte das erste Gatter und stürzte durch den riesigen Eingang, sein Reiter duckte sich rechtzeitig, um nicht von der Mauer geköpft zu werden. Dem Ruf der Kugel gehorchend, flog der blaue Drachen mühelos durch den breiten Steinkorridor, seine Flügelenden berührten gerade noch die Wände.

Er schoß durch das zweite Gatter und war in der Kammer mit den seltsamen zahnartigen Säulen. Hier, in dieser zweiten Kammer, roch er Menschenfleisch und Stahl, aber er war so von der Kugel in den Bann geschlagen, daß er ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte. Die Kammer war kleiner, so daß er gezwungen war, die Flügel enger an den Körper zu ziehen.

Flint beobachtete sein Kommen. In seinen ganzen hundertvierzig Jahren hatte er niemals solch einen Anblick erlebt... und er hoffte, ihn nicht noch einmal erleben zu müssen. Die Drachenangst brach über die Männer in dem engen Raum herein.

Die jungen Ritter, deren zitternde Hände die Lanzen umklammerten, wichen an die Wände zurück, verbargen ihre Augen, als der monströse, blauschuppige Körper an ihnen vorbeisauste.

Der Zwerg taumelte gegen die Wand zurück, seine kraftlose Hand ruhte schwach auf dem Mechanismus, der das Gatter schließen würde. In seinem Leben war er noch nie so verängstigt gewesen. Der Tod wäre willkommen, wenn er nur dieses Entsetzen beenden würde. Aber der Drachen raste weiter, wollte nur eins – die Kugel erreichen. Sein Kopf glitt unter das seltsame Gatter.

Instinktiv handelnd, wissend, daß der Drache die Kugel nicht erreichen durfte, löste Flint den Mechanismus. Das Gatter schloß sich um den Hals des Drachen und hielt ihn fest. Der Drachenkopf war nun gefangen. Sein kämpfender Körper lag hilflos, Flügel an seine Seiten gepreßt, in der Kammer, in der die Ritter mit den Drachenlanzen standen.

Zu spät bemerkte der Drache, daß er in der Falle saß. Er heulte vor Wut. Die Steine bebten, und breite Spalten bildeten sich, als er sein Maul öffnete, um die Kugel der Drachen mit seinem blitzenden Atem zu vernichten. Tolpan, der voller Panik versuchte, Laurana wiederzubeleben, starrte in zwei flammende Augen. Er sah das offene Maul des Drachen, hörte, wie der Drache einatmete.

Blitze züngelten aus der Kehle des Drachen, die Erschütterung warf den Kender zu Boden. Steine explodierten in dem Raum, und die Kugel der Drachen erbebte auf ihrem Gestell.

Tolpan lag auf dem Boden, von dem Angriff wie gelähmt. Er konnte sich nicht bewegen, und er wollte sich auch gar nicht bewegen. Er lag einfach nur da und wartete auf den nächsten Blitz, von dem er wußte, daß er Laurana töten würde – falls sie nicht schon tot war – und auch ihn. Aber in diesem Moment war ihm alles egal.

Aber der Angriff kam nie.

Der Mechanismus kam schließlich in Bewegung. Die doppelte Stahltür schloß sich vor der Drachenschnauze und hielt den Kopf der Kreatur in dem kleinen Zimmer gefangen.

Zuerst war es tödlich still. Dann hallte ein unvorstellbar schrecklicher Schrei durch die Kammer. Es war ein hohes, schrilles Jammern, das sich im Todeskampf steigerte, als die Ritter aus ihren Verstecken hervortraten und die silbernen Drachenlanzen in den blauen, sich krümmenden Körper des gefangenen Drachen stießen.

Tolpan hielt seine Ohren zu, versuchte, den schrecklichen Schrei nicht zu hören. Immer wieder stellte er sich die grausamen Bilder vor, die er gesehen hatte, als die Drachen die Städte zerstört und unschuldige Leute abgeschlachtet hatten. Der Drache hätte auch ihn getötet, das wußte er, ohne Gnade getötet.

Wahrscheinlich hatte er bereits Sturm getötet. Er versuchte, weiter daran zu denken, versuchte, sein Herz zu verhärten.

Aber der Kender vergrub seinen Kopf in seine Hände und weinte.

Dann spürte er eine sanfte Hand.

»Tolpan«, flüsterte eine Stimme.

»Laurana!« Er hob den Kopf. »Laurana! Es tut mir leid. Es sollte mir egal sein, was sie mit dem Drachen tun, aber ich kann es nicht ertragen, Laurana! Warum muß immer getötet werden? Ich halte es nicht aus!« Tränen liefen über sein Gesicht.

»Ich weiß«, murmelte Laurana, lebhafte Erinnerungen an Sturms Tod vermischten sich mit dem Kreischen des sterbenden Drachen. »Schäm dich nicht, Tolpan. Sei dankbar, daß du Mitleid und Entsetzen beim Tod eines Feindes empfinden kannst. Der Tag, an dem wir aufhören, uns zu sorgen – selbst um unsere Feinde -, ist der Tag, an dem wir diese Schlacht verloren haben.«

Das Jammern wurde immer lauter. Tolpan streckte seine Arme aus, und Laurana hielt ihn eng an sich gedrückt. Die zwei blieben in der Umarmung und versuchten, die Schreie des sterbenden Drachen nicht mehr zu hören. Dann hörten sie etwas anderes – die Ritter riefen eine Warnung. Ein zweiter Drache war in die andere Kammer geflogen und hatte seinen Reiter gegen die Wand geschleudert, als er sich durch den kleineren Eingang kämpfte, um dem Ruf der Kugel der Drachen zu folgen.

In diesem Moment erzitterte der Turm von oben bis unten, geschüttelt von dem heftigen Aufheulen des gequälten Drachen.

»Komm!« schrie Laurana. »Wir müssen hier raus!« Sie zog Tolpan auf die Füße und stolperte auf eine kleine Tür in der Wand zu, die sie nach draußen in den Hof führen würde. Laurana riß die Tür auf, gerade als der Kopf des Drachen in den Raum mit der Kugel platzte. Tolpan konnte nicht anders, als einen Moment lang hinzusehen. Der Anblick war faszinierend.

Er konnte die flackernden Augen des Drachen sehen – wahnsinnig vor Wut über den anderen sterbenden Drachen, zu spät erkennend, daß er in dieselbe Falle geflogen war. Das Drachenmaul verzog sich zu einem bösartigen Knurren, dann atmete er tief ein. Die doppelten Stahltüren fielen vor dem Drachen zu – aber nur halb.

»Laurana, die Tür klemmt!« schrie Tolpan. »Die Kugel der Drachen...«

»Komm!« Laurana riß an der Wand des Kenders. Ein Blitz schlug ein, und Tolpan drehte sich um und floh, hörte, wie die Kammer in Flammen aufging. Steine und Schutt füllten den Raum. Die Kugel der Drachen wurde unter dem Schutt vergraben, als der Turm des Oberklerikers zusammenstürzte.

Der Schock ließ Laurana und Tolpan taumeln und schleuderte sie gegen eine Mauer. Tolpan half Laurana auf die Füße, und beide liefen weiter.

Dann war alles still. Der Donner von herunterprasselnden Steinen hörte auf. Tolpan und Laurana blieben einen Moment stehen, um Atem zu holen, und sahen sich um. Der Eingang war von den riesigen Felsen des Turms blockiert.

»Was ist mit der Kugel der Drachen?« keuchte Tolpan.

»Es ist besser, wenn sie zerstört wird.«

Da Tolpan Laurana jetzt besser im Tageslicht sehen konnte, war er über ihren Anblick schockiert. Ihr Gesicht war totenblaß, selbst ihre Lippen waren blutleer. Die einzige Farbe war in ihren grünen Augen, und die schienen beunruhigend groß, überzogen mit roten Flecken.

»Ich könnte es nicht noch einmal machen«, flüsterte sie, mehr zu sich als zu ihm. »Ich hätte beinahe aufgegeben. Hände... ich kann darüber nicht reden!« Sie erschauerte und schloß die Augen.

»Dann habe ich mich an Sturm erinnert, der auf der Mauer stand, allein dem Tod gegenüber. Wenn ich aufgegeben hätte, wäre sein Tod sinnlos gewesen. Das durfte nicht geschehen.«

Zitternd schüttelte sie den Kopf. »Ich zwang die Kugel, meinem Befehl zu gehorchen, aber ich wußte, daß ich das nur einmal tun könnte. Und niemals, niemals wieder werde ich so etwas durchmachen können!«

»Sturm ist tot?« stammelte Tolpan mit zitternder Stimme.

Laurana sah ihn an, ihre Augen wurden weich. »Es tut mir leid, Tolpan«, sagte sie. »Mir war nicht klar, daß du das nicht weißt. Er... er ist im Kampf gegen einen Drachenfürsten gestorben.«

»Ging es... ging es...«, würgte Tolpan.

»Ja, es ging schnell«, sagte Laurana leise. »Er hat nicht lange gelitten.«

Tolpan senkte seinen Kopf, hob ihn aber schnell wieder, als eine weitere Explosion den Boden erschütterte.

»Die Drachenarmee...«, murmelte Laurana. »Unser Kampf ist noch nicht zu Ende.« Ihre Hand fuhr über den Knauf von Sturms Schwert, das sie um ihre Taille gegürtet hatte. »Geh und such Flint.«

Laurana tauchte aus dem Tunnel im Hof auf und blinzelte im hellen Licht, fast überrascht, daß es ruhig war. Es war so viel geschehen, als ob Jahre verstrichen wären. Aber die Sonne hatte sich gerade über den Hofmauern erhoben.

Der hohe Turm des Oberklerikers war verschwunden, in sich zusammengestürzt, ein Haufen Steinschutt mitten im Hof. Die Eingänge und Korridore zur Kugel der Drachen waren nicht beschädigt, außer an den Stellen, wo die Drachen hineingestürzt waren. Die Mauern der äußeren Festung standen noch, obwohl an einigen Stellen beschädigt, ihre Steine waren von den Blitzen der Drachen geschwärzt.

Aber keine Soldaten strömten über die Mauern. Es war ruhig, stellte Laurana fest. Aus den Tunneln konnte sie die Schreie des sterbenden zweiten Drachen hören und die heiseren Schreie der Ritter.

Was war mit der Armee geschehen, fragte sich Laurana und blickte sich verwirrt um. Sie müssen doch über die Mauern kommen. Ängstlich sah sie zu den Zinnen hoch, erwartete, die Kreaturen dort zu sehen.

Und dann sah sie die Sonne auf eine glänzende Rüstung scheinen. Sie sah die Gestalt auf der Mauer liegen.

Sturm. Sie erinnerte sich an den Traum, erinnerte sich an die blutigen Hände der Drakonier, die Sturms Körper zerhackten.

Das darf nicht geschehen! dachte sie grimmig. Sie zog Sturms Schwert und lief über den Hof. Sofort wurde ihr klar, daß die uralte Waffe zu schwer für sie war. Aber was gab es sonst noch? Sie blickte sich eilig um. Die Drachenlanzen! Sie ließ das Schwert fallen und ergriff eine Lanze. Dann stieg sie die Treppen hoch.

Laurana erreichte die Zinnen und starrte über das Land, erwartete, die schwarze Welle der Armee vorwärts rollen zu sehen.

Aber das Land war wie leergefegt. Es gab nur einige Gruppen von Menschen, die herumstanden und um sich blickten.

Was hatte das zu bedeuten? Laurana war zu erschöpft, um nachzudenken. Sie wurde von Müdigkeit und Trauer erfüllt. Sie zog die Lanze hinter sich her und stolperte zu Sturms Körper, der im blutgefärbten Schnee lag.

Laurana kniete sich neben den Ritter. Sie strich sein Haar weg, um noch einmal einen Blick auf das Gesicht ihres Freundes zu werfen. Zum ersten Mal, seitdem sie ihn kannte, sah Laurana Frieden in Sturms leblosen Augen.

Sie hob seine kalte Hand und drückte sie an ihre Wange.

»Schlafe, teurer Freund«, murmelte sie, »und laß deinen Schlaf nicht von Drachen stören.« Als sie dann die kalte weiße Hand auf die zerschmetterte Rüstung legte, sah sie etwas im Schnee funkeln. Sie hob einen Gegenstand auf, der so mit Blut beschmiert war, daß sie ihn nicht erkennen konnte. Sorgfältig säuberte sie ihn. Es war ein Juwel. Laurana starrte ihn erstaunt an.

Aber bevor sie sich fragen konnte, wie er hierhergekommen war, bemerkte sie einen dunklen Schatten. Laurana hörte das Quietschen riesiger Flügel, das Einatmen eines riesigen Körpers. Voller Angst sprang sie auf die Füße und wirbelte herum.

Ein blauer Drache war auf der Mauer hinter ihr gelandet.

Steine gaben nach, als die großen Klauen Halt suchten. Die Flügel der Kreatur schlugen in der Luft. Vom Sattel auf dem Rücken des Drachen musterte ein Drachenfürst Laurana mit kalten, ernsten Augen hinter der entsetzlichen Maske.

Laurana wich einen Schritt zurück, von Drachenangst überwältigt. Die Drachenlanze glitt aus ihrer kraftlosen Hand, den Juwel ließ sie in den Schnee fallen. Sie drehte sich um, versuchte zu fliehen, aber sie sah nicht mehr, wohin sie ging.

Sie stolperte und fiel zitternd in den Schnee neben Sturms In ihrer lähmenden Angst konnte sie nur noch denken, daß es Leichnam. ein Traum war! Hier war sie gestorben – so wie Sturm gestorben war. Lauranas Sichtfeld war von blauen Schuppen erfüllt, als sich der riesige Hals der Kreatur über sie reckte.

Die Drachenlanze! Sie kroch durch den blutdurchtränkten Schnee, ihre Finger schlossen sich um den hölzernen Schaft. Sie wollte aufstehen und die Lanze in den Hals des Drachens stoßen.

Aber ein schwarzer Stiefel trat auf die Lanze, verfehlte gerade noch ihre Hand. Laurana starrte auf den glänzenden schwarzen Stiefel, dessen goldene Verzierungen in der Sonne leuchteten. Sie starrte auf den schwarzen Stiefel, der in Sturms Blut stand, und sie holte tief Luft.

»Wenn du diesen Körper berührst, wirst du sterben«, sagte Laurana leise. »Dein Drache wird nicht in der Lage sein, dich zu retten. Der Ritter war mein Freund, und ich lasse nicht zu, daß sein Mörder seinen Leichnam beschmutzt.«

»Ich habe nicht die Absicht, seinen Leichnam zu beschmutzen«, erwiderte der Drachenfürst. Er bewegte sich mit sorgfältiger Langsamkeit, als er sich bückte und sanft die Augen des Ritters schloß, die auf die Sonne gerichtet waren, die er niemals wieder sehen würde.

Der Drachenfürst erhob sich, musterte das Elfenmädchen, das im Schnee kniete und nahm den Fuß von der Drachenlanze.

»Verstehst du, er war auch mein Freund. Ich wußte es erst in dem Moment, als ich ihn tötete.«

Laurana starrte zum Fürsten hoch. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie müde. »Wie kann das sein?«

Ruhig entfernte der Drachenfürst die entsetzliche gehörnte Drachenmaske. »Ich glaube, du hast von mir gehört, Lauralanthalasa. Das ist doch dein Name, oder nicht?«

Laurana nickte dumpf und erhob sich.

Die Drachenfürstin lächelte, es war ein bezauberndes, verworfenes Lächeln. »Und mein Name ist...«

»Kitiara.«

»Woher weißt du das?«

»Ein Traum...«, murmelte Laurana.

»Ach ja, der Traum.« Kitiara fuhr mit einer behandschuhten Hand über ihr dunkles, gelocktes Haar. »Tanis hat mir von diesem Traum erzählt. Ich vermute, ihr müßt ihn alle gehabt haben. Er dachte zumindest, daß seine Freunde ihn auch gehabt hätten.« Die menschliche Frau blickte auf Sturms Leiche zu ihren Füßen. »Merkwürdig, nicht wahr, die Art, wie Sturms Tod Wirklichkeit wurde. Und Tanis sagte, daß sich auch für ihn der Traum bewahrheitet hätte; die Stelle, an der ich sein Leben rettete.«

Laurana begann zu zittern. Ihr Gesicht, das ohnehin schon blaß vor Erschöpfung gewesen war, schien nun durchsichtig.

»Tanis?... Du hast Tanis gesehen?«

»Erst vor zwei Tagen«, sagte Kitiara. »Ich ließ ihn in Flotsam zurück, um hier nach dem Rechten zu sehen.«

Kitiaras kalte, ruhige Worte stießen in Lauranas Seele, wie der Speer der Fürstin durch Sturms Fleisch gestoßen war. Laurana war, als ob der Boden unter ihr nachgab. Sie lügt, dachte Laurana verzweifelt. Aber sie erkannte mit hoffnungsloser Sicherheit, daß Kitiara jetzt nicht log.

Laurana taumelte und fiel beinahe zu Boden. Nur die Entschlossenheit, keine Schwäche vor dieser menschlichen Frau zu zeigen, ließ das Elfenmädchen nicht stürzen. Kitiara hatte es nicht bemerkt. Sie bückte sich, hob die Waffe auf, die Laurana fallen gelassen hatte, und musterte sie mit Interesse.

»Das ist also die berühmte Drachenlanze?« stellte Kitiara fest.

Laurana schluckte ihre Trauer hinunter und zwang sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Ja«, entgegnete sie. »Wenn du wissen willst, wozu sie in der Lage ist, gehe hinunter und sieh, was aus deinen Drachen geworden ist.«

Kitiara blickte kurz und ohne besonderes Interesse in den Hof hinunter. »Es waren nicht diese Lanzen, die meine Drachen in deine Falle gelockt haben«, sagte sie, während ihre braunen Augen Laurana kühl taxierten, »noch haben sie meine Armee in alle Richtungen zerstreut.«

Noch einmal sah Laurana kurz auf die leere Ebene.

»Ja«, sagte Kitiara, die das erwachende Verstehen in Lauranas Gesicht bemerkte. »Du hast gewonnen – heute. Koste deinen Sieg jetzt aus, Elfe, denn er wird nur von kurzer Dauer sein.«

Die Drachenfürstin bewegte die Lanze geschickt in ihrer Hand und hielt sie auf Lauranas Herz gerichtet. Das Elfenmädchen stand unbeweglich mit ausdruckslosem Gesicht vor ihr.

Kitiara lächelte. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie die Lanze um. »Danke für die Waffe«, sagte sie und stieß sie in den Schnee. »Berichte über sie haben wir bereits erhalten. Jetzt können wir herausfinden, ob es wirklich eine so mächtige Waffe ist, wie du behauptest.«

Kitiara deutete eine Verbeugung vor Laurana an. Dann legte sie wieder die Drachenmaske an, ergriff die Drachenlanze und wandte sich zum Gehen. Dabei fiel ihr Blick noch einmal auf den toten Ritter.

»Sorge dafür, daß der Ritter ein Begräbnis erhält«, sagte Kitiara. »Es wird mindestens drei Tage in Anspruch nehmen, die Armee wieder zu organisieren. Ich gebe dir diese Zeit für die Zeremonie.«

»Wir beerdigen unsere Toten nach unserem Ermessen«, sagte Laurana stolz. »Wir erbitten nichts von dir!«

Der Anblick des toten Ritters und die Erinnerung an seinen Tod brachten Laurana wieder in die Wirklichkeit zurück. Es war wie der Schock kalten Wassers auf dem Gesicht eines Träumers. Sie stellte sich schützend zwischen Sturms Leiche und die Drachenfürstin und sah in die braunen Augen, die hinter der Drachenmaske glitzerten.

»Was wirst du Tanis erzählen?« fragte sie plötzlich.

»Nichts«, antwortete Kitiara. »Überhaupt nichts.« Sie drehte sich um und ging.

Laurana beobachtete den langsamen anmutigen Gang der Drachenfürstin, der schwarze Umhang flatterte in der aus dem Norden kommenden warmen Brise. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf Kitiaras Beute. Laurana wußte, daß sie ihr die Lanze abnehmen sollte. Unten standen Ritter. Sie brauchte nur zu rufen.

Aber Laurana war zu müde und erschöpft. Es war schon anstrengend, stehen zu bleiben. Nur ihr Stolz bewahrte sie davor, auf die kalten Steine zu fallen.

Nimm die Drachenlanze, sagte Laurana stumm zu Kitiara.

Sie wird dir Gutes tun.

Kitiara ging zu dem blauen Drachen. Unten waren die Ritter in den Hof gekommen und zogen den Kopf eines Drachen mit sich. Skie warf wütend den Kopf bei diesem Anblick zurück, ein wildes Grollen fuhr tief aus seiner Kehle. Die Ritter wandten ihre erstaunten Gesichter nach oben, wo sie den Drachen, die Drachenfürstin und Laurana erblickten. Mehr als einer zog seine Waffe, aber Laurana hob ihre Hand, um sie abzuhalten. Es war die letzte Bewegung, zu der sie in der Lage war.

Kitiara warf den Rittern einen verächtlichen Blick zu, legte eine Hand auf Skies Hals und streichelte und beruhigte ihn. Sie nahm sich Zeit, zeigte ihnen damit, daß sie sich vor ihnen nicht fürchtete.

Zögernd senkten die Ritter ihre Waffen.

Kitiara lachte spöttisch und schwang sich in ihren Sattel.

»Leb wohl, Lauralanthalasa«, rief sie.

Sie hob die Drachenlanze in die Luft und befahl Skie zu fliegen. Der riesige blaue Drache spreizte seine Flügel und erhob sich mühelos in die Luft. Ihn geschickt lenkend, flog Kitiara genau über Laurana.

Das Elfenmädchen sah in die feuerroten Augen des Drachen.

Sie sah die verwundete, blutige Nüster, das geöffnete Maul zu einem bösartigen Knurren verzerrt. Auf seinem Rücken saß zwischen seinen Flügeln Kitiara – ihre Drachenschuppenrüstung glitzerte, die gehörnte Maske funkelte in der Sonne. Die Spitze der Drachenlanze blitzte im Sonnenlicht auf.

Dann fiel die Drachenlanze aus der behandschuhten Hand der Drachenfürstin. Sie schlug auf den Steinen auf und landete vor Lauranas Füßen.

»Behalte sie«, rief Kitiara ihr zu. »Du wirst sie nötig haben!«

Der blaue Drachen bewegte seine Flügel, flog in den Himmel und verschwand in der Sonne.

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