7

Viktors erste Reaktion war ein Blick zu seinem Gefolge hinüber. Der Gedanke an Unannehmlichkeiten war für ihn wie selbstverständlich mit den Räubern verbunden. Doch diese standen friedlich an der Kasse, und der Grenzer kaufte Fahrkarten ... natürlich ... und seine Söhne schubsten sich und alberten herum.

»Wem bist du in die Quere gekommen, Doktor?«

»Rada, was meinst du damit?«

Das Mädchen seufzte und setzte sich neben ihn. »Gerade ist eine Gruppe Leute ins Hotel gestürzt ... acht Mann.«

Sie wartete, doch Viktor war immer noch ahnungslos.

»Sie haben nach dir gefragt. Nach einem gewissen Viktor ...«

Viktor zuckte zusammen. Er hatte niemandem im Hotel seinen Namen genannt.

Rada hatte seine Reaktion bemerkt und nickte zufrieden. »Ein Mann, der mit einem Mädchen im Teenageralter unterwegs ist. Sie haben Dersi gefragt, der natürlich nichts gesagt hat; Elfen interessieren sich grundsätzlich nicht für so was ... Aber gleich kommt der Rote, und der wird alles ausplaudern.«

»Warum?«

»Er will auf keinen Fall Unannehmlichkeiten. Die sind vom Wasser!«

»Wie bitte?«

»Vom Clan des Wassers! Einer von ihnen ist ein Magier dritten Ranges, ich hab sein Zeichen gesehen, die Übrigen sind Magierkämpfer. Wer möchte sich schon mit solchen anlegen? Die jagen die ganze Stadt zum Teufel, wenn ihnen danach ist.«

»Rada, ich habe keine Ahnung, was der Clan des Wassers ist ...«

Das Mädchen stöhnte geräuschvoll, doch dann beruhigte es sich wieder. »Ja, natürlich. Du bist ja gerade erst angekommen ... Viktor, in dieser Welt gibt es Magie.«

»Das habe ich bereits gemerkt.«

»Fast alle Magier leben am Warmen Ufer. Sie gehören verschiedenen Clans an, und jeder zeichnet sich durch eine besondere Form der Magie aus. Der Clan des Wassers ist einer von vier Clans, die den Elementen zugeordnet sind. Ihm untersteht die Magie des Wassers!«

Der Übergang! Die acht, die versucht hatten, sie daran zu hindern!

»Ah, jetzt ist es dir eingefallen!«, freute sich das Mädchen. »Viktor, sie suchen nach dir! Gleich werden sie herausfinden, dass du im Hotel warst - entweder vom Roten, oder sie schüchtern einen der Angestellten ein. Und dann zählen sie eins und eins zusammen und kommen schnurstracks hierher zum Bahnhof.«

»Vielleicht schaffe ich es ja noch ...«

»An deiner Stelle würde ich mich nicht darauf verlassen!«

»Was soll ich denn tun, Rada?«

»Ich weiß es nicht ...« Rada hatte sich im Handumdrehen wieder beruhigt und fuhr gleichgültig fort: »Abhauen.

»Und mit ihnen reden ...?«

Rada lachte freudlos. »In ihren Augen ist Tod. Das sind Mörder, verstehst du, Doktor? Vielleicht sogar ein Strafkommando.«

»Strafkommando?«

»So werden diejenigen Magierkämpfer genannt, die von den Clans zu einem einzigen Zweck ausgebildet werden, nämlich alle jene Machthaber der Menschen, Gnome und Elfen zu bestrafen, die die Oberherrschaft der Clans nicht anerkennen. Das sind Mörder. Unser Dorf zahlt seine Abgaben an den Grafen Sotnikow, und der zahlt an den Clan der Erde. Daher hat das Wasser hier formal gesehen keine Rechte ... aber das hat keine allzu große Bedeutung. Umso mehr, als der Clan des Wassers und der Clan der Erde Verbündete sind.«

Viktor hatte das Gefühl, dass ihm von der Masse an Informationen schier der Kopf platzte, aber Rada ließ nicht locker.

»Du würdest nicht mal einem einzigen Magier entwischen! Und diese sind zu acht!«

»Ich habe fünf Leibwächter«, sagte Viktor mit einem Blick auf die Räuber.

»Was? Die da? Die laufen dir doch davon, wenn sie vom Clan des Wassers hören!«

Viktor stand auf und winkte den Grenzer zu sich, der schon eine Weile lang mit besorgtem Gesicht ihr Gespräch beobachtet hatte.

Der Räuber sprang eilig zu ihnen hin, genau wie ein herrenloser Hund, der schon einmal einen Tritt in den Hintern

»Ich werde verfolgt«, begann Viktor ohne Einleitung. »Von Feinden, die mich töten wollen.«

Die Augen des Grenzers loderten auf, und seine Hand legte sich auf den Griff seines Morgensterns.

»Das sind Magier des Wassers!«, warf Rada wütend ein.

Der Grenzer stieß einen leisen Schrei aus. »Herrscher! Erlaube uns, sie zu töten!«

»Magier des Wassers!«, wiederholte Rada nachdrücklich. In ihrer Stimme schwang auf einmal Unsicherheit. Der Grenzer sah das Mädchen verächtlich an und richtete seinen Blick wieder voller stummer Verehrung auf Viktor.

»Hast du keine Angst vor ihnen?«, fragte dieser.

»Ich hasse das Wasser!«

»Schluss jetzt ...« Rada sprang auf. »Ich mag dich, Doktor. Deshalb musste ich dich warnen ... und außerdem wollte ich Gewürze auf dem Markt einkaufen ... aber jetzt reicht es mir. Ich habe nicht vor, zu warten und mit anzusehen, was hier passiert.«

»Und ich dachte, du hilfst mir.« Viktors Augen glitten über den wohlgeformten Körper des Mädchens, an dessen Gürtel ein Schwert befestigt war.

»Du machst wohl Witze, Doktor!« Rada schüttelte heftig den Kopf. »Ganz sicher nicht! Mein Papa hat seine ganze Jugend damit verbracht, mit Magiern zu kämpfen, immer für den einen oder anderen Dummkopf. Und außerdem bin ich ein Mädchen! Keine verrückte Walküre! Ich habe ein Restaurant, noch dazu das beste an der ganzen Route! Aber Köpfe lasse ich erst rollen, wenn sie kommen, um mich auszurauben!«

»Du hast Recht.« Viktor fasste vorsichtig ihre Hand. »Du bist eine kluge Frau, Rada. Danke, dass du mich gewarnt hast.«

Er beugte sich vor und küsste sie zart auf die Lippen. Rada fuhr zurück und blickte ihn misstrauisch an. »Du machst dich lustig ... Viktor?«

»Nein, im Ernst. Danke noch mal. Geh jetzt. Das ist nicht deine Angelegenheit. Kümmere dich um das Restaurant, ich komme wieder ... auf dem Rückweg.«

»Du hast nur noch einen Weg vor dir ...«, sagte das Mädchen traurig. Sie zog die Schultern hoch, drehte sich um und strebte energisch dem Ausgang zu.

»Eine sehr gute Kämpferin«, flüsterte ihr der Grenzer hinterher. »Herrscher, wenn Ihr sie bitten würdet - vielleicht würde sie bleiben.«

»Nein.«

»Wie es Euch beliebt, Herrscher.«

»Grenzer, hör zu, im Hotel sind acht Magierkämpfer eingetroffen, und gleich machen sie sich auf den Weg hierher.«

Der Räuber sah nicht sonderlich erschrocken aus. »Wir werden ihnen schon entgegentreten.«

»Hast du keine Angst vor der Magie des Wassers?«

»Wir fürchten die Elemente nicht.« Der Grenzer schob die Hand unter seine Jacke und zog einen kleinen Stein an einer Kette heraus. »Ein Talisman ... Herrscher, nehmt ihn ...«

»Wozu?«

Der Grenzer lachte unerwartet. »Verzeiht meine Dummheit. Natürlich! Herrscher, gestattet, dass ich es meinen Söhnen sage ...«

»Geh.«

Viktor beobachtete, wie der Räuber Kriegsrat mit seinen Söhnen abhielt, wobei er streng mit den älteren Jungen

War dies nicht der Moment, in dem er Furcht verspüren sollte?

Vielleicht dauerte das Gefühl aus dem Traum vergangene Nacht noch an? Der Glaube in die Unzerstörbarkeit des eigenen Leibes und die Schwäche jener, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen.

Aber das wäre ein folgenschwerer Irrtum. Nur im Traum sind wir unverletzlich.

Viktor zog die geschenkte Jacke über wie zum Zeichen, dass er bereit war, Hilfe anzunehmen. Er trat noch einmal zum Fahrkartenschalter. Die Frau sah ihn mit einem Blick an, als wollte sie ihm bedeuten, dass sie alle Erfordernisse ihres Arbeitsplatzes längst erfüllt hatte und bereits Überstunden machte.

»Was gibt’s noch?«

»Haben Sie einen Sicherheitsdienst?«

»Wie?«

Nein, es lohnte sich nicht, den Vergleich der Welten überzustrapazieren. »Wer bewacht den Bahnhof?«

»Und wer bitte hat vor, sich mit den Herren der Route anzulegen?«

»Zum Beispiel ein Strafkommando vom Clan des Wassers?«

In die Augen der Frau trat Furcht. »Aber was sollten die denn hier suchen?«, fragte sie unsicher.

»Zum Beispiel mich.«

»Das ist sehr unschön von Ihnen!« Im Gesicht der Frau zeigten sich rote Flecken. »Eine Fahrkarte zu kaufen, wenn Sie verfolgt werden!«

»Ich wusste nicht, dass ich verfolgt werde!«

Die Frau besann sich. »Wollen Sie Ihr Billett nicht zurückgeben? Ich nehme es günstig zurück ... fast ganz ohne Abzug ...«

»Rechnen Sie nicht damit.«

Nach kurzem Nachdenken holte die Frau ein Schild mit der Aufschrift »Pause« hervor und stellte es ins Fenster.

»Wollen Sie denn nichts unternehmen?«, fragte Viktor über die Absperrung hinweg.

»Doch, will ich schon. Der Aufenthalt des Zuges wird auf fünf Minuten verkürzt.«

»Na vielen Dank«, knurrte Viktor im Weggehen. Nach seiner Armbanduhr zu urteilen, blieben noch zehn Minuten bis zur Ankunft des Zuges.

Der Grenzer hatte inzwischen seine Söhne im Saal aufgestellt. Zwei ältere standen an der Tür, die zu den Bahnsteigen führte. Der Jüngste nahm seinen Platz an einem der Fenster ein. Der Grenzer kam zusammen mit dem etwa Achtzehnjährigen zu Viktor herüber.

Die schlafenden Landstreicher waren von den Bänken verschwunden. Sie hatten den Eindruck gemacht, als ob sie nichts hörten und nichts sahen. Aber nein! Sie hatten alles mitbekommen, sich ihren Reim darauf gemacht und ihre schlafenden Kollegen geweckt. Im Rausgehen warfen sie noch alarmierte Blicke auf die Zurückgebliebenen.

Irgendwo in der Tiefe des Bahnhofs schlug eine Tür zu. Das Personal machte sich aus dem Staub. Einen Lidschlag später ging das Licht aus.

»Vernünftig«, sagte der Grenzer. »Elektrischen Zauber gegen das Wasser anzuwenden würde eine Katastrophe bedeuten. Alles verbrennt ...«

»Warum dienst du mir?«, fragte Viktor. In seinem Inneren wurde eine straffe Feder auseinandergezogen, wie bei einer gespannten Armbrust. Etwas kam näher ... und es war an der Zeit, nicht nur den Feind zu kennen, sondern auch dem Freund zu vertrauen.

»Ich habe dir immer gedient, Herrscher!« Der Grenzer blickte ihm verwirrt, ja sogar gekränkt ins Gesicht. »Glaube mir, Herrscher!«

Viktor traf seine Wahl.

»Gut, also Folgendes - das Wichtigste ist, zu entkommen. Wenn der Zug einfährt, laufen wir sofort zum Wagen ...«

»Natürlich.«

Es tat gut, sich des gesunden Menschenverstands des Räubers zu versichern. Plötzlich zerriss ein lauter Schrei des Jüngsten die klamme Stille im Saal. »Sie kommen! Sie kommen!«

Viktor und der Räuber stürzten zu einem der Fenster, die für den Fall eines Feuers halb geöffnet waren.

Auf dem völlig verlassenen Bahnhofsvorplatz zerrte der Wind an zurückgelassenen Kleidungsstücken auf den Verkaufsständen, vergessene Flaschen und Krüge standen verwaist herum. Es war niemand zu sehen. Aber der Junge hatte sich nicht getäuscht - etwas kam näher. Rückte heran, eilte den Kämpfern voraus. Etwas Körperloses, Dumpfes, Elementares. Etwas.

Der Berg aus Abfall im leeren Brunnenbecken begann zu beben. Quoll über die Brüstung. Aus dem Becken schoss ein dichter, triumphierender Strahl Wasser. Wie ein Schirm spritzten die Tropfen in alle Richtungen, klirrten durchdringend und schrill wie splitterndes Glas.

»Ach, diese faule Saat!«, fluchte der Grenzer. »Es ist nicht einmal die Stunde ihrer größten Kraft, aber sieh nur,

Trotz klaren Himmels und Sonnenlichts krochen aus den Gassen trübe Nebelschwaden heran. In Windeseile legten sie sich dicht und grau über den ganzen Platz und hüllten den Bahnhof ein. Im lautlosen Ansturm des Nebels glitt etwas heran, schien Gestalt anzunehmen, erhielt ein Gesicht - noch undeutlich, aber schon bedrohlich nah.

»Gleich geht es los, sie sind schon in voller Fahrt ...« Der Grenzer zog seinen Morgenstern hervor und wirbelte die stachelige Kugel an der Kette herum. Beiläufig, praktisch ohne auszuholen, hieb er sie in die Wand, und eine Wolke roten Ziegelstaubs trat aus dem Loch, das groß genug war, um einen Kopf hindurchzustecken.

Die Lieblingswaffe des Grenzers war nicht das Schwert, andernfalls hätte Viktor den Räuber im Wald vielleicht nicht so leicht bewusstlos schlagen können.

»Jetzt kommen sie selbst!« Wieder ertönte der Schrei des Jungen, diesmal etwas leiser, dafür ängstlicher.

Und Viktor sah, wie Schatten durch den Nebel schlichen.

Fünf? Acht? Zwanzig?

Wie sollte er sie zählen, wie erfassen durch diesen Mullschleier, diesen dicken milchigen Nebel! Er sah, dass sie im Gleitschritt näher kamen, ohne Eile und ohne sich zu verstecken - wozu auch, in diesem Dunst ...

»Sieh nicht hin«, flüsterte ihm der Grenzer zu. Ohne es zu ahnen, war er für Viktor zu einer Art Führer und Kommentator geworden, dessen beiläufige Bemerkungen ihm halfen, das Geschehen zu verstehen.

Die Schatten blieben abrupt stehen.

»He!«, erklang es aus der Milchsuppe. »Viktor!«

Viktor erbebte, antwortete aber nicht.

»Du bist hier, ich spüre deinen Blick!« Eine zweite Stimme war zu vernehmen. Pfeifend, zischend, dünn. »Komm heraus, Viktor. Du kannst dich nicht verstecken! Du bist allein und wir sind viele!«

Der Grenzer blickte Viktor an, als wollte er ihn auffordern, etwas zu sagen. Das hieß also, er musste antworten. Belüge die Soldaten nicht vor dem Kampf, General ...

Viktor stieß die Flügel des Fensters weiter auf und rief in den Nebel hinaus: »Wer bist du?«

Die Schatten begannen zu zucken und zu schwanken, offenbar erfreut, seine Stimme zu hören. »Der, der dich holt, Viktor!«

Und wieder überrollte ihn der Zorn, übermannte ihn, wie im Traum; wieder loderte jener Zorn in ihm auf, der den Halbelfen das Leben gekostet hatte und um ein Haar auch den Grenzer ...

»Wie kannst du es wagen, du unverschämter Wurm, mich nicht auf Knien anzusprechen?« Viktor verstand selbst nicht, was mit seiner Stimme passiert war, woher sie auf einmal den tragenden, metallischen Klang hatte. »Nenn deinen Namen, du Wurm!«

Der Grenzer erbebte und blickte in stummer Bewunderung zu ihm auf. Der Jüngling daneben griff wie ein kleiner Junge nach der Hand seines Vaters. Und sogar die, die dort im Nebel herumschlichen, prallten zurück.

»Gotor, ich bin der Magier Gotor ...«, erklang leise die Antwort. Die Stimme verlor sich, doch nach einem Augenblick war sie wieder deutlich zu vernehmen, voll ätzendem Zorn. »Du hast keine Macht über mich! Du bist ein Niemand! Du bist noch ein Niemand! Gleich wirst du sterben!«

Viktor schüttelte den Grenzer, der in Reglosigkeit verfallen war. »Der da ist meiner! Den bestraf ich selbst!«

»Ja, Herrscher ...«

Die Schatten flitzten durch den Nebel. Der Grenzer fletschte die Zähne, während er sie beobachtete. Dann schubste er seinen Sohn zur Tür und postierte sich selbst dort. Viktor überblickte noch einmal die Aufstellung: zwei Jungen an der Tür zu den Gleisen ... sehr gut, der Feind würde kaum so dumm sein, nur von einer Seite anzugreifen, der Jüngste stand gebückt am Fenster und blickte hinaus, in der Hand einen kurzen Dolch, der Grenzer selbst bewachte zusammen mit dem vierten Sohn die Eingangstür.

Hervorragend.

Viktor zog sein Schwert aus der Scheide, unbewusst rechnete er damit, dass es sich wieder wie von selbst leicht und gehorsam in seine Hand legen würde, wie im Restaurant ...

Irgendwas stimmte nicht.

Er stand da, steif, mit einem Stück geschärften Stahls in der Hand, angestrengt darum bemüht, das Schwert möglichst weit weg von sich zu halten. Der Zorn und die Sicherheit, nein, sie waren nicht verflogen, noch immer kochten in ihm die Wut über jene dreisten Gestalten und das gierige Verlangen, zu strafen und zu züchtigen. Nur hatten diese Empfindungen keinerlei Verbindung zu seinem Schwert ...

Die Stille, jene letzten Sekunden vor dem Kampf, wurde von einem langen, durchdringenden Pfeifen zerrissen. Der Zug näherte sich!

Aber sie mussten noch warten, bis er in den Bahnhof einfuhr ...

Die Tür öffnete sich.

Der Grenzer schwang den Morgenstern und ließ ihn auf die Gestalt im Durchgang niedersausen. Ach, ein großartiger Hieb! Gekonnt ausgeführt und aus vollem Herzen. Der Feind hatte nicht die geringste Chance, weder Harnisch noch Wendigkeit oder geschickte Verteidigung konnten ihn retten!

Nur, dass sich da in Wirklichkeit niemand vor einem Hieb retten musste - der hereinstürmende Schatten zerstob in Myriaden von Tropfen, als bestünde er ganz und gar aus Wasser. Und tatsächlich bestand er nur aus Wasser, er war eine Marionette, ein Gebilde aus schmutzigem Nass, mit menschlichen Formen und Bewegungen ...

Über die gewaltige Wasserlache schlitternd, brachte sich der Grenzer in Sicherheit. Aber seinem Sohn gelang das trotz seiner Stärke und Wendigkeit nicht. Er stürzte zu Boden, wo er ausgestreckt lag ...

Drei in dunkelblaue, eng anliegende Kamisole gekleidete Gestalten stürmten hinter der Marionette herein und verpassten ihre Gelegenheit nicht. Zwei Schwerter fuhren durch die Luft, die jämmerlich und unzufrieden unter dem Stahl aufkreischte. Der Schrei des Jünglings war bei weitem leiser.

Viktor eilte ihm zu Hilfe.

Wie glücklos! Wie schlecht! Sie waren ja ohnehin in der Minderzahl ...

Der Junge, der am Fenster hockte, richtete sich plötzlich auf. Sein Arm glitt durch die Luft, und sein Messer flog wie ein leuchtender Blitz durch den Saal. Die Feinde waren im Begriff, sich umzudrehen, als ob sie die Gefahr erahnt hätten. Aber es war bereits zu spät.

Bis zum Griff drang der Dolch in die Brust eines der Mörder. Mit blitzartiger Geschwindigkeit schickte der Junge

Der Mörder, in dessen Brust drei Klingen steckten, stand noch einen Augenblick, schwankte, ließ das Schwert fallen, hob die Hand, fasste den Griff eines der Dolche und zog daran. Viktor erfasste ein Grauen. Mit einem Mal stellte er sich vor, wie der Feind einfach alle drei Messer wieder herauszog und lachte, unverwundbar und fürchterlich, wie er war ...

Aber auf dem blauen Stoff zeichnete sich bereits ein braunroter Fleck ab. Den Blick fest auf Viktor geheftet, brach der Widersacher zusammen.

Die zwei anderen agierten so synchron, als wäre der eine das Spiegelbild des anderen. Sie warfen den linken Arm in die Höhe, den ohne Schwert, schwangen ihn ... Aus ihren Handflächen schossen hellblaue Strahlen durch die Luft wie Fäden. Eigentlich nur Wasserstrahlen, jedoch von wundersamer Härte und Wendigkeit. Mit tödlicher Schnelligkeit jagten die Wasserpeitschen auf den Jungen zu und zertrümmerten auf dem Weg dorthin noch eine schwere hölzerne Bank. Mit einem Schauder begriff Viktor, was als Nächstes geschehen würde ...

Die hellblauen Peitschen zerstoben. Sie lösten sich in einem glitzernden Schwall von Tropfen auf, der über dem Jungen niederging. Dieser lachte laut auf, während seine Finger einen kleinen Stein an einer Kette hielten.

Auch ein Talisman?

Wirkte er tatsächlich?

Der Augenblick der Verwirrung auf Seiten der Gegner dauerte nicht lange, aber dem Grenzer genügte er. Sein Morgenstern

Der Letzte der Troika sprang weg, wirbelte in einer wilden Kaskade von Stellungen herum, mit bewundernswerter Geschmeidigkeit - buchstäblich so, als ob seine Glieder von einer Pose in die nächste flössen. Er versuchte jetzt nicht mehr, Magie anzuwenden - vielleicht weil er nicht die Zeit dazu hatte, vielleicht aber auch, weil ihm der Glaube an ihre Wirksamkeit abhandengekommen war. Sein langes Schwert schnitt Muster in die Luft und sorgte dafür, dass der Räuber nicht in seine Nähe gelangte.

Und da schob Viktor den Grenzer mit der Schulter zur Seite und trat dem Feind entgegen.

An dem war nichts Außergewöhnliches. Er war ein starker, muskulöser Mann, gekleidet in einem elastischen Material wie bei einem Trainingsanzug. Seine Gesichtszüge waren konzentriert, hart, aber nicht blutrünstig oder grausam.

Es war einfach ein Mensch, der seine Arbeit tat. Eine schwere, aber geliebte Arbeit.

»Wie könnt ihr es wagen, euch gegen mich zu erheben?«

Viktor hatte keine Ahnung, woher er seine Stimme und die Worte nahm, die einem Herrscher sehr wohl angemessen waren, nicht aber einem zufälligen Gast von der Anderen Seite.

Der Gesichtsausdruck des Kämpfers wurde noch konzentrierter. Er wirbelte durch den Saal, floss dahin in einem Todestanz, umkreiste Viktor. Der hielt das Schwert vor sich und ließ kein Auge von seinem Gegner, als er wieder fragte: »Wie könnt ihr es wagen, meinen Diener zu töten?«

Mit einem Ruck streckte sich der Kämpfer nach vorne und versuchte Viktor mit seinem Schwert zu treffen. Und da passierte es: Das geschenkte Schwert erwachte zum Leben, Viktors Hände bewegten sich wie von selbst, wehrten den Schlag ab, seine Beine sprangen zur Seite, und der Kämpfer des Wassers flog an ihm vorbei, entging nur um Haaresbreite dem Morgenstern des Grenzers und nahm seinen Tanz wieder auf.

Aber in seinen Augen zeigte sich Verwirrung. Nicht Angst - vermutlich war er bereit zu sterben. Vielmehr Verwunderung, dass der Gegner ihm entkommen war.

»Mein Zorn kommt über dich ...«, flüsterte etwas aus Viktor heraus. Sein Schwert durchbohrte die Luft, hieb dem Feind die Klinge aus der Hand und fuhr dann dessen Kehle entlang.

Stille trat ein. Der Wasserkämpfer riss die Augen auf, als wollte er den dünnen, noch nicht blutigen Schnitt auf seinem Hals sehen.

Draußen brüllte die Dampflok. Sie war schon ganz nah, schon unmittelbar vor dem Bahnhof. Der Kämpfer bebte, und sein Kopf kippte nach hinten, so dass sein aufgeschlitzter Hals sichtbar wurde. Das Blut spritzte in einer dichten Fontäne heraus. Ein Mensch hätte niemals so stehen können - mit gebrochenem Nacken und offener Hauptschlagader. Aber er stand, bis der Grenzer ihn mit einem empörten Schrei in den Rücken stieß.

»Danke, Herrscher ... du hast für das Leben deines Sklaven bezahlt ...« Der Grenzer ließ seinen Fuß in dem schweren Stiefel auf den Rücken des Toten sinken. Die Knochen knackten.

Viktor blickte zu der geöffneten Tür. Wenn dort jetzt auch nur ein einziger Gegner auftauchen und ihnen in den

»Wo sind die anderen, Grenzer?«

Der Räuber ging zur Tür, offenbar um nachzusehen.

»Halt, warte! Es ist an der Zeit, zu verschwinden!«

Sie liefen zu der Tür, die zu den Gleisen führte. Dahinter hielten noch immer die zwei Söhne des Räubers Wache. Disziplinierte Jungs ...

Der Jüngste kam hinter ihnen her, für einen Moment hatte er neben dem Leichnam seines Bruders haltgemacht. Viktor schien es, dass Tränen in den Augen des Jungen glänzten.

Ganz sicher. Es gab keine Hoffnung: Niemand würde es überleben, wenn sein Körper von zwei Schwertern geradewegs durchdrungen würde.

Wieder erklang das Kreischen der Dampflok, sie musste jeden Augenblick einfahren. Vermutlich betätigte der Lokomotivführer wie wild die Dampfsirene, weil er besorgt war über die Nebelhaube über dem Bahnhof.

Als hätten sie auf das Signal gewartet!

Das Gefühl der Gefahr und einer fremden Kraft wurde auf einmal stark bis zur Schmerzhaftigkeit. Viktor drehte sich so rechtzeitig um, dass er sah, wie die Tür in Stücke zerbarst und ein Teil der Wand einstürzte. In den Saal drang etwas ein, ergoss sich in den Raum ...

Wie eine riesenhaft angeschwollene Amöbe; als ob sich hinter der Tür nicht ein leerer Platz befände, sondern ein gewaltiges, soeben geplatztes Aquarium, aus dem, endlich befreit vom Druck der bis zum Äußersten gespannten elastischen Wände, eine gewaltige Flutwelle herausgedrückt wurde und sich in den Saal wälzte. Und die Welle erhob sich, entgegen allen Regeln der Natur, und nahm eine

Der Grenzer packte den erstarrten Viktor, schubste ihn in den Rücken und schrie ohne jede Ehrfurcht: »Lauf, Herrscher! Lauf! Kress, zu mir!«

Der älteste Sohn des Räubers stürzte an die Seite seines Vaters, reglos standen die beiden da, zwei kleine Figuren gegen ein Wassermonster.

Ein gurgelndes Lachen erklang, die riesigen Hände streckten sich nach ihnen aus. Der Grenzer schleuderte seinen Morgenstern mit Geheul gegen die Pfote des Ungeheuers. Widerstandslos glitt die stachelige Kugel durch das Wasser, dann löste sie sich von der Kette und krachte von Rost zerfressen zu Boden, wo sie sich in einem rotbraunen Mulm auflöste.

Viktor wurde zur Tür hinausgeschubst. Er fiel auf die glatten Steinplatten und spießte sich selbst dabei beinahe mit seinem Schwert auf.

Hinter ihm liefen zwei Söhne des Räubers, der Jüngste und einer von den älteren.

»Schneller, Herrscher ...«

Es lag etwas Schreckliches in ihrer Selbstverleugnung, ihrer Bereitschaft, den Vater und den anderen Bruder seinetwegen im Stich zu lassen. Wie besessen rannte Viktor los. Durch den milchigen Nebel auf die dunkle Silhouette zu, die sich auf dem Gleis bewegte ...

Nein! Nein, er durfte diejenigen nicht im Stich lassen, die bereit waren, für ihn zu sterben! Nein, denn da war doch etwas in ihm, da zeichneten sich schon Fertigkeiten ab - es konnte kein Zufall sein, dass er einen vom Clan des Wassers getötet hatte! Er müsste jetzt neben dem Grenzer

Hinter ihm war Geschrei zu hören. Es war unmöglich, zu erkennen, wessen Schrei es war - der des Grenzers oder seines Sohns. Und es war unmöglich, zu unterscheiden, ob es ein Todesschrei oder ein Triumphgeheul war.

Der Raum schmolz, löste sich in Weiß auf. Er lief nicht, sondern er flog. Eilte durch eine helle, weiße Nacht - wie in Sankt Petersburg. Nur ein Blick nach hinten, und die Furcht überwältigt den Verstand. Durch die schaumigen Wolken gleitet ein geflügelter Schatten. Riesenhaft. Bedrohlich. Todbringend. Entweder spiegeln sich die Sterne in der schneeweißen Schuppe, oder sie leuchten ganz von selbst. Gleichmäßig schlagen die Flügel in der dünnen Luft, in den großen, flimmernden Augen liegt Zorn. Er hat es gewagt, den Geflügelten herauszufordern, er hat es gewagt, obgleich er noch nicht die Kräfte hat, mit ihm fertig zu werden. Und jetzt holt jener ihn ein, der Gebieter des Himmels und der Meerestiefen, der Herr über die Erdscholle und das Feuer.

Der, dessen Name Drache ist ...

Zieh nicht in den Kampf, wenn du keine Aussichten auf Erfolg hast ...

»Bleibt stehen, Herrscher«, schrie der junge Mann ihm im letzten Augenblick zu, ehe Viktor vom Bahnsteig auf die Gleise stürzte, geradewegs unter den heranstürmenden Eisenberg. Der Schrecken brach in einem gellenden Schrei aus ihm heraus - Wirklichkeit und Wahn vermischten sich, er war bereit zu glauben, dass ihm tatsächlich ein geflügeltes Ungeheuer entgegenflog.

Die Lokomotive rauschte nur Zentimeter entfernt neben ihm vorbei: Viktor spürte die Wärme des hochwandigen Kessels und wurde von aufsteigenden Dampfwolken eingehüllt.

Die Söhne des Grenzers kamen schwer atmend neben ihm zum Stehen, sie schwankten. War er tatsächlich so schnell vom Schlachtfeld getürmt?

Viktor rechnete mit Fragen, Ratschlägen, vielleicht sogar mit Bitten. Aber die Brüder hatten andere Sorgen. Mit gezückten Schwertern standen sie reglos zu seinen Seiten und starrten in den Nebel, ebenso bereit zu sterben wie ihr Vater.

»Hört mal, Jungs, es ist alles in Ordnung«, sagte Viktor ohne rechte Überzeugung. »Ihr könnt jetzt gehen.«

Zum ersten Mal sprach der älteste der Söhne ihn an. »Vater und Kress können wir nicht mehr retten.« Er klang heiser, entweder war er erkältet, oder seine Stimme versagte ihm den Dienst.

»Der Wassergeist bedeutet den Tod. Wir können ihn aufhalten, aber nicht vernichten.«

»Und wir werden ihn aufhalten, Herrscher«, fügte der Jüngere hinzu.

Fanatiker! Wahnsinnige Fanatiker! Mit einem Mal erkannte Viktor, dass ihm dieser Fanatismus, der sich in seinen Dienst stellte, keine Freude machte. Er erinnerte ihn an die verlogenen Geschichten über Soldaten, die sich mit einem begeisterten »Für Stalin« auf den Lippen feindlichen Panzern entgegenwarfen, an japanische Kamikazepiloten, an Wahnsinnige, die sich ans Deck eines Flugzeugträgers krallten, an Sektenmitglieder, die sich auf Befehl eines verrückten Propheten die Pulsadern aufschnitten.

Er drehte sich zu dem Waggon neben ihm, hieb mit der Faust auf die geschlossene Tür und brüllte: »Macht auf! Nun macht schon auf!«

Und die Tür wurde augenblicklich geöffnet. Als ob man dahinter nur auf eine Aufforderung gewartet hätte.

»Was brüllst du hier so rum?«

Auf dem Treppchen - aus blankpoliertem Messing wie auf einem Schiff - stand ein stämmiger Gnom in einer mausgrauen Uniform und mit einem kurzen Stab in der Hand.

»Wir ...« Viktor geriet ins Stocken, als er den Gnom von oben bis unten musterte.

»Was ›wir‹? Was brüllt Ihr so?«

»Wir wollen einsteigen!« Viktor erhob tatsächlich die Stimme.

»Fahrkarten!«

Er holte seine hervor und hielt dem Gnom das Stück Karton hin. Der blickte höchstens eine Sekunde darauf und schob es dann nachlässig in seine Tasche, während er zwischen den Zähnen murmelte: »Herzlich willkommen im Zug ... steigen Sie ein.«

Natürlich war keine Herzlichkeit in seiner Stimme. Entweder hatten seine Kollegen ihn bereits benachrichtigt, oder dieser Gnom hatte auch so begriffen, dass hier etwas nicht stimmte.

»Jungs, eure Fahrkarten.« Einen Moment lang dachte Viktor, dass diese vielleicht in der Tasche des Grenzers geblieben waren. Aber die Jungen reichten dem Gnom schweigend ihre Billetts. Ein weitsichtiger Räuber ... hatte sogar für seinen eigenen Tod vorgesorgt.

»Steigt ein«, knurrte der Gnom.

Aber die Jungen rührten sich nicht vom Fleck. Hatten sie vor, ihre Pflicht bis zum bitteren Ende zu erfüllen? Auf dem

»Wie lange warten wir noch hier?«, fragte Viktor den Gnom.

»Drei Minuten«, antwortete dieser, wenn auch widerwillig. Offenbar fühlten sich die Gnome verpflichtet, gewisse Umgangsformen gegenüber den Reisenden einzuhalten. Trotz allem. »Die Dampfsirene ertönt zweimal ... direkt vor der Abfahrt.«

Viktor wartete mit einem Fuß auf der Messingtreppe, während der Gnom unzufrieden auf die Erdklumpen blickte, die von Viktors Schuhsohle herabbröckelten. Ebenso warteten die Söhne des Räubers.

Nicht umsonst.

Lärm ertönte, ein Schatten stürmte durch den Nebel. Die Jungen schlichen in seine Richtung. Mit einem lauten Fluch sprang Viktor auf den Bahnsteig und zückte ebenfalls sein Schwert.

Aus dem weißen, mullartigen Nebel lief ihnen der Grenzer entgegen. Ein riesiger Bluterguss zog sich über die eine Gesichtshälfte, als hätte man ihm eins mit einem Brett übergezogen. Seine aufgeplatzten Lippen bluteten, und als er den Mund zu einem gequälten Lächeln verzog, konnte man erkennen, dass mehrere Zähne ausgeschlagen waren.

»Hast du das Scheusal getötet?«, rief Viktor ihm zu. Sein Misstrauen hinsichtlich der kämpferischen Qualitäten des Räubers hatte sich völlig gelegt.

»Nein, Herrscher.« Der andere schüttelte den Kopf. Er lispelte etwas, bemühte sich aber, deutlich zu sprechen. »Das steht nicht in meiner Macht.«

»Vater ...« Leise und fragend erklang die Stimme seines ältesten Sohnes.

Der Grenzer blickte ihn an und sagte: »Kress hat seine Pflicht erfüllt.«

»Das ... das tut mir sehr leid«, flüsterte Viktor.

»Danke, Herrscher.«

Der Gnom beobachtete sie beunruhigt und neugierig zugleich. Der Nebel schaukelte sanft hin und her. Irgendwo weiter vorne, bei der Lokomotive, waren Geräusche zu hören, entweder wurde Kohle aufgeladen oder Wasser nachgefüllt.

Wasser ...

»Wie heißt ihr?«, wandte sich Viktor abrupt an die Söhne des Räubers.

Diese sahen einander an. Schließlich antwortete der Älteste als Erster.

»Andrej.«

»Jaroslaw.«

Es war seltsam, diese typisch russischen Namen in dieser herrenlosen Welt zu hören ...

Der Grenzer schüttelte den Kopf, blickte Viktor in die Augen und sagte fest und ohne Schüchternheit: »Vergiss unsere Namen, Herrscher. Binde dich nicht an uns. Wir werden sterben - alle.«

»Warum?«

Der Räuber wischte sich Blut aus dem Gesicht. »So ist es vorhergesagt. Vor Hunderten von Jahren. Das weißt du doch, Herrscher.«

Viktor senkte den Blick. »Ich ... ich weiß es nicht.«

»Du wirst es erfahren. Du wirst dich erinnern.« In der Stimme des Grenzers schwang unerschütterlicher Glaube. »Herrscher ...«

Mit einem Mal streckte er die Hand aus und berührte Viktor an der Schulter, vorsichtig, wie ein Kreuzritter, der die Hände nach dem Heiligen Gral ausstreckte.

»Die Wächter der Grauen Grenze kennen ihre Pflicht. Wenn genug Zeit wäre, würden Tausende von uns kommen. Die Zeit reicht nicht, aber wir tun alles, was ...«

»Vater!« Andrej sah die Feinde zuerst. Also hatte man sie doch noch eingeholt.

Fünf an der Zahl tauchten in einem Halbkreis aus dem Nebel auf und drängten sie gegen den Zug. Und hinter den Angreifern wiegte sich das formlose, gurgelnde Ungeheuer schimmernd im Dunst.

Viktor musterte die Gegner, und sein Blick blieb an demjenigen hängen, der einen kurzen hellblauen Mantel über den Schultern trug. Er wirkte keinesfalls alt, vielmehr alterslos.

»Gotor, Magier des Wassers ...«

Wieder kam sie über ihn, jene Mischung aus Zorn und Kraft; und seine Lippen formten die Worte von selbst, während sich auf den Gesichtern der Feinde Angst breitmachte.

»Wieder trittst du mir in den Weg, Gotor. Ich habe eine Strafe ersonnen, die deiner würdig ist. Ich trinke deine Kräfte und werfe dich zum Sterben in eine verdorrte Wüste ...«

»Töte ihn!«, schrie Gotor. Und durch die Aufstellung der Kämpfer schritt, für einen Augenblick seine frühere Gestalt annehmend, der ungeheure Wassergeist. So schnell, dass die Räuber es nicht verhindern konnten. Seine durchsichtigen Hände schlugen auf Viktor ein, offenbar wollte er ihn in den Bahnsteig hineinrammen.

Als würde man einen Eimer Wasser über ihm ausgießen. Nein, zehn Eimer. Die Pranken des Monsters, die eben noch hart und tödlich ausgesehen hatten, verwandelten sich in fließendes Wasser. Das Ungeheuer kreischte jämmerlich auf, und seinen durchsichtigen Körper durchlief ein Zittern

Durchnässt von Kopf bis Fuß - davor hatte ihn auch die Jacke nicht schützen können - ließ Viktor sein Schwert sinken. Die kalte Dusche hatte die geheime Kraft aus seinem Bewusstsein verjagt, er war wieder er selbst, ein verwirrter, erschrockener Neuankömmling in einer fremden Welt.

Aber das konnten seine Feinde kaum wissen. Sie wichen zurück, suchten den Rückzug - bis Gotor schrie: »Vorwärts! Mit den Schwertern ...«

Die Dampfsirene gellte durchdringend und verschluckte alle anderen Geräusche. Die Kämpfer vom Clan des Wassers zögerten nur wenige Sekunden, ehe sie erneut angriffen.

»Der Zug fährt ab!«, schrie der Gnom und trat einen Schritt höher auf der Treppe.

Viktor überlegte nicht lange. Er wollte sich nicht darauf verlassen, dass er seine vorherige Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert wiedererlangen würde. Er schob die Waffe zurück in die Scheide - wenigstens das gelang ihm -, fasste den jüngsten der Brüder, der sich soeben in den Kampf stürzen wollte, am Arm und schleuderte ihn kraftvoll die kleine Treppe hinauf, geradewegs in die Arme des Gnoms.

Der Gnom wurde von dem unerwarteten Aufprall rückwärts auf den Boden geworfen und stieß einen Fluch in einer unbekannten Sprache aus, aber er schubste den Jungen nicht wieder aus dem Zug. Im Gegenteil, er zog ihn weiter hinein auf die Plattform und streckte dann Viktor die Hand entgegen.

Der fasste die harten, wie aus Stein gemeißelten Finger und schwang sich in den Waggon. Hinter ihm wichen der

Der Zug setzte sich in Bewegung, langsam, aber stetig gewann er an Tempo.

»Vater! Du bist wichtiger!«, schrie der Sohn des Räubers, während er verzweifelt Schwerthiebe parierte. »Steig ein, Vater!« Zum ersten Mal konnte man Angst in seiner Stimme hören.

In der Tiefe seines Herzens war Viktor überzeugt davon, ja, er hoffte es sogar, dass der Grenzer der Aufforderung nicht folgen würde. Das wäre einfach zu viel des Guten, wenn jemand um seinetwillen den eigenen Sohn ins Verderben stürzte.

Aber der Grenzer wehrte einen weiteren Hieb ab und rannte hinter dem Waggon her. Er sprang auf die Stufen, und Viktor, der seinen sinnlosen Ärger bezwingen musste, half ihm hinauf.

Auf dem Bahnsteig ertönte Andrejs Schrei, der sich wie ein Wahnsinniger auf die Feinde stürzte. Die Kühnheit seiner Attacke war so erschütternd, dass diese für einen Moment lang zurückwichen. Aber dann flogen die Schwerter dem Jüngling entgegen, und ihre geschärften Schneiden drangen in seinen Körper.

Doch Andrej stürzte sich noch einmal nach vorne - seine Wut war nicht mehr menschlich, eher tierisch, wie die eines bereits aufgespießten Bären, der wild vor Raserei hinter dem Jäger her stürmt. In einem letzten Kraftakt hieb er einem der Kämpfer den Kopf ab, dann sank er zu Boden, vor die Füße seiner Widersacher. Der Grenzer, der noch immer an den Haltestangen hing und mit ansehen musste, wie sein Sohn starb, stöhnte leise auf. Dann schob er sich auf die Plattform, tat einen Schritt, schwankte und sank auf die Knie.

Wie? Wie nur hatten sie das geschafft?

Viktor beugte sich über den Grenzer und versuchte die Länge der Klinge und die Einstichstelle einzuschätzen. Der Räuber röchelte, blutiger Schaum trat aus seinem Mund und tropfte auf den metallischen Boden.

Der rechte Lungenflügel war durchstoßen. Es gab keine Rettung. Ausgeschlossen.

Der Gnom schob Viktor zur Seite, kletterte achtlos über den Räuber und stellte sich in die Tür. Genau im richtigen Augenblick: Die übrigen Magierkämpfer des Wasserclans rannten auf dem Bahnsteig neben dem sich beschleunigenden Zug her.

»Mach Platz!« Gotors Kreischen gellte in den Ohren.

»Eure Fahrkarten!«

»Du Missgeburt!«, heulte der Magier. »Wie kannst du es wagen!«

»Ohne Fahrkarte fährt keiner auf der Eisernen Route.«

»Wir jagen euch aus euren Höhlen! Wie die Murmeltiere werden wir euch ersäufen! Das werdet ihr uns büßen ...«

Der Gnom zuckte mit den Schultern und knallte die Tür zu. Der Zug schaukelte, während er schneller und schneller wurde.

Jaroslaw, der sich erst jetzt wieder aufrichtete, kroch auf allen vieren zum Vater. Er blickte in sein Gesicht und begann leise wie ein Kind zu klagen.

»Schweig ... mach dem Namen der Wächter keine Schande«, sagte der Räuber angestrengt. Mit verlöschendem Blick sah er Viktor an. »Wir haben alles getan, was wir konnten.«

»Ich weiß.« Viktor antwortete leise.

»Bist du zufrieden, Herrscher?«

Zufrieden? Damit, dass innerhalb von einer Viertelstunde drei junge Männer um seinetwillen ihr Leben gelassen hatten und jetzt auch noch dieser Unglückliche starb?

»Ich bin dir dankbar.«

»Herrscher ... nimm das hier ...« Die Hand des Grenzers schob sich in die Innentasche seiner Jacke, fasste nach etwas und erstarrte für immer.

Viktor öffnete die mit letzter Anstrengung zusammengedrückten Finger des Räubers und nahm aus dessen Hand das, was jener ihm noch so dringend hatte geben wollen.

Es war ein Medaillon. Ein Miniaturporträt in einem ovalen Keramikmedaillon. Für gewöhnlich wurde darin das Porträt eines römischen Kaisers im Profil oder ein übertrieben lieblich gemaltes Frauengesichtchen aufbewahrt.

Auf diesem hier war Viktors Antlitz abgebildet.

Ein violetter Flor umrahmte sein eigenes Gesicht.

Es sah ein wenig strenger aus - im Übrigen konnte jedes Gesicht streng aussehen. Sogar der Kragen seines Hemdes war zu erkennen, das schwarz und falsch geknöpft war. Keine Unterschrift, nichts. Wie eine Fotografie, die jemand auf Stein übertragen hatte.

Nur dass dieses Medaillon uralt war. Vielleicht über hundert Jahre.

Der Junge setzte sich schluchzend neben ihn. Auf das Medaillon warf er nur einen flüchtigen Blick, also kannte er es wohl.

»Was machen wir mit dem Leichnam?«, fragte der Gnom dumpf. »Er war ein kühner Kämpfer. Wenn ihr wollt, kann ich unsere Leute von der Eisernen an der nächsten Station bitten, ihn zu beerdigen.«

Viktor sah zum jüngsten Sohn des Grenzers hinüber, der sich nicht rührte.

»Slawa!« Viktor sprach den Jungen mit der Kurzform an, denn dessen voller, erwachsen klingender Name kam ihm in diesem Moment einfach nicht über die Lippen. »Wie sollen wir deinen Vater beerdigen?«

»Auf seinem Grabstein soll stehen: ›Wächter der Grauen Grenze‹.« Jaroslaw zog die Nase hoch. Eilig trocknete er seine Tränen. »Mehr nicht, Herrscher.«

»Du steigst an der nächsten Station aus«, sagte Viktor. »Du passt auf, dass alles ordentlich gemacht wird. Ich gebe dir Geld für eine Rückfahrkarte.«

»Herrscher!«

»Keine Widerrede!«, bellte Viktor.

Das fehlte gerade noch, dass er auch noch das Leben dieses Kindes auf sein Gewissen nahm. Er stand ohnehin schon in der Schuld der Wächter!

»Dem Herrscher soll man dienen, aber ihn nicht bedienen.« Jaroslaws Augen blickten in die Viktors.

»Natürlich. Und du wirst mir dienen. Du fährst zurück und überbringst Rada, der Wirtin des Restaurants, eine Nachricht. Schluss jetzt, die Diskussion ist beendet.«

Viktor stand auf und ließ das Medaillon in die Tasche gleiten, während der Gnom ihn nachdenklich beobachtete.

»Wo ist mein Abteil?«

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