Gegen Morgen verebbte der Sturm über Solamnia.
Die Sonne ging auf – eine blaßgoldene Scheibe, die nichts wärmte. Die Ritter, die auf den Zinnen des Turms des Oberklerikers Wache gestanden hatten, suchten dankbar ihre Schlafstätten auf und unterhielten sich über diese Sensation, denn solch einen Sturm hatte es seit den Tagen nach der Umwälzung in Solamnia nicht mehr gegeben. Die anderen Ritter, die zur Wachablösung erschienen, waren genauso müde; niemand hatte geschlafen. Jetzt sahen sie auf eine mit Schnee und Eis bedeckte Ebene.
Hier und dort flackerten Flammen auf, wo Bäume, von Blitzen getroffen, brannten. Aber es waren nicht diese seltsamen Flammen, auf die die Augen der Ritter gerichtet waren, als sie auf die Zinnen stiegen. Es waren die Flammen am Horizont Hunderte und Hunderte von Flammen, die die klare, kalte Luft mit einem widerlichen Rauch erfüllten.
Die Lagerfeuer des Krieges. Die Lagerfeuer der Drachenarmee.
Ein »Ding« stand zwischen dem Drachenfürsten und dem Sieg in Solamnia. Dieses Ding (so nannte es der Fürst meistens) war der Turm des Oberklerikers.
Vor langer Zeit von Vinas Solamnus, dem Begründer des Rittertums, am einzigen Paß durch die schneebedeckten, wolken-umhangenen Vingaard-Berge errichtet, beschützte der Turm Palanthas, die Hauptstadt von Solamnia, und den Hafen, bekannt als die Tore von Paladin. Wenn der Turm fiel, würde Palanthas den Drachenarmeen gehören. Es war eine leicht einzunehmende Stadt – eine reiche und schöne Stadt, die sich von der Welt abgewendet hatte, um mit bewundernden Augen in den eigenen Spiegel zu sehen.
Wenn Palanthas in seine Hände und der Hafen unter seiner Kontrolle fiel, konnte der Fürst mühelos das restliche Solamnia bis zur Unterwerfung aushungern lassen und die lästigen Ritter ausmerzen.
Die Drachenfürstin, von ihren Soldaten Finstere Herrin gerufen, war heute nicht im Lager. Sie befand sich wegen geheimer Geschäfte im Osten. Aber sie hatte loyale und fähige Befehlshaber zurückgelassen, Befehlshaber, die alles tun würden, um ihre Gunst zu gewinnen.
Von allen Drachenfürsten stand die Finstere Herrin in der Wertschätzung der Dunklen Königin am höchsten. Und so saßen die Drakonier, Goblins, Hobgoblins, Oger und Menschen an ihren Lagerfeuern und starrten mit hungrigen Augen auf den Turm, sehnten sich danach, anzugreifen und ihr Lob zu ernten.
Der Turm wurde von einer großen Garnison von Rittern von Solamnia verteidigt, die nur wenige Wochen zuvor aus Palanthas anmarschiert war. In der Legende hieß es, daß der Turm niemals fallen würde, solange Männer mit Glauben ihn halten würden, da er dem Oberkleriker gewidmet war – eine Position, die nach dem Großmeister die begehrteste in der Ritterschaft war.
Die Kleriker von Paladin hatten im Zeitalter der Träume im Turm des Oberklerikers gelebt. Hierher kamen die jungen Ritter für ihre religiöse Ausbildung und Lehre. Immer noch gab es viele Spuren, die die Kleriker zurückgelassen hatten.
Es war nicht nur die Furcht vor dieser Legende, die die Drachenarmee zwang, untätig herumzusitzen. Man brauchte keine Legende, um den Befehlshabern klarzumachen, daß das Einnehmen des Turms sehr große Opfer verlangen würde.
»Die Zeit arbeitet für uns«, hatte die Finstere Herrin vor ihrer Abreise erklärt. »Unsere Kundschafter berichten, daß die Ritter wenig Hilfe von Palanthas erhalten haben. Wir schneiden die Versorgung von der Vingaard-Burg zum Osten ab. Laß sie in ihren Turm sitzen und verhungern. Früher oder später werden sie aus Ungeduld und durch ihren Hunger Fehler machen. Dann werden wir bereit sein.«
»Wir könnten den Turm mit einer Drachenschar einnehmen«, murrte ein junger Befehlshaber. Sein Name war Bakaris, und wegen seines Mutes in der Schlacht und seines gutaussehenden Gesichtes war er in der Gunst der Finsteren Herrin gestiegen.
Sie sah ihn jedoch grüblerisch an, als sie gerade ihren blauen Drachen, Skie, besteigen wollte.
»Vielleicht nicht«, erwiderte sie kühl. »Du hast die Berichte über das Wiederauffinden dieser uralten Waffe – der Drachenlanze – gehört?«
»Pah! Kindergeschichten!« Der junge Befehlshaber lachte, während er ihr auf Skies Rücken half. Der blaue Drache funkelte den gutaussehenden Befehlshaber mit wilden, feurigen Augen an.
»Lasse niemals Kindergeschichten unberücksichtigt«, sagte die Finstere Herrin, »denn es sind die gleichen Geschichten wie die über Drachen.« Sie zuckte die Schultern. »Mach dir keine Sorgen, mein Schätzchen. Wenn meine Mission, den Hüter des grünen Juwels zu fangen, beendet ist, brauchen wir den Turm nicht anzugreifen, denn dann ist seine Zerstörung gewährleistet.
Wenn nicht, dann bringe ich dir vielleicht eine Drachenschar mit.«
Damit spreizte der riesige blaue Drache seine Flügel und flog gen Osten auf eine kleine und erbärmliche Stadt zu, Treibgut am Blutmeer von Istar.
Und so wartete die Drachenarmee warm und behaglich an ihren Lagerfeuern, während – wie die Finstere Herrin es vorausgesagt hatte – die Ritter in ihrem Turm hungerten. Aber schlimmer noch als der Mangel an Nahrungsmitteln war die bittere Uneinigkeit in ihren eigenen Reihen.
Die jungen Ritter unter Sturm Feuerklinges Kommando hatten allmählich ihren in Ungnade gefallenen Führer in den harten Monaten nach ihrer Abreise von Sankrist schätzen gelernt.
Obwohl melancholisch und häufig distanziert, gewannen Sturms Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit doch den Respekt und die Bewunderung seiner Männer. Es war ein hart erkämpfter Sieg, denn Sturm hatte stark unter Derek zu leiden. Ein weniger ehrenhafter Mann hätte gegenüber Dereks politischen Machenschaften ein Auge zugedrückt oder zumindest seinen Mund gehalten (so wie Fürst Alfred), aber Sturm trat ständig gegen Derek auf – obwohl er wußte, daß das seine Position noch mehr erschwerte.
Es war Derek gewesen, der die Bevölkerung von Palanthas gegen die Ritter aufgebracht hatte. Bereits mißtrauisch, mit alten Haßgefühlen und Bitterkeit erfüllt, waren die Bewohner der schönen ruhigen Stadt beunruhigt über Dereks Drohungen, als sie den Rittern die Erlaubnis verweigerten, die Stadt zu besetzen. Nur durch Sturms geduldige Verhandlungen erhielten die Ritter überhaupt Vorräte.
Die Situation verbesserte sich nicht, als die Ritter den Turm des Oberklerikers erreichten. Die Zerrissenheit der Ritter untergrub die Moral der Gefolgsleute, die sowieso schon durch den ständigen Hunger gelitten hatten. Sturms Ritter, die auch auf Fürst Gunthers Seite standen, widersetzten sich immer mehr der Mehrheit der Ritter unter Derek. Nur durch den strikten Gehorsam brachen keine Kämpfe im Turm aus. Aber der demoralisierende Anblick der Drachenarmee, die in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen hatte, und der Hunger führten zu einer gereizten und angespannten Atmosphäre.
Zu spät erkannte Fürst Alfred die Gefahr. Er bedauerte bitter seine eigene Dummheit, Derek unterstützt zu haben, denn jetzt konnte er deutlich erkennen, daß Derek Kronenhüter wahnsinnig wurde.
Der Wahnsinn nahm täglich zu; Dereks Machthunger verzehrte ihn und ließ ihn nicht mehr vernünftig denken. Aber Fürst Alfred war machtlos, etwas zu unternehmen. Die Ritter waren in ihrer rigiden Struktur so gefangen, daß es – gemäß dem Maßstab – nur über monatelange Ritterverhandlungen möglich wäre, Derek seinen Rang zu nehmen.
Die Nachricht von Sturms Entlastung durch Laurana schlug in diesen trockenen und zerbröckelnden Wald wie ein Blitz ein.
Wie Gunther vorausgesehen hatte, wurden Dereks Hoffnungen damit völlig zerschlagen. Was Gunther jedoch nicht vorausgesehen hatte, war, daß der dünne Faden, an dem Dereks geistige Gesundheit hing, reißen würde.
Am Morgen nach dem Sturm wandten sich die Augen der Wachen einen Moment von der Drachenarmee ab, um nach unten in den Hof des Turms des Oberklerikers zu schauen. Die Sonne füllte den grauen Himmel mit einem eisigen, blassen Licht, das sich in den kaltglänzenden Rüstungen der Ritter von Solamnia widerspiegelte, die sich zu der feierlichen Zeremonie des Ritterschlags versammelt hatten.
Über ihnen schienen die Flaggen mit dem Ritterwappen an den Zinnen festgefroren zu sein, da sie leblos in der stillen kalten Luft hingen. Dann durchbrach der Klang einer Trompete die Luft. Bei dem Trompetenruf hoben die Ritter stolz ihre Häupter und schritten in den Hof.
Fürst Alfred stand in der Mitte des Kreises, den die Ritter gebildet hatten. Er war in seine Kampfrüstung gekleidet, sein roter Umhang flatterte um seine Schultern, und er hielt ein uraltes Schwert in einer alten zerbeulten Scheide. Der Eisvogel, die Rose und die Krone – die uralten Symbole der Ritterschaft waren um die Scheide geflochten. Der Fürst warf einen schnellen hoffnungsvollen Blick auf die Versammlung, dann senkte er seinen Blick und schüttelte den Kopf.
Fürst Alfreds schlimmste Befürchtungen hatten sich bestätigt. Er hatte vage gehofft, daß diese Zeremonie die Ritter wieder vereinen würde. Aber das Gegenteil war der Fall. In dem Heiligen Kreis gab es große Lücken, Lücken, auf die die anwesenden Ritter unbehaglich starrten. Derek und seine gesamten Leute fehlten.
Der Trompetenruf ertönte noch zweimal, dann legte sich Schweigen über die versammelten Ritter. Sturm Feuerklinge, in lange weiße Gewänder gekleidet, trat aus der Kapelle des Oberklerikers, in der er die Nacht mit Gebeten und Meditation, wie es der Maßstab vorschrieb, verbracht hatte. Begleitet wurde er von einer ungewöhnlichen Ehrenwache.
Neben Sturm schritt eine Elfenfrau, ihre Schönheit strahlte in der Düsterheit des Tages wie der Sonnenaufgang im Frühling.
Hinter ihr ging ein alter Zwerg, dessen weißes Haar und Bart in der Sonne glänzten. Der Zwerg hatte einen Kender, in hellblaue Hosen gekleidet, an seiner Seite.
Der Kreis der Ritter öffnete sich, um Sturm und seine Eskorte einzulassen. Sie blieben vor Fürst Alfred stehen. Laurana, die Sturms Helm in ihren Händen trug, stand zu seiner Rechten.
Flint, der sein Schild trug, stand zu seiner Linken, und – nach einem Rippenstoß vom Zwerg – eilte Tolpan mit den Sporen des Ritters nach vorn.
Sturm beugte seinen Kopf. Sein langes Haar, das bereits graue Strähnen aufwies, obwohl er erst Anfang dreißig war, fiel über seine Schultern. Er blieb einen Moment in stummer Andacht stehen, dann fiel er auf ein Zeichen von Fürst Alfred ehrfürchtig auf die Knie.
»Sturm Feuerklinge«, verkündete Fürst Alfred feierlich und entfaltete ein Schreiben, »das Kapitel der Ritter hat dich nach Anhörung der Zeugenaussage von Lauralanthalasa aus der königlichen Familie der Qualinesti sowie der Zeugenaussage von Flint Feuerschmied, Hügelzwerg von Solace, von der gegen dich erhobenen Anklagen entlastet. In Anerkennung deiner mutigen Taten, die von diesen Zeugen bestätigt wurden, wirst du hiermit zum Ritter von Solamnia geschlagen.« Fürst Alfreds Stimme wurde weicher, als er auf den Ritter sah. Sturm hatte die Tränen nicht mehr zurückhalten können, die nun über seine eingefallenen Wangen liefen. »Du hast die Nacht im Gebet verbracht, Sturm Feuerklinge«, sagte Alfred ruhig. »Betrachtest du dich selbst dieser großen Ehre würdig?«
»Nein, mein Fürst«, antwortete Sturm gemäß dem uralten Ritual, »aber ich akzeptiere sie demütig und schwöre, daß ich mein Leben opfern würde, um mich ihrer würdig zu erweisen.«
Der Ritter hob seine Augen zum Himmel. »Mit Paladins Hilfe«, sagte er leise, »wird es mir gelingen.«
Fürst Alfred hatte viele solcher Zeremonien durchgeführt, aber er konnte sich nicht erinnern, solch eine leidenschaftliche Hingabe im Gesicht eines Mannes gesehen zu haben.
»Ich wünschte, Tanis wäre hier«, murmelte Flint schroff zu Laurana, die nur kurz nickte.
Sie stand majestätisch und aufrecht in ihrer Rüstung, die man extra für ihre Fahrt nach Palanthas auf Fürst Gunthers Befehl angefertigt hatte. Ihr honigfarbenes Haar floß aus ihrem silbernen Helm hervor. Goldene Verzierungen glitzerten auf dem Brustpanzer, ihr weicher schwarzer Lederrock – der an einer Seite aufgeschlitzt war, damit sie bequemer gehen konnte berührte die Spitzen ihrer Stiefel. Ihr Gesicht war blaß und grimmig, denn die Situation in Palanthas und im Turm selbst war dunkel und schien hoffnungslos.
Sie könnte nach Sankrist zurückkehren. In der Tat war sie dazu aufgefordert worden. Fürst Gunther hatte eine geheime Nachricht von Fürst Alfred erhalten, die Aufschluß über die ausweglose Situation der Ritter gab, und er hatte Laurana den Befehl übermittelt, ihren Aufenthalt zu verkürzen.
Aber sie hatte sich entschieden, zumindest eine Zeitlang zu bleiben. Die Bewohner von Palanthas hatten sie höflich empfangen – sie war immerhin von königlichem Blut, und sie waren von ihrer Schönheit verzaubert. Sie waren auch an der Drachenlanze interessiert und baten, eine in ihrem Museum ausstellen zu dürfen. Als Laurana jedoch die Drachenarmee erwähnte, hatten sie nur mit den Schultern gezuckt und gelächelt.
Dann erfuhr Laurana von einem Boten, was im Turm des Oberklerikers vor sich ging. Die Ritter wurden belagert. Eine Drachenarmee mit Tausenden von Soldaten wartete auf dem Feld. Die Ritter benötigten die Drachenlanzen, entschied Laurana, und sie war die einzige, die ihnen die Waffen bringen und den Gebrauch erklären konnte. Sie ignorierte Fürst Gunthers Befehl, nach Sankrist zurückzukehren.
Die Reise von Palanthas zum Turm war ein einziger Alptraum gewesen. Laurana hatte die Reise in Begleitung von zwei Wagen begonnen, die mit dürftigen Vorräten und den wertvollen Drachenlanzen bepackt waren. Der erste Wagen blieb nur wenige Meilen außerhalb der Stadt im Schnee stecken. Sein Inhalt wurde auf die wenigen Ritter, die mitritten, Laurana, ihre Freunde und den zweiten Wagen verteilt. Auch der zweite Wagen blieb stecken. Immerwieder mußten sie ihn im Schneetreiben freischaufeln, bis er schließlich endgültig festsaß. Nachdem sie die Vorräte und die Lanzen auf die Pferde geladen hatten, gingen die Ritter und Laurana, Flint und Tolpan den restlichen Weg zu Fuß. Sie waren die letzte Gruppe, die durchkam. Nach dem Sturm in der Nacht zuvor – das war Laurana klar, wie allen anderen im Turm – würden keine Vorräte mehr kommen. Die Straße nach Palanthas war nun unpassierbar.
Selbst bei strengster Rationierung blieben den Rittern nur noch für einige wenige Tage Lebensmittel. Die Drachenarmee dagegen schien für den Rest des Winters vorgesorgt zu haben.
Die Drachenlanzen wurden von den erschöpften Pferden abgeladen und auf Dereks Befehl im Hof gestapelt. Einige wenige Ritter musterten sie neugierig, dann ignorierten sie sie. Die Lanzen schienen unhandliche, sperrige Waffen zu sein.
Als Laurana den Rittern schüchtern anbot, sie im Gebrauch der Lanzen zu unterweisen, schnaubte Derek verächtlich. Fürst Alfred starrte aus dem Fenster auf die am Horizont brennenden Lagerfeuer. Laurana wandte sich an Sturm, um ihre Befürchtungen bestätigt zu sehen.
»Laurana«, sagte er leise und nahm ihre kalten Hände, »ich glaube nicht, daß der Fürst sich die Mühe macht, Drachen zu schicken. Wenn wir die Vorratslinien nicht wieder öffnen können, wird der Turm fallen, weil nur noch die Toten übrigbleiben, um ihn zu verteidigen.«
Also würden die Drachenlanzen im Hof ungebraucht, vergessen liegen, ihr strahlendes Silber unter dem Schnee vergraben.