Die Steilhänge rechts und links rückten allmählich auseinander und wurden flacher, am Ende lief die Schlucht einfach aus. Der Wald wurde friedlicher, es gab kaum noch Bruchholz. Unter dem sternenlosen, wolkenverhangenen Himmel, in nahezu biblischer Finsternis stießen Viktor und Tel schließlich auf einen breiten Weg. Zwar wirkte er so, als wäre er seit langem nicht mehr benutzt worden, aber der Boden war immerhin so festgetreten, dass nichts auf ihm wuchs. Vor dem dunklen Gras und Buschwerk stach der Weg hell hervor.
»Eine alte Handelsstraße«, verkündete das Mädchen. »Früher sind die Karawanen hier entlang zu den Häfen im Süden gezogen. Dann hat die Graue Grenze den Weg gekreuzt, jetzt führt die Straße außen herum. Und wenn jemand hier durch will, muss er durch den Wald und die Schlucht ...«
Viktor bemühte sich im Geiste eine Art Karte zu skizzieren: der Wald, die Schlucht, die Graue Grenze, der Weg, der sie kreuzte.
»Und wohin gehen wir?«
»Zur Route. Da ist eine kleine Siedlung, das hab ich doch schon gesagt. Die Städte rundherum liegen fast alle
Es war wirklich kein schlechter Weg. Tatsächlich eher eine Straße, ohne weiteres könnten hier zwei Lkws aneinander vorbeifahren ...
Nach dem unwegsamen Wald und der Schlucht fiel das Gehen jetzt leichter. Und der kleine Fladen aus der Tasche des Halbelfen hatte ihn in unerwarteter Weise gesättigt und ihm neue Kraft gegeben, fast wie eine Tasse starken Kaffees.
Der Weg wand sich zwischen den Hügeln hin und her, der Wald wurde immer lichter und zog sich zurück. Wahrscheinlich war es eine Täuschung, aber Viktor hatte das Gefühl, dass es heller wurde. Er blickte auf die Uhr - die phosphoreszierenden Spitzen der Zeiger bedeuteten ihm, dass es noch nicht einmal ein Uhr war.
»Ist es noch weit?«
»Nein, noch etwa eine halbe Stunde.« Ihrer Stimme nach zu urteilen, sah sie nichts Ungewöhnliches in derartigen nächtlichen Wanderungen, und offensichtlich erwartete sie auch keine Gefahren mehr. »Halt durch.«
Viktor ächzte vor Wut, sagte aber nichts.
»Deine Kräfte habe ich natürlich überschätzt«, sagte sie selbstkritisch. »Ich habe nicht daran gedacht, dass es für dich schwierig ist, in der Dunkelheit zu gehen.«
»Und du ... siehst du im Dunklen?«
»Ja, natürlich.«
»Bist du vielleicht auch eine Halbelfe?« Viktor meinte es beinahe ernst.
»Nein, Unsinn. Es gibt keine weiblichen Halbelfen. Niemals.«
Viktor wollte erst bemerken, dass der Phänotyp des Elfenwesens offenbar eng mit dem männlichen Geschlecht, also mit dem X-Chromosom verbunden sei, besser gesagt, dass alle weiblichen Halbelfen bereits im embryonalen Stadium einer letalen, also tödlichen Mutation ausgesetzt seien, aber aus irgendeinem Grund wollten ihm seine Auslassungen über die Vererbungsgesetzmäßigkeiten der Elfen nicht über die Lippen kommen.
»Aber woher hast du die Fähigkeit? Das hatte ich wohl mit den Räubern gemein - sie hat die Dunkelheit auch gestört.«
»Viktor, darf ich denn gar keine Geheimnisse haben?«
Es hatte keinen Sinn, darüber zu streiten.
»Dann sag mir, wo du wohnst.«
»Wozu?«
»Wie wozu? Ich soll dich doch nach Hause begleiten.«
Es sah so aus, als sei es ihm gelungen, Tel in Verwirrung zu stürzen.
»Gut, du bringst mich nach Hause, und was machst du dann?«
»Ich kehre zurück.«
Tel schwieg lange, ehe sie schließlich fragte: »So mir nichts, dir nichts willst du zurückkehren? Du glaubst mir doch, oder? Du hast es doch schon selbst erkannt? Du weißt, dass man die Welt auch anders sehen kann, als man es gewohnt ist. Und trotzdem willst du zurück? In diese Stadt, in dein blödes Haus, willst wieder diesen Gestank einatmen und deine Zeit mit nutzlosem ...«
»Tel!« Er unterbrach das Mädchen. »Ich lebe dort. Verstehst du nicht? Und dort leben meine Verwandten, meine Freunde. Und ich habe meine Arbeit, entschuldige bitte, aber die ist sicher angenehmer als ... anderen Leuten die Kehle durchzuschneiden.«
»Aber du bist doch ...« Ihre Stimme versagte. »Viktor ...«
»Was?«
»Vielleicht habe ich mich getäuscht ...«, sagte sie nachdenklich.
»Worin?«
»Na in dir! Viktor, du sollst hier leben! Verstehst du? Wenn ein Mensch nicht mehr mit seiner Welt übereinstimmt, trennt diese ihn von sich ab. Stößt ihn ab. Wirft ihn raus. Glaubst du etwa, es ist ein Zufall, dass bei dir zu Hause alles kaputtgeht?«
»So, so.« Viktor blieb stehen, fasste in der Dunkelheit nach Tels Schulter und drehte sie mit dem Gesicht zu sich. »Dann erzähl doch mal. Ich hab genug von deinen Andeutungen.«
Tel begann zu schniefen wie ein ganz normales Mädchen, das man bei seiner Geheimniskrämerei stört.
»Ich glaube, meine Geduld ist erschöpft«, fuhr Viktor fort. »Erst nehme ich eine Verrückte auf, eine, die in der Dunkelheit sehen kann und deren Wunde innerhalb von einer Nacht verheilt, die keine Komplexe kennt und keine Gefühle zeigt. Dann stürze ich hinter ihr her in den Wald, wo ich vor irgendwelchen Idioten davonlaufen muss und im Nirgendwo lande. Ich springe in eiskaltes Wasser und hüpfe hinterher nackt ums Lagerfeuer, höre mir Geschichten über verschiedene Welten an und wandere mitten in der Nacht quer durch den Wald. Lasse mich von Untoten erschrecken und bringe Räuber um. Und jetzt soll ich das alles auch noch gut finden?«
»Was willst du, Viktor?«
»Eine Erklärung.«
»Du gehörst nicht in die Welt auf der Anderen Seite.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich. Sonst wärst du nicht hierhergekommen. Aber das Wichtigste ist, dass du hier in unserer Welt gebraucht wirst. Sogar dringend gebraucht wirst.«
»Und du bist gekommen, um mich von einer Welt in die andere zu führen?«
»Ja. Du hättest auch allein kommen können. So ist es normalerweise bei Leuten, die anfangen, ihre Welt anders zu sehen. Früher oder später finden sie den Pfad, den Übergang, und erscheinen hier. Aber du bist zu wichtig. Wir konnten nicht warten und es dem Zufall überlassen. Erinnerst du dich an die Männer am Übergang? Wärst du allein gewesen, hätten sie dich umgebracht.«
»Und wenn ich in meiner Welt geblieben wäre?«
»Hätten sie dich trotzdem umgebracht. Für alle Fälle. Außerdem wärst du nicht dort geblieben. Solche wie du bleiben nicht da.«
Viktor musste lachen. »Sieh mal an. Also dann danke. Schließlich heißt das, dass du mir geholfen hast. Danke.«
Aber sein Ärger wuchs. Wahrscheinlich lag das an der Müdigkeit. Oder vielleicht am weißen, schmalen Gesicht des Halbelfen, an das er sich aus irgendeinem Grund erinnerte.
»Es ist meine Aufgabe, denen zu helfen, die von der Anderen Seite hierherkommen«, sagte Tel. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sich Viktors Stimmung verändert hatte. »Lass uns weitergehen. Dort hinter der Biegung liegt schon die Siedlung.«
Der Weg wand sich, beschrieb wieder eine Kurve um einen Hügel. Oder war das vielleicht kein Hügel, sondern ein Hügelgrab? In der Nacht schienen seine Konturen schon allzu gleichmäßig. Wie auch immer ... Viktor hatte die Nase voll von Abenteuern. Seine gewöhnlichen Sorgen und Probleme
»Teufel ...«, flüsterte Viktor vor sich hin, »Teufel ...«
So war das also. Es kam nicht gleich, nicht in dem Moment, wenn das Blut vor Adrenalin kochte und der Kehle ein tierischer Schrei entwich. Dann war alles möglich - töten, den Leichnam durchsuchen und fremde Vorräte verschlingen, während es nach brennendem Menschenfleisch stank. Erst später, in der Stille und Dunkelheit, krochen die erschrocken zurückgewichenen Jahrtausende der Zivilisation wieder herauf, klopften dir auf die Schulter und blickten dir vorwurfsvoll in die Augen.
Tel schwieg, selbst wenn sie verstanden haben sollte, was in ihm vorging. Zumindest dafür war er ihr dankbar. Sie verlangsamten ihre Schritte, während sie die Kuppe des Hügels überwanden - der Weg hatte die Windungen offenbar satt und verlief jetzt schnurgeradeaus.
»Da liegt die Siedlung«, sagte Tel.
Ganz in der Nähe, vielleicht in hundert Meter Entfernung, glommen matt einige Lichter. Viktor zögerte, er verspürte kurz ein unerwartetes Gefühl der Enttäuschung. Sie hatten nur noch wenige Minuten zu gehen.
»Ich dachte, wir müssten irgendwo rüberspringen ... oder raufkraxeln«, gab er zu.
»Warum?«
»Ich weiß nicht ...«
Unbewusst rechnete er damit, Hundegebell zu hören, aber während sie auf die Siedlung zugingen, blieb alles vollkommen still. Vielleicht gab es in dieser Welt keine Hunde? So wie es in der normalen Welt keine Elfen gab.
»Bleib stehen ...« Tel hielt an und griff nach Viktors Hand, jemand kam ihnen entgegen.
Viktor umfasste mit der Hand den Griff des Messers. Der nächtliche Wanderer kam näher. Schweres Atmen und schleppende Schritte waren zu hören. Viktor entspannte sich.
Zumindest gab es Alkohol in dieser Welt.
»Nein ... ich nehme nicht den kurzen Weg ...«, vernahm er aus der Dunkelheit eine männliche Stimme. Entweder hatte der Mensch sie bemerkt, oder er redete mit sich selbst. »Nein ... ich geh durch die Schlucht. Dort ist es dunkel, feucht und schrecklich ... Dort sind die steilen Abhänge ... dort pfeift der Wind!«
Was den Wind anging, täuschte der Mann sich, ansonsten konnte Viktor ihm nur zustimmen.
»Ich geh durch die Schlucht ...«, wiederholte der Betrunkene melodisch sein Vorhaben. »Und mir geht’s wieder gut ... ah ... ich ... werd ... nü-nüchtern!«
Ohne sie zu bemerken, ging er an ihnen vorüber. Das Gesicht konnte Viktor nicht erkennen, aber er begriff, dass es sich um einen sehr kräftigen, groß gewachsenen Mann mit einem ordentlichen Bauch handelte. Als er schon an ihnen vorbei war, hielt er für einen Moment inne und sagte mit trauriger, verständnisloser Stimme und ohne jeden Zusammenhang: »Bleikugeln! Das muss sein!«
Viktor beugte sich zu Tel vor und flüsterte: »Sollten wir ihn nicht aufhalten? Er ist in einem solchen Zustand ...«
»Gerade in einem solchen Zustand wird er ohne Schwierigkeiten ankommen«, antwortete Tel sorglos. »Betrunkene haben immer Glück. Und übrigens können die Toten den Geruch von Alkohol nicht ertragen.«
Viktor fragte nicht nach, warum die Toten Abstinenzler waren. Aus Angst, dass Tel wieder seltsame Erklärungen parat hatte und er wieder völlig unglaubliche Dinge würde glauben müssen ...
Obwohl man meinen sollte, dass im Vergleich zur schieren Tatsache, dass es wandelnde Leichen gab, deren Abneigung gegen Schnapsgeruch gewissermaßen eine zu vernachlässigende Kleinigkeit war.
Der Weg ging in eine richtige Straße über. Sie hatten keine gestampfte Erde mehr unter den Füßen, sondern sorgfältig verlegte Pflastersteine. Hier war es heller - in vielen Häusern waren trotz der späten Stunde noch Fenster erleuchtet, vor einigen brannten Laternen. Viktor sah sich aufmerksam um, er war begierig, die Besonderheiten dieser Welt auszumachen. Etwas Mystisches, Unwirkliches oder zumindest etwas Mittelalterliches.
Aber weit gefehlt!
Ordentliche saubere Häuser mit zwei bis drei Stockwerken. Bei den meisten schien das Erdgeschoss aus Stein und der Aufbau aus Holz zu bestehen. Die Fenster waren verglast. Die Laternen bestanden aus fein ziselierten metallischen Gehäusen, die mit mattem Glas versehen waren, jedoch brannte das Licht darin allzu gleichmäßig.
Aber es war der Knopf neben der Eingangstür eines Gebäudes, der Viktor endgültig aus der Fassung brachte. Ein Knopf! Ein metallischer Knopf, der genau an der Stelle angebracht
»Gibt es hier etwa Elektrizität?«, rief er vorwurfsvoll. Tel blickte ihn verwundert an, so dass er unwillkürlich die Stimme senkte. Das Gesicht des Mädchens sah im Licht müde, fast grau aus.
»Ja und?«
»Warum?«
»Warum sollte es die nicht geben? Oder hab ich dir gesagt, dass die Straßen hier mit Robbenfett und Birkenkienen beleuchtet werden?«
»Nein, aber ... Wenn es hier ...« Viktor stockte, während er verzweifelt nach Worten suchte. »Tel, ich kann schon an all das glauben: an eine andere Welt oder eine andere Seite der Realität. Gott weiß weshalb, aber ich kann das! Gut, hier leben Elfenfrauen, von denen es nie genug gibt und die mit Männern schlafen! Und die Leichen gehen hinter der Grauen Grenze um, die von Zauberern errichtet wurde!«
Tel lächelte herablassend.
»Aber dann - kann es hier keine Technik geben! Keine Elektrizität, keine Lampen, Klingeln oder Maschinen!«
Über ihren Köpfen wurde polternd ein Fenster geöffnet, und eine wütende Stimme zerriss die Nacht: »Ewig diese Sauferei, wie die Schweine ... he, ihr da unten, macht, dass ihr weiterkommt!«
In seiner Wut hätte Viktor um ein Haar zurückgebellt, aber er besann sich noch rechtzeitig. Erstens war seine Position für einen Streit äußerst ungünstig, und zweitens war er wirklich im Unrecht.
»Viktor, du bist müde«, sagte Tel mit weicher Stimme. »Lass uns gehen.«
Gehorsam schritt Viktor hinter dem Mädchen her, als wäre er tatsächlich ein Betrunkener, der von seiner ehrerbietigen Tochter geführt wurde.
»Alles ist möglich«, redete Tel ihm zu. »Das hier ist die Mittelwelt, verstehst du? Hier ist alles möglich ...«
Sie blieben vor einem langgestreckten, zweistöckigen Gebäude stehen. Zur Abwechslung war es ganz aus Stein.
»Ein Hotel«, erklärte Tel.
Viktor lag eine boshafte Antwort auf der Zunge, er wollte schon »Herberge« sagen, aber er hielt sich zurück. Tel öffnete, ohne zu zögern, die unverschlossene Tür, und sie traten ein.
Vor ihnen lag eine kleine Halle mit Wänden aus rohem, rot gebranntem Ziegelstein, an denen einfache Stickbilder in leuchtenden Farben hingen. Auf der einen Seite stand eine Reihe massiver harter Lehnstühle, auf der anderen ein Tisch von eindrucksvollen Ausmaßen, an dem zwei Leute saßen. Es waren einige Türen und eine Wendeltreppe, die nach oben führte, zu sehen. Nichts Ungewöhnliches, so könnte ein kleines, heimeliges Hotel irgendwo in Westeuropa aussehen. Von der Decke hing ein Kristallleuchter herab. Mit einem resignierten Seufzen wandte Viktor den Blick von den elektrischen Glühbirnen ab.
»Guten Abend!«, sagte Tel vernehmlich.
Ein hagerer junger Mann mit roten Haaren erhob sich. Er war in einen zerknitterten Anzug undefinierbaren Schnitts gekleidet und trug ein graues, zerdrücktes Barett auf dem Kopf. Er sah lächerlich aus, aber mehr auch nicht.
»Guten Abend, Mädchen«, sagte er mit überraschend tiefer Stimme. Tel musterte er kurz und gleichgültig. Viktor dagegen begutachtete er sehr viel eindringlicher.
Aber der konnte seine Augen nicht von dem anderen Wesen am Tisch abwenden.
Es war ein Elf.
Und Viktor bedurfte keinerlei Erklärungen, um den Unterschied zwischen einem Elfen, einem Halbelfen und einem Menschen zu begreifen. Wahrscheinlich war es gut, dass er zuerst einen Halbelfen gesehen hatte - auf diese Weise war der Kontrast nicht ganz so schockierend.
Die Haare des Elfen sahen wie goldener Schaum aus, wie Hobelspäne von Blattgold, die nachlässig zu einer hohen Frisur aufgetürmt waren. Das Gesicht war nicht auf jene schwindsüchtige Art schön wie bei dem Halbelfen - sondern es war von einer unmenschlichen, überirdischen Schönheit, die ihren eigenen Regeln folgte. Sein Körper war zierlich und fein, aber nicht unbedingt zerbrechlich.
Der Elf war etwas ganz und gar anderes, unermesslich weit entfernt vom Menschen. Wenn Gott den Menschen aus Lehm geformt hatte, so hatte er für die Elfen wahrscheinlich Quellwasser genommen.
Aber die schmalen Finger des Elfen drückten mit ungekünstelter Grazie das gefiederte Ende eines Pfeils, der schon an die Sehne eines schlanken Bogens angelegt war. Die Tatsache, dass der Bogen auf dem Tisch lag, beruhigte Viktor wenig; er war überzeugt, dass ihn der Pfeil eine halbe Sekunde später in die Brust treffen würde.
»Woher kommt Ihr, Reisende?«, erkundigte sich der Rothaarige.
»Wir sind an der Grauen Grenze entlang gereist«, antwortete Tel. Offenbar verlangte die Frage nicht nach einer präzisen Antwort.
»Nachts entlang der Grenze«, wiederholte der junge Mann mit respektvoller Stimme. »Mutige Leute ...«
Er blickte Tel noch einmal an, diesmal etwas aufmerksamer, und sein Gesicht zuckte kaum merklich. Als ob er das Mädchen erkannte hätte ... mit Überraschung. »Was kann ich für Euch tun?« Jetzt war der Junge die Höflichkeit selbst. Der Elf wandte ihnen das Gesicht zu, blickte seinen Kameraden neugierig an und nahm die Hände von der Waffe.
»Wir brauchen ein Zimmer.«
»Eins, zwei?«
»Eins.«
»Mit einem Bett oder mit zwei?«
»Mit zwei.«
»Licht, Wasser?«
»Das beste Zimmer.«
»Natürlich, werte Gäste. Dersi, Zimmer Nummer acht!«
Nicht Angst hatte den Räuber überkommen, den Viktor am Ende hatte laufen lassen. Eher eine Art Verwirrung, wie wenn ein Mensch seinen Ahnungen nicht traut und es für besser hält, sich rückzuversichern.
»Hier sind die Schlüssel ...« Der junge Mann nahm zwei Ringe mit massiven Schlüsseln aus den Händen des Elfen entgegen und reichte sie Tel mit einer angedeuteten Verbeugung. »Was können wir noch für Euch tun?«
»Wir haben Hunger ...«, sagte Tel in nörgeligem Tonfall.
»Unser kleines Restaurant ist noch geöffnet.« Der junge Mann deutete mit dem Kopf zu einer der Türen hin. »Sollen wir Euch etwas aufs Zimmer bringen lassen?«
»Nein, danke, wir gehen selbst.« Tel nickte Viktor zu. »Du musst bezahlen!«
Viktor zog schweigend das erbeutete Säckchen hervor und blickte den Jüngling fragend an.
»Ein Goldstück.«
Der Elf gab ein leises, nachdenkliches Geräusch von sich.
Immer noch schweigend gab Viktor dem Jüngling eine Münze, die dem Aussehen nach aus Gold war. Auf der Münze war keinerlei Aufschrift zu erkennen, aber beidseitig war ein furchteinflößender Drachenkopf eingeprägt. Der Jüngling nahm die Münze mit offenkundiger Verwirrung, wandte die Augen ab und steckte das Geldstück schnell in die Tasche.
»Nehmen Sie kein altes Geld?«, fragte Tel neugierig.
»Doch, doch, natürlich.« Der junge Mann warf einen Blick zum Elfen hinüber und bedeutete diesem mit einer Grimasse, dass er schweigen sollte. Viktor gefiel es ganz und gar nicht, was hier vor sich ging, aber es schien ihm klüger, sich nicht einzumischen.
»Lass uns gehen, ich möchte was essen ...« Tel zog Viktor mit sich. Der Elf hatte nicht ein einziges Wort gesprochen und sich auch nicht herabgelassen aufzustehen. Jetzt war es offenbar an der Zeit für ein ernstes Gespräch zwischen ihm und dem jungen Mann.
Hinter der Tür zum Restaurant war es unerwartet kühl. Viktor erstarrte auf der Schwelle und erkannte mit Staunen, dass der alberne Traum, dem er noch vor kurzem nachgehangen hatte, Wirklichkeit geworden war.
Vor ihnen stand ein halbes Dutzend Tische, die mit weißen Tischtüchern, mit Besteck und weißem Porzellan eingedeckt und nicht besetzt waren. Hier gab es kein elektrisches Licht, nur Kerzen in massiven Kerzenleuchtern entlang der Wand. Ein betörender Duft nach Essen stieg ihm in die Nase, der vermutlich durch die offene Küchentür hereinströmte. Auf einem kleinen Bartresen standen verschiedene Flaschen mit unbekanntem Etikett, aber mit eindeutigem Inhalt.
Auf einem hohen Barhocker schlief, das Gesicht auf den Tresen gelegt, ein stämmiger Mann, der in eine Art paramilitärische Uniform gekleidet war.
»Oho ...«, war alles, was Viktor sagen konnte. Er wollte sich schon die Augen reiben. »Tel, wenn du mir gesagt hättest ... was uns ... hier erwartet, wäre ich doppelt so schnell gegangen.«
»Woher hätte ich wissen sollen, dass wir zu Geld kommen?«, antwortete das Mädchen mit einer Gegenfrage. »Hallo, Wirt!«
Hinter dem Tresen öffnete sich eine kleine Tür, und ein Mädchen erschien im Türrahmen. Sie war etwas älter als Tel, vielleicht sechzehn, siebzehn, hübsch und strahlend, aber nicht von Schminke, sondern aus sich selbst heraus. Tel geriet ein wenig in Verwirrung.
»Und wo ist der verehrte Konam, der Schweigsame?«, fragte sie. »Schläft er schon?«
Zwischen den beiden Mädchen machte sich augenblicklich eine gewisse Anspannung breit.
»Papa schläft schon seit drei Jahren«, sagte das Mädchen trocken. »Ich bin nicht ganz so schweigsam wie er, aber das ist, wie ich hoffe, mein einziger Nachteil.«
»Entschuldigen Sie.« Jetzt sah Tel wirklich verwirrt aus. »Konams Restaurant war auf der ganzen Route berühmt ...«
»Es hat nichts von seinem Ruhm eingebüßt und auch den Namen beibehalten.«
»Wir sind sehr müde und fast am Verhungern.« Viktor hatte begriffen, dass er sich in das Gespräch einschalten musste. »Wenn Sie also noch nicht geschlossen haben ...«
Das Mädchen runzelte die zarte Stirn. »Wer würde angesichts von Gästen schließen? Essen, Wein? Womit kann ich dienen?«
»Was empfehlen Sie, wenn man mitten in der Nacht die Graue Grenze entlang gewandert ist?« Jetzt stellte Viktor eine Gegenfrage.
Das Mädchen nickte zustimmend. »Gleich wird man Euch alles bringen ...«
Eine Sekunde später war sie hinter der Tür verschwunden, und Tel blickte Viktor traurig seufzend an. »Er war ein toller Typ ...«
»Wer? Konam?«
»Ja. Ein großartiger Kämpfer. Ein Abenteurer. Im Übrigen ... davon gibt es ja viele. Aber im Alter kaufte er sich dieses nette kleine Restaurant hier und nannte es Konams Königreich. Damit wurde er in der ganzen Mittelwelt bekannt.«
»Interessante Karriere.«
»Ruhm erwirbt man sich nicht zwangsläufig mit dem Schwert ...« Wieder seufzte Tel und fügte hinzu: »An seine Tochter kann ich mich fast nicht mehr erinnern.«
»Warst du schon öfter hier?«
»Ja, aber das ist lange her.«
»Dieser junge Mann da draußen, ich glaube, er hat dich erkannt.«
Tel zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Soll er doch.«
Konams Tochter kam zurück. Schweigend holte sie unterm Tresen zwei hohe Pokale hervor, goss zunächst eine rote Flüssigkeit aus einem Glaskrug hinein und füllte die Gläser dann mit drei verschiedenfarbigen Inhalten aus drei weiteren Flaschen auf. Sie hantierte schnell und geschickt, so dass sich die Flüssigkeiten nicht miteinander vermischten, sondern ein Cocktail mit vier Schichten entstand.
»Trinkt das als Erstes«, empfahl sie.
Viktor setzte sich auf einen Barhocker, und Tel ließ sich neben ihm nieder. Sie nahm ihren Cocktail, hielt ihn vor eine Kerze und schaute ihn kritisch an.
Die vier Schichten fingen an sich zu bewegen, durchdrangen sich langsam gegenseitig. Viktor begriff zu seiner Verwunderung, dass sich auf ihrem Getränk jetzt die sieben Streifen abzeichneten, die das gesamte Farbspektrum ausmachten.
»Sie wissen, wie man einen Regenbogentraum mixt!«, rief Tel begeistert. »Das ist ja wunderbar!«
Das Lob schmeichelte dem Mädchen offenbar.
»Ich heiße Rada.«
»Rada, ich habe gehört, dass Konam geschworen hat, keinem je das Rezept zu verraten.«
»Papa hat es auch niemandem verraten. Nicht mal mir. Ich habe es selbst ausgetüftelt.«
Viktor nahm einen vorsichtigen Schluck. Das Getränk war eindeutig alkoholisch, aber es schmeckte ganz und gar ungewöhnlich. Er fühlte sich buchstäblich nach dem ersten Schluck gestärkt, gleichzeitig begann sein Körper sich zu entspannen.
»Nein wirklich, es gibt nichts Besseres für einen müden Reisenden zu später Stunde als ein Glas Regenbogenträume!«, sagte Tel. »Ach ... warum hat Konam erst so spät seine Berufung entdeckt? Was er sich für wunderbare Getränke ausgedacht hat!«
Viktor befürchtete schon, dass die Worte Rada kränken würden, aber das Mädchen nickte zustimmend. »Ja. Und ich werde mich im Gegensatz zu ihm nicht erst jahrelang mit Schwachsinn beschäftigen. Kommt morgen früh hier vorbei, ich bereite Euch einen Sprudelnden Tag auf Kosten des Hauses. Das ist mein eigenes Rezept. Sogar Herr Andrzej wusste es zu schätzen.«
»Der Magier der Erde?«, wollte Tel wissen.
»Ja, das Oberhaupt des Clans. Er hat hier auf dem Weg in die Schneesteppen haltgemacht. Ein schwächlicher Mann mit Glatze ...« Rada begann zu flüstern: »Dem Aussehen nach völlig gewöhnlich. Da macht jeder beliebige Jäger oder Zimmermann mehr her. Wo die Seele nicht überall einzieht ... Aber getrunken hat er - das glaubt Ihr nicht.«
Entweder waren ihr die nächtlichen Gäste plötzlich sympathisch geworden, oder die junge Frau hatte beschlossen, dass das Geschäft vorgeht, jedenfalls war ihre anfängliche Kälte verschwunden.
»Gleich kommt Euer Essen«, teilte sie ihnen mit. »Jeweils ein Scheibchen gedünsteten Fisches, dazu Gemüse, außerdem Saft und Weinbergschneckenpastete. Das wird genau das richtige Abendessen für Euch sein. Glaubt mir. Bleibt Ihr länger?«
»Nein«, sagte Tel mit Bedauern in der Stimme. »Morgen müssen wir weiter.«
»Vielleicht könnt Ihr wenigstens bis zum Mittagessen bleiben. Suppe auf Elfenart, Rebhuhn im Teig und dazu Liköre vom Clan der Bären. Ihr werdet es nicht bereuen.« Sie lächelte Viktor an und verschwand wieder hinter der Tür.
»Das bestimmt nicht«, stimmte Tel zu und trank ihren Cocktail aus. »Ach ja ... du wolltest morgen nach Hause zurückkehren. Und wann? Gleich morgens oder nach dem Mittagessen?«
Viktor wusste nicht, was er antworten sollte.
Heimat. Ritor, hier wurdest du geboren, und hier wuchst du auf. Hier lerntest du. Von hier bist du zu deinem Feldzug aufgebrochen, der für alle Eingeweihten so schicksalhaft wurde; und hierher bist du zurückgekehrt ... ohne auch nur
Natürlich bemerkten sie ihn schon von weitem. Und er versuchte auch nicht, ungesehen zu bleiben. Seine züngelnde Aura der Kraft war für die Magier seines Clans schon aus vielen Meilen Entfernung zu erkennen. Und als er seine Flügel schloss und sich neben dem Vordach der Magierschule, die gleichzeitig seine Wohnstatt war, niederließ, hatte sich rundherum bereits eine Menschenmenge versammelt. Alle schwiegen. Sie wussten, dass sich ein Unglück ereignet hatte.
Ritors Augen suchten in der Menge nach Taniels Mutter. Er senkte den Kopf, unfähig, ihren Blick voll schmerzlichen Vorwurfs zu ertragen. Er hatte nichts auszurichten vermocht, hatte den Jungen nicht behütet, nicht verteidigt, und jetzt waren alle Worte sinnlos.
Dennoch und trotz alledem begann Ritor zu sprechen. Er durfte vor seinen Leuten keine Geheimnisse haben. Das Wasser verstand sich auf die Kunst der Lüge - wie übrigens auch die Luft -, aber was er ungesagt ließe, würde der Feind verdrehen und eilig herumerzählen.
Kurz, aber ohne etwas zu verschweigen, berichtete Ritor von dem Kampf mit Torn und dessen Leuten in der Burgruine, über den Verrat, die Ermordung der Abordnung vom Feuerclan und darüber, wie man ihn - alle Gebräuche missachtend - auf Loj Iwers Ball hatte umbringen wollen.
»Nun, Brüder, was sollen wir jetzt tun? Schweigen, ausharren, uns ergeben?« Mit dieser Frage schloss er seine Erzählung.
Die Menge, die ihm in Grabesstille gelauscht hatte, brach innerhalb eines Wimpernschlags in kreischendes Geheul
»Krieg«, erklang über dem Platz der lautlose Ruf der Häuser. »Krieg und Tod ihnen allen«, wiederholten die Felsen. »Feuer und Tod über sie«, rauschten die Wälder.
Nur der kluge, träge Fluss schwieg dieses Mal.
Und das Meer sagte niemals etwas.
Endlich legte sich der stürmische Aufruhr, und Ritor hob die Hand.
»Wie es das Gesetz verlangt, werden wir noch heute im Rat des Clans über alles sprechen. Ich werde nachdenken. Und auch ihr werdet nachdenken. Morgen bei Tagesanbruch werden wir unsere Entscheidungen vergleichen.«
Zweifellos werden sie den Krieg wählen, ging es Ritor durch den Kopf. Allzu gut wissen sie über meine Feindschaft mit Torn Bescheid. Die Clans selbst sind schon lange nicht mehr aneinandergeraten ... aber ein Anschlag ist ein Anschlag, und eine Feindschaft mit dem Anführer kommt einer Feindschaft mit allen gleich. Der Clan wird sich erheben. Und das bedeutet, dass der Krieg unvermeidlich ist. Wir bauen den Angeborenen selbst noch die Brücke ...
Und auch jetzt konnte Ritor nicht einmal daran denken, die Wahrheit vor seinen Brüdern zu verbergen. Vielleicht wenn der erste Zorn verraucht war, würde er die Seinen zurückhalten können.
Denn sie durften ihre Kräfte nicht in einem sinnlosen Zwist mit dem mächtigen Clan des Wassers vergeuden (die
Und es durfte jetzt auch keine Rolle spielen, dass der Drachentöter selbst wahrscheinlich keine Schuld trug. Es war eine einfache Rechnung: ein Leben für Tausende.
Gab es noch eine andere Entscheidung? Damit keiner sterben musste? Ach, leider waren sie nicht in der Ethikstunde.
Er hatte das Gefühl, er würde niemals einschlafen. Wenn man so müde ist, scheint der Organismus sich zum eigenen Schaden zu weigern einzuschlafen. Ja, versuch es, plag dich, damit du weißt, wie man den eigenen Körper verhöhnt. Viktor begriff sehr wohl, dass es hauptsächlich am außergewöhnlich hohen Adrenalin- und Endorphinspiegel im Blut lag, an der erhöhten Stromspannung der Ionenkanäle und einem übermäßigen Transport von Synapsenbläschen - aber er begriff es nur mit dem Verstand. Die andere Hälfte seines Bewusstseins beharrte aus irgendeinem Grund darauf, dass es das Schicksal war, das ihn warnen wollte: Schlaf nicht heute Nacht, schlaf nicht, schlaf nicht, schlaf ni-icht!
Früher war er nur in Fantasy-Romanen auf Elfen, Gnome und ähnliche Fabelwesen gestoßen. Und das nur ganz selten, wenn er gerade absolut keine andere Lektüre zur Hand hatte. Und nun lag er selbst im Bett eines Hotels, dessen Wächter ein waschechter Elf war! Hm, wenn Elfenmänner schon so aussahen, wie mussten dann erst die Elfenfrauen aussehen? Elfenfrauen, Elfchen, Elfinnen, Elfessen ... wirklich
Er erhob sich auf die Ellbogen. Tel schlief friedlich, leise wie ein Mäuschen, das im Schlaf gelegentlich schnaufte. Viktor legte sich wieder auf den Rücken. Unwillkürlich musste er an die Räuber denken ... und jenen Unglückseligen, der um sein Leben gefleht hatte ... Was hatte er da gesagt? »Ich bin dein Sklave, Herrscher ...«?
Herrscher.
Nichts dagegen einzuwenden, das klang gut. Jeder Mensch dachte doch insgeheim: Ja, ich werde nicht geschätzt, nicht verstanden, ich bin in Wirklichkeit mehr wert, bin viel besser als die anderen und kann mich nur wegen aller möglichen Intrigen nicht richtig entfalten, aber eines Tages werde ich es euch schon zeigen ... Kein Wunder, dass Schmeichelei eine der stärksten menschlichen Waffen war.
Viktor bemerkte es nicht, als der Schlaf kam. Sein Bewusstsein blieb klar, seine Gedanken präzise und scharf umrissen. Er war der Ansicht, dass er einfach nur so für sich nachdachte ... und deshalb wunderte er sich ein wenig, als er sich selbst plötzlich an einem unbekannten Ufer stehen sah. Der Sand war vollkommen, unerträglich schneeweiß. Das war noch nicht so außergewöhnlich, obgleich man ein solches Weiß auf der Erde - genauer gesagt auf der Anderen Seite - wohl kaum finden würde, wahrscheinlich nicht einmal in der Arktis.
Ja, der Sand war weiß und das Wasser - im Gegensatz dazu - schwarzblau. Wie Erdöl. Viktor wollte sich schon die Augen reiben, doch dann begriff er, dass es dumm war, sich zu wundern. Hier musste das wohl so sein. Träume
Die Berge reichten bis ganz ans Ufer heran. Keine normalen Berge, wie man sie kennt, sondern eine lange Reihe gleichmäßiger, komplexer geometrischer Gebilde. Jede Erhebung erinnerte aus irgendeinem Grund an einen gigantischen Baum - mit einem glänzenden, halbdurchsichtigen Stamm von einem Kilometer Höhe und mit geradezu ideal gleichmäßigen Kanten, außerdem war jeder Berg in drei Teile unterteilt, von denen der jeweils mittlere Abschnitt als Grundlage für ein neues, kleineres Dreieck diente, und so immer weiter, bis ins Unendliche ...
Zum Meer hin waren diese seltsamen Gebilde glatt abgeschnitten - wie Sockel.
Zwischen diesen Gebilden, von denen man nicht wusste, ob es nun Bauten oder natürliche Formationen waren, erstreckten sich lange Zungen mit gewöhnlichem grünem Gras, das hochgewachsen und scharf war wie Riedgras.
Weiter hinten sah man Wald. Allerdings war er violett und stellenweise einfach dunkelblau, als würde in dieser Welt das Gesetz der Photosynthese nicht gelten.
Und über dem äußersten Rand des Waldes bemerkte Viktor Rauch aufsteigen.
Er ging in diese Richtung - was hätte er sonst tun sollen.
Die ganze Zeit horchte er in sich hinein. Ein merkwürdiger Traum war das. Sehr prägnant und realistisch. Sogar das violette Laub und die schwarzen Wellen wirkten stimmig. Na gut, stimmig also, aber das war noch nichts Besonderes ... in Träumen erschien einem doch immer alles richtig. Aber warum empfand er die Umgebung dann als so fremd?
Das passte nicht. Wenigstens im Traum wollte er sich entspannen!
Er tat einen Schritt, einen weiteren ... und plötzlich begriff er, dass es ihm hier gefiel. Sein Körper war erfüllt von einer rauschhaften Leichtigkeit, als atmete er reinen Sauerstoff. Das Ganze wies die Symptome einer tiefen Narkose auf, aber Viktor befand sich jetzt doch nicht im Tiefschlaf!
Mit Mühe unterdrückte er den Wunsch, einfach loszulaufen.
Das breitblättrige Riedgras zog sich das ganze Ufer entlang. Zwischen den Pflanzen war kein Weg zu erkennen. Nachdem er sich versichert hatte, dass die scharfen Halme nicht durch die Jeans stachen, wählte Viktor zufrieden den direkten Weg mitten hindurch.
Wenig später erkannte er, dass der Rauch sich über dem breiten, flachen Dach eines großen, einstöckigen Gebäudes erhob. Der gedrungene Bau bestand aus rosafarbenen Steinplatten, die bereits von fettem Ruß verdorben waren. Aus dem breiten gemauerten Kamin, der ebenfalls niedrig und gedrungen war (Warum nur? Das war doch schlecht für die Statik ...), stieg der Rauch auf. Rauch, wie er sein sollte, dicht, schwarz und in dicken Wolken. Um das Haus herum stank es betäubend nach etwas widerwärtig Säuerlichem - als ob innen eine ganze Batterie von Bottichen stünde, bis
Der ätzende Geruch drang ihm in die Nasenlöcher, Viktor musste husten ... besser gesagt, sein Gedächtnis forderte ihn auf zu husten. Er selbst atmete nur kraftvoll aus, um diese Widerwärtigkeit aus seinen Lungen zu drücken, die nichts mit gewöhnlichen Säuren gemein hatte.
Es war Gift, wie ihm plötzlich klarwurde. Gift, dazu noch durchdrungen von Magie. Aber ihm konnte das Gebräu aus irgendeinem Grund keinen Schaden zufügen.
Es gab keine Türen am Haus. Nur einen breiten, dunklen Eingang, durch den man in der Dämmerung matt und gleichmäßig etwas flackern sah.
»Hallo, ist da wer?«, fragte Viktor gedämpft.
Das Feuer in der Tiefe des Hauses flackerte erschrocken auf und erlosch. Im gleichen Moment erklang ein zorniges Gebrüll, eine lange wutentbrannte Tirade, deren Aussage sich im Wesentlichen auf »Wer wagt es?« beschränkte, die jedoch sehr bild- und wortreich vorgetragen wurde und mit zahlreichen Verfluchungen der Verwandtschaft des Beschimpften bis ins zwölfte Glied versehen war.
Aus dem Dunkeln schoss ein sehr kleiner, äußerst dicker Mann mit breiten Schultern, rotem Haarschopf, einem gewaltigen Bauch und hängenden buschigen Augenbrauen. Die Nase des Hausherrn zierten zahlreiche dunkelrote und bläuliche Äderchen. Der giftige Geruch nach Säure wurde augenblicklich von einem schmerzlich vertrauten Geruch abgelöst, der ihn wieder an jenen Sanitärtechniker seiner Wohnungsinstandhaltungsgesellschaft erinnerte.
»Wer bist du denn?«, schnauzte ihn der Knirps an. Sein Leinenhemd und die Hose waren voller Flecken und Brandstellen. Seine Hände steckten in dünnen chirurgischen Latexhandschuhen,
»Schweig«, brach es plötzlich aus Viktor heraus. »Wie kannst du es wagen, mich auf der Schwelle stehen zu lassen.«
Der Dicke begann mit einem Mal, heftig zu schwitzen. Er trat einen Schritt zurück, wandte den Blick jedoch nicht ab.
»Ach je, ein bedeutender Gast beehrt mich«, murmelte er zwischen den Zähnen, während er die Handschuhe von den Händen zog. »Bedeutend und selten ... nun ja, wie dem auch sei, komm herein! Wenn du schon mal da bist, werd ich dich nicht fortjagen. Der Geruch hier wird dir freilich kaum gefallen ... nun nimm es mir nicht übel, schließlich habe ich dich nicht gerufen.«
Falls der Dicke sich fürchtete, so wusste er seine Angst jedenfalls zu verbergen. Und sicherlich war er nicht so dumm, sich zu prügeln. Zwar hatte er Viktor hereingebeten, aber so, wie er dastand, blockierte er fast den ganzen breiten Durchgang.
»Schlecht empfängst du deine Gäste«, sagte Viktor und wunderte sich selbst über seine Unverschämtheit.
Das ist doch alles ein Traum ... nur ein Traum.
»So gut ich es eben vermag«, antwortete der Knirps. Als er die Handschuhe endlich abgezogen hatte, schleuderte er sie treffsicher in ein Fass - etwas zischte widerwärtig, und aus dem Fass stieg Dampf auf. »Wie sagt man bei euch noch? Wir sind nicht aufs Gymnasium gegangen ...«
Natürlich schlafe ich, dachte Viktor. Woher sollte ein Mensch aus dieser Welt wohl Das Goldene Kalb kennen?
Grinsend starrte ihn der Dicke an. Wie rastlose Handbohrer bohrten sich seine Augen unablässig in den ungebetenen
In dieser Welt wird nur Stärke respektiert, dachte Viktor. Feinheit, Höflichkeit, Friedliebe werden als Schwächen angesehen.
Aber war das nur hier so? Die Welt der Träume war schließlich ein schwaches Abbild der realen Welt. Wenn man jetzt und hier, in diesem konfusen - aber immerhin greifbaren - Traum Streitlust von ihm erwartete, dann bedeutete das doch, dass es in Wirklichkeit genau so war. Seit wann wurden Rücksichtslosigkeit und Unverschämtheit nicht mehr als Schwächen, sondern als Stärken beurteilt? Vielleicht war das noch nicht lange so, aber manchmal erschien es ihm, als ob es für immer wäre ...
Und dennoch hätte er sich in Moskau wohl kaum zu einer derartigen Reaktion entschlossen, die Hand auszustrecken und den Hausherrn schweigend von der Schwelle seines eigenen Hauses zu stoßen.
Er erinnerte sich an die Graue Grenze und das trockene Knacken, als er dem unglücklichen Halbelfen das Genick gebrochen hatte, daher schubste er den Dicken nicht mit voller Kraft. Der jedoch grinste nur schamlos.
»Irgendwie seid ihr Mittelweltler in letzter Zeit etwas schwächlich. Nun denn, du hast mich gestoßen, dann bin ich jetzt wohl an der Reihe ...«
Natürlich war es kein Klaps auf die Schulter. Der Dicke versetzte ihm, ohne auszuholen, einen tadellosen Aufwärtshaken. So schnell und professionell, dass Viktor mit seiner mangelnden Erfahrung nicht mal die Zeit hatte, den Kopf wegzudrehen. Genaugenommen begriff er erst, dass der Schwinger, der ihn in die Luft hob, ein Uppercut war,
Die Wut half ihm augenblicklich wieder auf die Beine. Das ist ganz sicher ein Traum, dachte er wieder. Nur in billigen Kung-Fu-Filmen stehen die Kämpfer nach solchen Schlägen wieder auf. Eigentlich müsste ich einige gebrochene Halswirbel haben, einen zertrümmerten Kiefer und mehrere ausgeschlagene Zähne - aber ich komme hoch, als ob nichts geschehen wäre ...
Jetzt umgab ihn Feuer. Seine Arme warf er wie Flügel zur Seite, versprühte mit ihnen einen züngelnden Ozean versengender Flammen. Wie konnte es dieser ... dieser Wurm nur wagen? Wie konnte er es wagen, die Hand gegen ihn zu erheben? Gegen den Herrscher?
Seine Faust verwandelte sich in einen Klumpen hellroten Feuers. Das vor Wut verzerrte Gesicht des Knirpses blitzte vor ihm auf ... ein zur Abwehr erhobener Arm ... aber es war zu spät.
Viktor schlug den Beleidiger auf den Wangenknochen. Und der flog trotz seines nicht geringen Gewichtes - dem Aussehen nach nicht weniger als eineinhalb Zentner - über die Schwelle hinein ins Haus. Mit lautem Krachen stürzten drinnen irgendwelche Regale um, und ein undeutliches, klägliches Blöken, oder war es ein Miauen?, war zu vernehmen - dann war alles still.
Das Feuer verschwand. Und auch die erdrückende Wut. Viktor schmerzte seine Faust, als hätte er damit auf eine Steinmauer eingeschlagen. Die Haut war an den Knöcheln aufgeschürft. Viktor runzelte die Stirn und rieb sich den Handrücken.
»Na na na, was bist du denn für einer ...«, brummte es weinerlich aus der Dunkelheit. »Warnen muss man ...«
»›Und wer ist dieser Mann? Der Zauberer! Warnen muss man!‹«, äffte Viktor den anderen mit einem Filmzitat nach, denn ihm war augenblicklich Ein ganz normales Wunder[7] in den Sinn gekommen. »Und, wollen wir uns weiter schlagen?«
»Wozu? Nicht vorzeitig«, knurrte es aus dem Inneren des Hauses. »Komm schon rein, worauf wartest du noch? Hilf mir aufzustehen - siehst du nicht, dass das Regal auf mich gestürzt ist? Wenn ich mich rühre, geht alles kaputt.«
Viktor überschritt eilig die Schwelle. Seine Augen gewöhnten sich verdächtig schnell an die Dunkelheit - selbst für einen Traum zu schnell. Im Traum haben wir manchmal Flügel, und unsere Kugel fliegt langsam, ganz langsam aus der Mündung des Gewehrs und in einem langen gewölbten Bogen, aber in der Dunkelheit sehen unsere Augen auch im Traum nicht gut.
Dies war zweifellos ein Laboratorium. Eines, das ganz anders aussah als die normalen, die er kannte, die von der Anderen Seite, wie man in der Mittelwelt sagte. Hier gab es keine Geräte, Aggregate oder Vorrichtungen. Nur mächtige Regale an den Wänden. Aber auf den Regalen stand nicht ein einziges Gefäß, keine Flasche, keine Dose, kein Glas. Unbegreifliche Gegenstände türmten sich dort, einer inneren Logik folgend. Das Feuer im Ofen brannte von selbst, ohne Holz oder Kohle. Einen Moment lang fragte sich Viktor, ob das Feuer vielleicht von Gas genährt wurde.
Aber natürlich gab es dort kein Gas. Nur ein Feuer, das ganz von selbst brannte. Und darüber ein schwarzer, verrußter Kessel mit schartigem Rand. Viktor wurde sogar etwas unbehaglich zumute, denn die Scharten am Kessel erinnerten
Viktor wuchtete das schwere Regal hoch - war es etwa aus Stein? -, und der Knirps erhob sich auf Gnade und Ungnade.
»Danke«, sagte er und schien es ziemlich aufrichtig zu meinen. »Du gehörst jedenfalls nicht zu den Schwächlingen. Nimm es mir nicht übel, aber ich habe nichts im Haus, um dich zu bewirten, wie es bei euch üblich ist. Alles ist in die Sache geflossen.«
»Was für eine Sache?«, fragte Viktor scheinbar beiläufig. Der Kessel hing ohne Befestigung in der Luft, der Geruch, der von ihm aufstieg, war ekelhaft und an Essen gar nicht zu denken.
»Nun ja ...«, antwortete der Knirps unwillig. Er strich sich über den Hinterkopf, hustete und strich wieder über den Hinterkopf.
In diesem Moment begann es in der riesigen Truhe, der einzigen, die es in dem Raum gab, schrecklich zu kratzen und zu rumoren. Sind das am Ende Ratten?, fragte sich Viktor.
Der Knirps krümmte sich, wie einer, der starke Zahnschmerzen hat. Er riss den Deckel hoch, steckte die Hände in die Truhe und verschwand bis zur Schulter darin, ächzte und richtete sich einen Augenblick später wieder auf.
Viktor erstarrte.
In der Faust des Knirpses wand sich, mit den kleinen Armen und Beinen strampelnd, ein winziger Mensch, nur wenig größer als ein Taschenmesser. Er trug einen albernen Hut mit breiter Krempe, ein rotes Hemd und braune Hosen.
»Entschuldige«, nuschelte der Knirps. Er holte aus und schleuderte das kreischende Wesen geradewegs in den Kessel.
Es platschte, und die glühende Flüssigkeit spritzte Viktor ins Gesicht, er riss die Hand hoch, um sich zu schützen ... und in diesem Moment wachte er auf.
Es herrschte Stille. Alles war ruhig. Er befand sich in seinem Zimmer im Hotel oder in der Herberge oder im Gasthof - wie auch immer man es nennen wollte. Seltsamerweise war es noch dunkel. Im Nachbarbett schnaufte Tel kaum hörbar. Alles war in Ordnung, alles war gut.
Nur sein Herz hämmerte, und seine Handflächen waren feucht. Sogar jetzt kam ihm sein Traum im Gegensatz zu sonst nicht zusammenhangslos vor. Ein alberner, unwahrscheinlicher Traum - aber bis zuletzt so überzeugend und so real wie zum Beispiel dieses Hotel.
Tja, Radas Cocktail hatte nichts genützt. Von angenehmen Träumen konnte keine Rede sein.
Nachdem er aus einer Welt in eine andere versetzt worden war, nachdem er Wesen gesehen hatte, die ihren Platz im Märchen hatten, nachdem er getötet hatte ..., konnte er vermutlich keinen Anspruch auf andere Träume erheben. Höchstens auf eine Schlägerei mit einem schwachsinnigen Scheusal, das einen Freddy Krueger im Miniaturformat in seinem Kessel kochte ...
Viktor wälzte sich im Bett herum, er wollte es nicht zu bequem haben, denn er hatte nach diesem Alptraum kein Bedürfnis, noch einmal einzuschlafen.
Aber der Schlaf kam trotzdem, denn Viktor war einfach zu müde. Er brachte keine Träume mit sich, weder schöne noch schreckliche.
Und das war gut so.
Bis zur Versammlung des Rates blieb nicht mehr viel Zeit übrig. Ritor saß in seiner Wohnung, im dritten Stockwerk der Schule, in einem spartanisch eingerichteten, geräumigen Zimmer. Nur ein schmales hartes Bett, ein Waschtisch und ein kleiner Schrank standen darin - das war alles, was man zum Leben brauchte. Den übrigen Platz nahmen ein gewaltiger Schreibtisch sowie große Regale ein, die sich entlang der Wände bis unter die Decke zogen und mit Büchern vollgestellt waren.
Die Tür hatte sich eben erst wieder hinter Taniels Mutter geschlossen.
Ritor presste die Handfläche auf die Stirn und strich sich dann übers Gesicht. Was hätte er der Unglücklichen sagen können? Was antworten auf ihre wütende Raserei, ihre Anschuldigungen? Unterm Strich gab es nichts zu sagen.
Und deshalb hatte er geschwiegen. Gut, dass sein Bruder nicht gekommen war. Das hieß, er gab ihm nicht die Schuld. Das hieß, er konnte ihm verzeihen. Oder hatte er Angst, dass der Zorn mit ihm durchging? Lieber nicht darüber nachdenken ...
Gleich würde der Rat zusammentreten. Für den Krieg stimmen.
Um Torns Kopf auf einem Pfahl aufzuspießen, damit jeder ihn sehen konnte. Um die Erinnerung an den Clan des Wassers vom Antlitz der Erde zu tilgen. Waren sie so stark? Wie auch immer ... Getreu dem Motto: Unsere Sache ist richtig, der Feind wird vernichtet, der Sieg ist unser!
Sie umzustimmen würde unmöglich sein. Selbst die Besten unter ihnen. Also musste er einen Weg suchen, um ihren Zorn umzuleiten. Auf den Drachentöter. Und danach konnte er sich Gedanken machen, wie man den Krieg »seltsam« machte ... bis zu dem Moment, wenn aus den drückenden, dampfenden Nebeln des südlichen Meeres die adlerköpfige Flotte der Angeborenen auftauchte.
Na und? In dieser Situation war eine kleine Lüge verzeihlich. Ich muss den Clan des Wassers schützen, damit er sich mit uns gegen den Feind stellen kann, dachte Ritor. Torn könnte ... hm ... plötzlich verschwinden. Und dann bricht die Zeit des Drachen an. Der Magier der Luft erzitterte unwillkürlich.
In der Nähe läutete ein Glöckchen. Ganz leise, aber eine dienstfertige Brise sorgte dafür, dass der Klang weitergetragen wurde. Ritor erhob sich entschlossen.
Der Rat begann.
Er verließ sein Zimmer, ohne sich die Mühe zu machen abzuschließen, denn keiner würde es wagen, bei ihm einzudringen. Er trat auf die Galerie hinaus, die alle Räume der Schule miteinander verband. Natürlich war für heute kein Unterricht vorgesehen, dennoch waren die Schüler noch nicht auseinandergegangen. Dem großen Saal, in dem der Rat stattfand, kamen sie nicht zu nahe, um keinen Verweis oder gar eine Ohrfeige von unsichtbarer Windeshand zu riskieren - die Magier machten unter Umständen kurzen Prozess. Und dennoch trieben sich im Hof Jungs herum, solche, die noch kaum die Luft spüren konnten, sie taten, als ob sie spielten und blickten doch immer wieder zur Kuppel des großen Saals hinauf. Und im Klassenzimmer mit den ein für alle Mal geöffneten, großen Fenstern, durch die der Wind hindurchpfiff, saßen die älteren Schüler ...
Und wenn schon. So war es schon immer, und so würde es immer sein: Die Schüler überschätzten ihre Kräfte und versuchten zu lauschen, ihren Lehrern etwas abzuschauen. Er war genauso gewesen. Und wenn es dem Jungen wirklich gelingen sollte, dann bedeutete das auch, dass er das Recht hatte, die Entscheidung der Magier zu kennen.
»Seltsam«, bemerkte Ritor gutmütig, »früher habe ich nie ältere Schüler beim Wischen gesehen.«
»Ich hatte das Gefühl, dass es nicht fair ist, immer nur die Jüngeren zum Putzen abzukommandieren.«
»Was für ein weise Idee.« Ritor nickte. »Ich gestatte dir, bis zum Tag deiner Prüfung täglich hier zu putzen.«
Der Junge blickte bekümmert auf den Lappen in seiner Hand, während Ritor weiterging.
Sie hatten bereits einen magischen Schutzwall errichtet, und er war so stark, dass Ritor nicht mehr nachbessern musste. Der runde Saal, in dem sich fast dreißig Leute versammelt hatten, war entlang der Wände von einem Kokon aus Winden umgeben. Es stand nichts Überflüssiges herum, nur Korbstühle und in ihrer Mitte ein Korbtisch mit einigen Büchern darauf, für den Fall, dass einen von ihnen das Gedächtnis im Stich ließ und sie gezwungen wären, in den alten Lehren, in den zwar nutzlosen, aber hoch geachteten Weisheiten der Jahrhunderte, nachzuforschen. Die Luft im
Geheimhaltung. Vielleicht übertrieben, aber vielleicht auch unzulänglich. Auf jeden Fall war es besser, sie zu wahren.
Alle Blicke waren auf Ritor gerichtet. Der Magier hob die Hand und begrüßte seine Gefährten. Ein Kampf stand bevor. Ein gutartiger Kampf unter Freunden, die das Gleiche wollten, aber verschiedene Taktiken verfolgten. Die schwerste Form des Kampfes.
»Wer hält mich für einen Feigling?«, fragte Ritor. Er wartete, bis sich die Stille gesetzt hatte, und schritt gemächlich zur Mitte des Saals. Prüfend ließ er den Blick über die Magier des Clans schweifen und überlegte wie schon unzählige Male zuvor, wer von ihnen gleich zustimmen, wer sich überzeugen lassen und wer bis zuletzt an seiner Auffassung festhalten würde. »Dann werde ich jetzt etwas sagen, was nicht allen gefallen wird. Den Feind kann man auf verschiedene Weise besiegen. Man kann ihn vernichten. Wenn die Kräfte ausreichen ...«
Ein leises, unzufriedenes Gemurmel war zu vernehmen. Aber niemand erhob Einwände; unter den hier Versammelten gab es keine Dummköpfe und Wahnsinnigen.
»Oder man erkennt die Absichten des Feindes - und macht diese zunichte.«
»Bist du sicher, dass du ihre Absichten erkannt hast?«, erklang eine leise Stimme, die Ritor erschaudern ließ. Kan, der Unglückliche, der zwar nie ein guter Magier geworden
»Ja, Bruder«, sagte Ritor leise. »Ja, das bin ich.«
»Das heißt, mein Sohn bleibt nicht ungerächt?«
Ritor nickte nur.
Er hatte nicht den Mut, dieses Versprechen laut zu geben, denn er wusste nicht, ob er es halten konnte.
Viktor öffnete die Augen, als der morgendliche Friede von zornigen Schreien zerrissen wurde. Draußen herrschte ziemlicher Lärm.
»Deine Hände sollen austrocknen! Soll dich ein Stromschlag treffen! Ach, wenn dich doch ein verrückter Magier in eine stinkende Kröte verwandeln würde!«
Die verschnörkelten Verwünschungen beraubten Viktor der Gelegenheit, sich wenigstens unmittelbar nach dem Aufwachen, noch ehe er die Augen geöffnet hatte, für ein paar Minuten wie zu Hause zu fühlen. Nein. Er war noch immer hier, in dieser verrückten Mittelwelt, wo des Nachts Tote umherwandelten, die seit Jahrhunderten keinen Frieden fanden, wo die Straßen elektrisch beleuchtet waren und in den Hotels Elfen als Nachtwächter arbeiteten. In dieser Welt, die sowohl ein Zaubermärchen als auch ein realer Alptraum sein könnte ...
Ihr Zimmer war gemütlich, aber nicht groß. Es war sicher nicht das beste Zimmer des Hotels, wie der rothaarige Jüngling gestern Abend versprochen hatte. Viktor blickte auf das Bett an der gegenüberliegenden Wand - es war leer. Der Überwurf war ordentlich übergelegt, und hinter der Badezimmertür war es still. Viktor war beinahe froh, dass Tel verschwunden war. Er stand auf und warf einen Blick zum Fenster hinaus, ehe er sich anzog.
»Wer schärft so ein Schwert? Ich frage dich, wer?«
Im Hinterhof des Hotels, wo ein kleiner Garten angelegt war, stand die junge Wirtin des Restaurants und keifte auf einen älteren Mann ein, der, wenn nicht ihr Großvater, so doch mindestens ihr Vater hätte sein können. Der aber dachte gar nicht daran, sich zu rechtfertigen; als müsste er seine Schuld eingestehen.
»Das soll ein Schwert sein? Das ist ein Tafelmesser!« Rada hob die Klinge von eindrucksvollem Ausmaß etwas über den Kopf und hielt sie dem Mann direkt unter die Nase. »Schau her ...«
Ohne jede Anstrengung wirbelte sie das Schwert herum und hieb einen Ast von einem ganz und gar unschuldigen Baum ab. Einen Ast so dick wie ein Arm ...
»Und?« Rada stieß die Klinge in die Erde, hob den Ast vom Boden und wies auf die Schnittstelle. »Das soll ein Elfenschliff sein?«
»Nein ...«, bekannte der Mann unerwartet und rieb sich nervös die Hände an seiner Lederhose ab. »Euer Gnaden ...«
»Ich bin nicht Euer Gnaden!«
»Herrin, der Teufel hat es verwechselt ... ich bringe es wieder in Ordnung ...«
»Wie willst du das in Ordnung bringen? Willst du die Klinge endgültig ruinieren? Hast du dein Gedächtnis versoffen, dass du einen Elfenschliff mit einem schrägen Pendelschliff verwechselst? Ach, soll dich doch die Dampflok überfahren!«
Viktor erschauderte. Und in diesem Augenblick, wie um Radas Worte zu bekräftigen, erklang ein langgezogenes, durchdringendes Pfeifen.
Wie gelähmt hob Viktor den Blick und sah in der Ferne, hinter dem Zaun, der den kleinen Garten begrenzte, hinter
»O Gott ...«, stöhnte Viktor; und da ihm jeder Glaube fehlte, legte er in diesen Ausruf seinen ganzen Vorrat an Verwunderung für diesen Tag.
Ein Zug jagte die Gleise entlang. Vorneweg eine gewaltige, wundersam unsinnige Dampflok mit einem riesenhaften Kessel aus poliertem Kupfer, in dem sich die aufgehende Sonne spiegelte; aus den vier Schornsteinen hinter dem Kessel stiegen schwarze Rauchwolken; auf die Lok folgten drei offene Plattformwagen, auf denen Hügel von Kohle aufgehäuft waren, sowie fünf oder sechs lange, hölzerne Waggons, jeder in einer anderen Farbe angestrichen.
Der Zug gab noch ein weiteres gellendes Pfeifen von sich, dann verlangsamte er allmählich seine Fahrt. Der Rauch, der den Schornsteinen entwich, wurde währenddessen immer dichter.
»Die Route ...«, sagte Viktor. »Die Route? Tel!«
Er drehte sich um, aber Tel war natürlich auch jetzt nicht im Zimmer.
»Guten Morgen«, rief ihm Rada von unten zu.
Viktor beugte sich bis zur Taille aus dem Fenster. »Guten Morgen! Rada, was ist das?«
Der Mann neben ihr zog das missratene Schwert aus der Erde und sah mit niedergeschlagenem Blick auf die Schneide.
»Was?«
»Nun ...« Er zögerte. »Der Zug ...«
»Der Zug. Ist ein Zug.« Rada lachte. »Kommen Sie runter, ich habe Ihnen doch einen Sprudelnden Tag versprochen.«
»Danke.«
Viktor hielt es für angebracht, sich aus dem Fenster zurückzuziehen, ehe die junge Frau ihn endgültig für einen Idioten hielt. Oder war es schon zu spät?
»Nein, Tel, jetzt reicht’s«, brummte er, während er sich anzog. Er ging ins Bad, das sehr anständig aussah, mit einem ... hm ... normalen Waschbecken und einer Badewanne. Es gab sogar fließend heißes Wasser, das allerdings etwas rostig aus der Leitung kam, aber das kannte er auch von zu Hause. Von der Welt auf der Anderen Seite.
Entschlossen ging Viktor zur Tür. Sie hatte ihren Spaß gehabt - es reichte. Gut, er glaubte an alles, er nahm alles als gegeben hin, er würde sich nicht aufregen. Aber jetzt war es an der Zeit, von hier wegzukommen. Dieser Ort hier war ruhig und friedlich, das Mädchen würde nicht verloren gehen ... ha, so eine wie sie würde nirgendwo verlorengehen. Weder nachts auf Moskaus Straßen noch hinter der Grauen Grenze.
Er schloss die Tür und lief die Treppe hinunter. Der rothaarige junge Mann saß nicht an dem Tisch, wohl aber der Elf.
»Mein Teuerster, könnten Sie mir wohl sagen, wohin meine junge Weggefährtin gegangen ist?« Viktor konnte sich den unerträglich falschen, pseudomittelalterlichen Ton einfach nicht verkneifen. »Oder wäre es Ihnen vielleicht sogar möglich, sie zu holen?«
Der Elf maß ihn mit seinen honiggelben Augen und antwortete melodisch: »Selbstverständlich nicht ... mein Teuerster.«
»Und warum nicht?«
»Kommen Sie zu mir.«
Ohne den Blick von dem Bogen auf dem Tisch abzuwenden, ging Viktor auf den Wächter zu. Und erstarrte, während ihm die Röte ins Gesicht stieg.
Der Elf, der vor ihm am Tisch saß, hatte keine Füße. Seine Hose aus grüner Seide endete knapp unter den Knien.
»Es wäre sehr beschwerlich für mich, Ihre junge Weggefährtin zu holen«, fuhr der Elf fort. »Sie hat das Hotel vor zwanzig Minuten verlassen.«
»Verzeihen Sie ...«, flüsterte Viktor.
»Bevor sie wegging, hat sie den Schlüssel abgegeben«, erklärte der Elf, ohne auf die Entschuldigung einzugehen. »Sie sagte, sie wolle mit dem Morgenzug abreisen. Ich nehme an, dass es mir um nichts in der Welt gelingen würde, sie noch zu erreichen.«
Die Stille wurde durch ein zweifaches Pfeifen durchbrochen. Der Elf runzelte die Stirn, als wäre ihm das Geräusch, selbst durch die Mauern gedämpft, unaussprechlich zuwider. »Und nun, so vermute ich, würden auch Sie das Mädchen nicht einholen können.«
Es vergingen einige Sekunden, ehe Viktor begriff, was passiert war.
»Tel ist mit dem Zug abgereist?«
»Wenn Ihre Weggefährtin Tel heißt, ja. Natürlich könnte sie es sich auch anders überlegt haben.« Der Elf stützte sein Kinn auf seine schmalen Finger. »Aber ich hatte den Eindruck, dass ihren Worten stets Taten folgen.«
Viktor ging wie betäubt zur Tür.
»An Ihrer Stelle würde ich frühstücken«, rief ihm der Elf hinterher. »Ich würde mich mit einem Krug Ale zehn Minuten in Ruhe hinsetzen. Und erst dann würde ich zur Tat schreiten. Übrigens, für den Fall, dass Sie meinem Rat folgen, könnten Sie Rada bitten, mir ebenfalls ein Frühstück zu bringen?«
»Ich ... werde es ihr ... sagen.« Viktor blickte dem Elf ins Gesicht. Sein Ausdruck war nicht verächtlich und auch nicht spöttisch, nur fremd. »Wie heißen Sie? Dersi?«
»Für die Menschen ... ja.«
»Dersi, ich hatte gestern Nacht den Eindruck, dass Ihr Kollege das Mädchen erkannt hat ...«
»Fragen Sie ihn selbst.«
»Hat er seine Vermutungen nicht mit Ihnen geteilt?«, fragte Viktor vorsichtig.
Das Gesicht des Elfen veränderte sich eine Spur, und Viktor begriff, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Fragen Sie ihn selbst. Der Rote kommt zum Mittagessen. Ich will mich nicht in die Angelegenheiten der Menschen einmischen.«
»Danke.« Viktor gab es auf. »Ich werde Ihrem Rat folgen.«