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Im Tageslicht büßte das Restaurant einiges an Intimität ein, dafür wurden neue Einzelheiten des Interieurs sichtbar. Alte Schwerter und Speere waren an den Wänden zwischen den Fenstern befestigt. Einige durchlöcherte Waffenschilde hingen unter der Decke. Allerdings waren nun auch die Rußflecken auf den Kerzenleuchtern zu erkennen ebenso wie die Abdrücke auf der Zwischenwand zwischen Tür und Bar - als hätte jemand sich lange die Zeit damit vertrieben, die Beine gegen die Wand baumeln zu lassen.

Es waren keine neuen Gäste hinzugekommen. Der untersetzte Mann, der am Vorabend mit dem Kopf auf dem Tresen geschlafen hatte, saß an einem Tischchen in der Ecke und verzehrte geräuschvoll sein Frühstück. Rada hockte an der Tür und besah sich noch immer das missratene Schwert.

»Ist es wirklich ruiniert?«, fragte Viktor und setzte sich neben sie. »Dieser Dersi bittet darum, ihm das Frühstück zu bringen.«

Rada atmete tief durch, erhob sich und machte sich etwa eine Minute hinter dem Tresen zu schaffen. Viktor wartete und berührte mit der Fingerspitze vorsichtig die glänzende

Übrigens, wie rasierte man sich hier eigentlich? Rasierzeug hatte er nicht dabei. Womöglich gab es hier Elektrorasierer? Viktor kicherte dümmlich und zog seine Hand vom Schwert.

Rada kam zurück mit zwei Pokalen, die mit einem öligen schwarzen Gebräu angefüllt waren. Das Getränk schäumte und sprudelte.

»Hier ist ein Sprudelnder Tag«, sagte das Mädchen.

Viktor blicke das Gefäß misstrauisch an und hob es unter die Nase. Die Flüssigkeit roch frisch. Fast wie Ozon.

»Rada, kann man das auch wirklich trinken?«

Das Mädchen nippte schweigend an ihrem Pokal.

Viktor seufzte und nahm einen Schluck.

Es schmeckte wunderbar. Alkohol war praktisch nicht zu spüren. Leicht säuerlich und kühl am Gaumen - nicht nach Pfefferminz, eher wie Eis, obwohl die Flüssigkeit warm zu sein schien.

»Das Schwert ist nicht ruiniert«, bekannte Rada unvermittelt. »Ein schräger Pendelschliff ist ein guter, ehrenwerter Schliff. Aber ich hatte um einen Elfenschliff gebeten!«

»Und da gibt es einen Unterschied?«

»Und was für einen! Ein Elfenschliff ist viel härter. Die Klinge schneidet leicht, aber sie tanzt ein wenig über den Körper und hinterlässt Ritzwunden.«

Viktor fuhr zusammen. Als Arzt zeichnete ihm seine Vorstellungskraft ein nicht eben beruhigendes Bild.

»Das Schwert ist ein Elfenschwert«, fuhr Rada fort. »Deshalb wollte ich, dass es auch entsprechend geschliffen ist.«

»Und ich dachte, du beschäftigst dich nur mit Kochkunst.«

»Ich muss mich um Papas Sammlung kümmern, Waffen dürfen nicht einfach so an der Wand verrotten.« Nachdenklich berührte das Mädchen den Griff. »Papa wollte immer Söhne haben. Und dieses Schwert hat er für mich erworben ... nun, im Voraus.« Sie blickte Viktor an und sagte dann ohne jede Überleitung: »Du bist irgendwie komisch.«

Viktor nickte. »Ich weiß.«

»Möchtest du frühstücken?«

»Ja, aber ich habe eine Frage ... Rada, weißt du, dass Tel - das Mädchen, mit dem ich gekommen bin - heute Morgen abgereist ist?«

»Ja, das weiß ich.« Rada verstummte und fragte dann mit Anteilnahme: »Habt ihr euch gestritten? Hast du sie mit irgendwas gekränkt?«

Viktor verschluckte sich an seinem Cocktail und fragte dann zurück: »Glaubst du, dass man sie überhaupt kränken kann?«

Rada kniff die Augen zusammen. »Nein ... eher nicht. Sie strahlt die Kraft aus. Du bist nicht ihre Liga.« Es war zwar demütigend, das zu hören, aber Viktor erhob keine Einwände.

»Ich will sie einholen.«

»Wozu?«

Ja, warum eigentlich? Würde er den Weg zurück wirklich nicht allein finden? Den Weg zu finden war vermutlich nur eine Kleinigkeit, aber er würde auch über jenen Pfad gehen müssen, der in die Welt auf der Anderen Seite zurückführte.

»Ich muss etwas von ihr wissen.«

Rada trommelte mit den Fingern auf den Tisch und seufzte. »Nein, so läuft das nicht. Erzähl mir alles ganz ehrlich. Und mach dir keine Sorgen, du kannst mir jedes Geheimnis anvertrauen.«

Viktor schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Denk nicht, dass ich immer so eine Klatschtante bin. Ich rede gerne über mich. Über Papa. Das Restaurant, über die Schwerter. Aber fremde Geheimnisse gebe ich nie preis.«

»Ich ... bin nicht von dieser Welt. Ich bin von der Anderen Seite.«

»Also das habe ich auch so schon begriffen.«

»Was?«

»Du hast dich immer so merkwürdig umgesehen. Alle, die von der Anderen Seite herkommen, sind am Anfang so.«

»Kommen denn viele?«

»Nicht sehr viele. Aber auch nicht wenige. Ein, zwei Neue pro Monat schauen sicher hier vorbei. Einige fahren dann weg, andere bleiben bei uns.«

»Rada! Ich muss mit einem von ihnen reden.«

»Nein. Ich hab dir doch gesagt, fremde Geheimnisse wirst du von mir nicht erfahren. Warum willst du bei den Leuten alte Wunden aufreißen?«

»Aber ich ...«

»Verstehst du es wirklich nicht? Es ist kein Unglück geschehen, du gewöhnst dich dran. Und soweit ich weiß, ist bei euch ohnehin fast alles wie bei uns.«

»Wie bei euch? Ganz sicher nicht! Bei uns geistern keine Toten rum.«

»Bist du dir da sicher? Bei uns übrigens auch nicht, sie bleiben hinter der Grauen Grenze.«

»Und die Elfen?«

»Was ist mit ihnen? Gibt es bei euch keine Elfen und Gnome? Dafür gibt es doch bei euch angeblich schwarze und gelbe Menschen.«

Rada ließ Viktor einen Augenblick mit dieser merkwürdigen Analogie zwischen Elfen und Schwarzen allein und

»Aber Rada ... das ist nicht meine Welt! Drüben war ich Arzt ...«

»Arzt? Das ist ja großartig! Man wird dich in jeder Stadt mit offenen Armen empfangen. Du kannst auch hier bleiben. Wil ist alt geworden, er bringt die Medikamente durcheinander und hat Angst, einen Darmverschluss zu operieren, und sein Schüler ist ein Taugenichts, der sich mit den jungen Elfen eingelassen hat, er wurde in der Heilmittelabteilung ausgebildet ...«

Viktor ruderte mit den Armen. »Halt, Rada, halt! Ich habe ganz und gar nicht vor, hier eine medizinische Laufbahn einzuschlagen.«

»Und was dann?«

Der Mann an dem Tisch in der Ecke rülpste laut, stand auf und ging zum Ausgang. Er war nicht groß, breitschultrig, mit einem groben, faltigen Gesicht und dicken schwarzen Locken, die ihm wild um den Kopf abstanden. Sein Gang war fest und schwer, als wollte er mit jedem Schritt den Fuß in den Boden rammen.

»Danke, schöne Rada.« Er tätschelte dem Mädchen vertraulich die Schulter, blickte Viktor einen Augenblick lang mit dunklen, hervorstechenden Augen an und verließ das Restaurant.

»Das war ...«, begann Rada.

»Ein Gnom«, vollendete Viktor ihren Satz.

»Hast du schon welche getroffen?«

»Nein.«

Viktor machte sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, dass er in dem Gnom dieselbe Fremdheit wahrgenommen hatte wie bei dem Elfen. Wenn er seinen Vergleich vom Vortag

»Ein lustiges Völkchen«, sagte Rada. Zögernd fügte sie hinzu: »Und gefährlich. Sie kennen sich mit Elektrizität aus, sie haben die Dampfkraft begriffen ...«

»Benutzt du keine Elektrizität?«

»Natürlich, aber das heißt doch nicht, dass ich sie begreife!«

»Nun, dabei handelt es sich ...« Viktor geriet ins Stocken und versuchte die Überbleibsel seines Schulwissens zusammenzukratzen. Elektronen liefen durch die Leitungen? Oder nicht? Dann gab es noch diese Positronen, nein, die hatten damit nichts zu tun.

Was war die Wissenschaft eigentlich für ihn? War sie im Grunde nicht eine Magie der anderen Art? Wenn man ein Kardiogramm nun nicht mit einem elektronischen Gerät, sondern mit dem Geist Napoleons auf einer spiritistischen Sitzung machte oder eine Blutanalyse nicht von einer weiß gekleideten Laborantin vorgenommen würde, sondern von einem Vampirmädchen in schwarzen Fetzen, wenn in den Apotheken anstatt Tabletten gut getrocknete Fledermausflügel und verzauberte Spinnen, die sich als Heilmittel bewährt hatten, verkauft würden? Was würde sich für ihn ändern? Für einen Menschen, der einen Haufen Papier durchsah, den Patienten untersuchte und abtastete und sich dann am Ende auf seine eigenen Hände und sein Skalpell verlassen musste?

»Verdammt«, rief Viktor inbrünstig aus. »Verdammt!«

»Siehst du!« Radas Stimme klang triumphierend. »Du fängst an zu verstehen! So geht es allen!«

Aus der Küche trat eine ältere Frau mit einer reinlichen Schürze und stellte schweigend ein Tablett vor Viktor hin.

»Na ja, für einen Klumpen Gold hätte ich so was vermutlich auch bei uns bekommen.«

»Also hör mal, hier kostet es zwei Silberlinge, mehr nicht«, beruhigte ihn Rada. »Hat das Mädchen dir das Geld dagelassen?«

Viktor wühlte mechanisch in seinen Taschen. »Ja.«

»Dann ist alles in Ordnung. Mit dem Geld in dem Säckchen, aus dem du gestern Abend bezahlt hast, kannst du gut und gern ein halbes Jahr hier leben. Natürlich nicht, wenn du bei mir essen willst ...« Rada lächelte stolz.

»Ich habe noch einen Beutel mit Steinen, fast so wie ...«

Rada gab ihm einen Klaps auf die Lippen.

»Still, Doktor!« Ihre Augen waren ernst und hart geworden. »Warum plauderst du das aus? Suchst du den grimmigen Tod? Dies ist eine friedliche Siedlung, hauptsächlich Waldgehöfte. Aber böse Menschen gibt es überall!«

Viktor schwieg verlegen.

»Na gut. Gewöhn dich an alles«, sagte Rada gleichmütig. »Bleib eine Weile hier. Dersi mag keine Beine haben, aber er sorgt im Hotel für Ordnung. Ich garantiere dir, es wird dir gefallen. Wenn du hier bist ... dann bedeutet das, dass es dich von der Anderen Seite in die Mittelwelt zog.«

»Rada, wie kann ich Tel einholen?«

»Also wirklich! Wozu brauchst du diese Rotznase?«

In ihren Worten schwang keine Eifersucht mit - Rada empfand für Viktor sicher kaum etwas anderes als eine gewisse

»Du hast keine Ahnung, was wir hier für Mädchen haben! Komm heute Abend her, dann siehst du es mit eigenen Augen. Wenn du eine Schwäche für Jüngere hast, wird sich schon eine finden. Und manchmal kommen auch Elfenfrauen aus dem Lager vorbei, die von der freizügigeren Sorte. Wer weiß, am Ende gefällst du ihnen.«

Radas Moralvorstellungen waren offenbar schlicht und schnörkellos ... In der festen Überzeugung, dass sie Viktor nun zum Nachdenken gebracht hatte, erhob sie sich und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Und weißt du was ... nimm dieses Schwert. Ich kann es ja nicht mal mehr ansehen, ohne mich zu ärgern. Aber für einen Neuling wie dich ist es genau richtig, es ist leicht und wird in deinen Händen von selbst zum Leben erwachen. Gib mir einen Silberling dafür, umsonst kann ich es einfach nicht hergeben.«

»Was soll ich damit anfangen?«

»Such dir einen Lehrer, aber einen guten, einen, der Ahnung von seinem Handwerk hat, sonst machen sie dich mit deinem eigenen Schwert kalt. Ein paar Wochen Training, und du kannst dich wenigstens gegen einen dahergelaufenen Banditen zur Wehr setzen. Und viel mehr ist bei dir sowieso nicht drin ... du hast nicht die Statur. Nimm das Schwert, Doktor, ehe ich es mir anders überlege!«

»Danke.« Viktor legte drei silberne Münzen auf den Tisch. Er zögerte, dann legte er noch zwei goldene dazu. »Wie kann ich Tel einholen?«

»Puh!« Rada schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du liebst sie. Aber ich sehe doch, dass du das nicht tust. Steck

»Wie spät ist es jetzt?«

Rada schüttelte den Arm, und unter dem Ärmel ihres Kleides wurde eine kleine goldene Uhr sichtbar.

»Es ist Viertel vor zehn. Du hast noch zwei Stunden Zeit, Doktor.«

»Danke!«, rief Viktor ihr hinterher. Auf seiner Uhr war es genauso spät. Düster blickte er auf seinen Teller, auf dem die Forelle kalt wurde.

Wollte er Tel wirklich einholen? Doch nicht, um nach Hause zurückkehren zu können ... sie war ja sicher nicht die Einzige, die in der Lage war, ihm dabei zu helfen. Vielleicht, weil eine Frage ihm einfach keine Ruhe ließ, nämlich die, wer er für diese Welt hier eigentlich war. Was ihn so wichtig machte, dass Tel ihn auf der Anderen Seite abgeholt hatte. Wer sie am Übergang hatte hindern wollen.

Eine Gruppe Neuankömmlinge betrat das Restaurant, stand einen Augenblick an der Tür und setzte sich dann leise an den Nachbartisch. Viktor stocherte mit der Gabel im Fisch herum, entweder in der Hoffnung, seinen Appetit anzuregen, oder dem Gericht zumindest das Aussehen zu geben, als ob davon gegessen worden sei. Es war ihm peinlich, eine derart angepriesene Speise unberührt auf dem Tisch stehen zu lassen. Dann blickte er über die Schulter zu den neuen Nachbarn.

Sie waren zu fünft.

Vier junge Männer, der jüngste war noch ein Bürschchen von etwa dreizehn Jahren, der älteste ungefähr fünfundzwanzig. Alle trugen sie Reisekleidung, eine Waffe im Gürtel - Schwerter und Dolche, sogar das Bürschchen. Sie sahen sich sehr ähnlich - vermutlich waren es Brüder.

Und der fünfte war zweifellos ihr Vater. Er war mit einem kurzen Kettenhemd bekleidet und trug anstatt eines Schwertes einen Morgenstern am Gürtel.

Es war jener Räuber, jener Mann, den Viktor in der Nacht zuvor so unüberlegt verschont hatte.


Als die Ratsversammlung vorüber war, fühlte sich Ritor vollkommen entkräftet, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, weshalb. Genaugenommen war es nicht so furchtbar anstrengend gewesen, sie hatten seinen Ausführungen zwar nicht sofort zugestimmt, aber doch ziemlich bald. Bei den älteren und erfahrenen Magiern hatte der Verstand schnell Oberhand über die Gefühle gewonnen.

Ein blutiges Gemetzel würde es nicht geben. Der Clan der Luft würde sich nicht auf eine derartig plumpe Provokation einlassen. Die Rechnung würde später beglichen werden, viel später, wenn das Pflänzchen der Rache aufgegangen war und Knospen getrieben hatte. Aber so lange ... so lange würden sie sich um das Wesentlichste kümmern: den Drachentöter ausfindig zu machen.

Keiner von ihnen zweifelte daran, dass Torn in dieser Hinsicht die Wahrheit gesagt hatte. Für den Anführer des Wasserclans hätte es schließlich keinen Sinn gemacht, diese ganze Geschichte anzuzetteln, wenn er nicht tatsächlich den Drachentöter gerufen hatte. Schließlich war das sehr viel einfacher, als auf die Ankunft des Drachen zu warten.

Torn hat alles richtig berechnet, dachte Ritor. Die Ankunft des Drachen kann man nur auf eine einzige Weise abwenden, indem man dem Geflügelten Herrscher seinen Töter gegenüberstellt. Gut möglich, dass der schon über den Pfad gekommen war. Gut möglich, dass er schon hier war, in der Mittelwelt.

Ritor wusste auch, weshalb Torn keine Angst gehabt hatte, ihm das mitzuteilen. Es war fast ebenso schwierig, den Drachentöter zu töten wie den Drachen. Natürlich war es leichter, aber nur ... so lange, bis der Drachentöter die Initiationen erhielt. Bis dahin war er nur ein gewöhnlicher Sterblicher. Seine Kraft bahnte sich nur sporadisch einen Weg nach außen. Auch Torn war natürlich klar, dass Ritor nicht untätig dasitzen und zusehen würde, was geschah. Der Clan der Luft musste sich auf die Jagd machen. Es war auch gut möglich, dass Torn darauf zählte, sie bei dieser Jagd abzufangen, sie überrumpeln wollte, indem er den Drachentöter als Köder benutzte. Einmal war ihm das schon gelungen ... auf ihrer Seite waren es vier Tote - und was für welche! - und beim Wasserclan im besten Fall ein Verletzter. Ein schlechter Tausch für den Clan der Luft.

Ritor schlug mit der Faust auf die Armlehne. Er saß in seinem Arbeitszimmer neben dem geöffneten Fenster; sein Gehör war - wie immer in den Minuten angespannten Nachdenkens - aufs Äußerste geschärft und fing das alarmierte Flüstern der Schüler im breiten Schulkorridor eine Etage tiefer auf; auch das undeutliche Murmeln der auf dem Platz vor der Schule versammelten Menge vernahm es - sie waren ebenfalls nicht auseinandergegangen, auch nicht nach der Verkündigung des Ratsbeschlusses; der Wind,

Wenn er doch genauso leicht Torns Gedanken ... oder denen des zukünftigen Drachentöters lauschen könnte ...

Nach und nach verdüsterte sich Ritors Gesicht. Zum ersten Mal seit vielen Jahren sah er keinen vernünftigen Ausweg. Außer dem einen, dem letzten, der noch übrig war: zu echtem Zauber Zuflucht zu nehmen. Eine Möglichkeit, die jeder Zauberer sich für den äußersten Notfall aufsparte. Nein, denn es gab nichts Leichteres, als einen Magier anhand der von ihm vollbrachten Beschwörungen einzuschätzen. Ach, wenn er doch auf der Hut gewesen wäre, als Torn und die Magier des Wassers den Drachentöter gerufen hatten! Dann wären alle am Leben geblieben, und er müsste sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen, wen er anstelle der Klatt-Brüder zum Auskundschaften aussenden könnte ...

Aber jetzt war nichts mehr daran zu ändern. Er würde die ganze leicht eingerostete Beobachtungs-, Vorhersageund Aufklärungsmaschinerie in Gang setzen müssen, deren Netz sich weitläufig über die gewaltige, viele Hundert Meilen umfassende Ebene erstreckte, über die Lehensbesitzungen und die abgabenpflichtigen Ländereien der anderen Clans und auch ihres eigenen ... Der Mensch, vermutlich von der Anderen Seite, konnte überall auftauchen. Er konnte sogar schon gestorben sein, etwa, wenn es ihn an die Graue Grenze verschlagen hatte. Er konnte von Räubern umgebracht worden sein, solchen, die es auf strapazierfähige Schuhe oder eine haltbare Jacke abgesehen hatten. Oder er war im Duell mit irgendeinem fahrenden Elfen oder einem Hagestolz vom Clan der Panther umgekommen; es war bekannt,

Dennoch wäre es zu riskant, auf so einen Zufall zu hoffen. Torn hatte dem Drachentöter wahrscheinlich seine besten Leute entgegengeschickt. Ritor musste davon ausgehen, dass der Mann schon die ersten Initiationen durchlaufen hatte. Das würde die Suche nach ihm kaum erleichtern, es sei denn, dieser würde aus lauter Dummheit seine frisch erworbene Kraft gebrauchen. Aber es war immer besser, die Möglichkeiten des Feindes zu überschätzen.

Was sollte er also tun? Den Aufklärern eine Nachricht schicken, damit diese ihre Trüppchen in die verschiedenen Winkel des Landes aussendeten, oder zur Magie greifen? Der erste Weg gefiel Ritor deutlich besser als der zweite ... allerdings war dafür womöglich keine Zeit mehr. Wenn der Drachentöter erst einmal auf seine Aufgabe vorbereitet wäre, kostete seine Vernichtung den Clan der Luft unvorstellbar viel Blut. Dagegen würden alle bisherigen Verluste bedeutungslos erscheinen.

Er durfte nicht mehr warten. Der Drache konnte jeden Augenblick kommen ... nicht umsonst schmerzte Ritors Herz jede Nacht, nicht umsonst zogen verworrene feurige Bilder vor seinen Augen vorbei ... und die Vergangenheit wurde wieder lebendig. Ritor, der Bezwinger des Letzten Drachen, spürte mit seinem ganzen Wesen: Der Augenblick der Wiedergeburt war nahe. Man hätte dem Drachen dabei helfen können - schließlich hatte Ritor nicht umsonst ein

Was hatte sein Bruder gesagt? »Bist du sicher, dass du die Absichten des Feindes erkannt hast?« O ja, er war sich mehr als sicher. Der Drachentöter würde nicht ankommen. Wie traurig es auch war, aber sie würden ihn vernichten müssen. Es war bedauerlich, denn dieser war ja ein völlig unschuldiger Mensch aus einer ganz anderen Welt, aber es ließ sich nicht ändern. Es lebte einmal ein ganz normaler Mensch, ein Menschlein. Vielleicht hier, vielleicht auf der Anderen Seite, vielleicht sogar bei den Angeborenen, wenn bei ihnen überhaupt Menschen lebten. Eines Tages geschah etwas, ein geheimer Mechanismus der Seele schnappte zu, die Fäden der Großen Kraft erbebten, diese Fäden durchdrangen die Welten und verbanden sie miteinander. Irgendwo wurde ein Drache geboren, und irgendwo erschien der Drachentöter. Und machte sich auf den Weg ...

Es war immer die gleiche Rechnung. Das Leben eines Einzelnen oder das Leben Unzähliger, einschließlich jenes ersten Opfers. Es war schändlich, aber nicht zu ändern. Sein Gewissen war schon an derartige Geschäfte gewöhnt. Anders würden die Clans, die es ans Warme Ufer verschlagen hatte, kaum überleben. Nicht einmal hier in der Mittelwelt.

Ritor erhob sich entschlossen. Jetzt wusste er, was zu tun war. Die Abkommen waren gebrochen, Schwerter und Säbel geschärft, die Werber zogen durch die Siedlungen, bisher noch großzügig und rechtschaffen, ohne im Rausch zu überreden, lockten sie die Jünglinge mit dem Klang der

Ritor verließ sein Zimmer. Der Korridor war leer, nicht einer würde sich in seine Nähe wagen, solange er in angespanntes Nachdenken versunken war ... das heißt, siehe da, trotz allem hatte sich einer erdreistet. Der Maître spürte ein leichtes Schwanken des magischen Windes an seinen Schläfen und musste unwillkürlich lächeln. So ein Lausebengel. Aus ihm würde mal was werden - mit der Zeit ...

Der Junge scheuerte noch immer mit demselben Eifer den Boden, der bereits spiegelblank glänzte. Als Ritor näher kam, blickten ihm zwei vorgeblich naive Augen entgegen. Ja, Maître, sehen Sie, im Schweiße meines Angesichts erfülle ich meine Aufgabe ...

»Hast du tatsächlich die Absicht, dieser Beschäftigung bis zur Prüfung nachzugehen?«, fragte Ritor streng.

»Wie Sie es mir aufgetragen haben, Maître.« Der Junge verneigte sich ehrfürchtig, tief in seinen Augen glomm ein ungezügelter Funke. Er musste für seine Lauscherei mit einer sehr viel härteren Strafe als einfachem Bodenscheuern rechnen, aber trotzdem glomm dieser Funke.

»Wie ich es aufgetragen habe«, wiederholte Ritor. »Nun steh schon auf ... Asmund, nicht wahr? Asmund, Sohn des ...«

»Claude des Schuhmachers, Maître«, antwortete der Junge respektvoll, während er eilig, aber erfolglos versuchte, seinen unbändigen Locken ein angemessenes Aussehen zu verleihen.

»Ja, richtig.« Ritor nickte. »Also, Asmund, Sohn des Claude und der Brunhilde, nun sage mir - und sprich die Wahrheit: Was hast du gehört?«

Ritors Wall war absolut. Er war neugierig, wie viele Schichten zu durchbrechen dem Kleinen gelungen war.

Asmund wurde dunkelrot bis über die Ohren. Er war hellhäutig wie seine nordische Mutter. In dem Jungen mischte sich das dicke norwegische Blut mit südfranzösischem.

»Entschuldigen Sie, Maître ...« Seine Augen nahmen nun einen aufrichtigen, schuldbewussten Ausdruck an. »Ich ... ich habe gehört ... dass Sie den Drachentöter mit Zauberei ausfindig machen wollen.«

Ritor spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab.

»Ich ... ich bin Ihnen so dankbar, Maître«, fuhr der Junge inzwischen fort und blickte den Zauberer voller Verehrung an. »Ich verstehe ... das war eine Prüfung ... ich sollte beweisen, dass ich den Wall zu durchbrechen vermag. Ich dachte, dass Sie wahrscheinlich beschlossen haben, mich mitzunehmen ... schließlich soll ja ein Junge bei dem Feldzug dabei sein ... und ich bin nicht schlechter als Taniel ... und nun haben Sie mich geprüft. Ich habe mich sehr angestrengt, Maître. Sagen Sie mir, Maître, ich habe sie doch bestanden, oder?« Und sein leuchtender Blick war fest auf den geliebten Lehrer gerichtet.

Natürlich, dachte Ritor, der Junge kann sich gar nicht vorstellen, dass er die Kraft hat, meinen Wall wider mein Wissen zu durchbrechen. Asmund musste ja denken, dass er geprüft wird. Dieser Teufelskerl ist wirklich begabt. Wer hätte das geglaubt ... Verärgert über sich selbst, schüttelte Ritor den Kopf. Wie konnte ihm so ein Talent entgehen? Wie konnte er das übersehen? Aus Asmund würde einmal ein großer Zauberer werden. Und er musste sich dringend um seinen Schutzwall kümmern ...

Schnell, mit einer einzigen Berührung erforschte er den Jungen. Nein, im Moment wirkte dieser keinen Zauber.

»Nun denn, komm mit.« Ritor bedeutete Asmund, ihm zu folgen. »Du hast Recht, diese Prüfung hast du zufriedenstellend bestanden ... beinahe gut.«

Der Junge biss sich vor Ärger auf die Lippen.

»Damit du dich davon überzeugen kannst«, fuhr der Zauberer unerschütterlich fort, »wirst du mir nun Schritt für Schritt demonstrieren, wie du meinen Wall durchbrochen hast. Und ich werde dir erklären, wo man leichter und schneller vorgehen könnte.«

Ritor hoffte aufrichtig, dass er überhaupt Ratschläge und Erklärungen für den Jungen haben würde. Nun ja, alles Talent in Ehren, aber die Erfahrung war schließlich auch etwas wert ...

Die anderen Angelegenheiten würden warten müssen. Wenn dieser kleine Teufelskerl so viel vermochte, wo war die Garantie, dass Torn nicht genau dasselbe gelang? Außerdem musste er die Kräfte des Jungen ganz genau ausloten, bis in den hintersten Winkel - denn vielleicht wäre dessen naive Annahme am Ende gerechtfertigt.

Zu seiner Truppe sollte tatsächlich ein junger Zauberer gehören, einer mit ungetrübtem, skeptischem Blick.

Obwohl es genaugenommen nicht nur um dessen ungetrübten Blick ging, aber davon brauchte der Junge erst einmal nichts zu wissen ...


»Das ist Wahnsinn, Ritor«, sagte der ältere Roj entschieden.

»Zumindest unvernünftig, Ritor.« Rojs jüngerer Bruder Gaj schüttelte den Kopf.

»So etwas hätte ich nicht von unserem vorsichtigen und vorausschauenden Maître erwartet.« Solli breitete verwundert die Arme aus.

»Tausend Teufel und eine Hafendirne, also mir gefällt der Vorschlag!« Sandra hieb mit der Faust auf den Tisch, mit hochgezogenen Brauen blickte sie in die versammelte Runde. Gerüchten zufolge - die Wahrheit kannte nicht einmal Ritor - war Sandra in ihrem früheren Leben auf der Anderen Seite die rechte Hand eines Piratenkapitäns auf einem Piratenschiff gewesen. Sie war korpulent, hatte eine laute Stimme und war äußerst stark. Zu fechten verstand sie wie nur wenige Männer. Auf ihrem Hals prangte eine scheußliche Narbe - wohl von einem Säbel -, auf die sie allem Anschein nach sehr stolz war. Sie trug goldene Ohrringe in der Form von Totenköpfen mit fünfkarätigen Brillanten als Augen. »Ich hasse es, hier so tatenlos herumzusitzen! Lasst uns dieses Monster aufstöbern und erwürgen. Mit unseren eigenen Händen. Los, Ritor, wir haben lange genug die Ruder getrocknet. Refft das Segel, und dann feuern wir volle Breitseite! Auf mich kannst du zählen, auch wenn diese Landratten hier sich vor Angst in die Hose machen.«

An ihre Ausdrucksweise hatten sich alle im Clan längst gewöhnt. Im Laufe einiger Hundert Jahre hatten die Leute aufgehört, sich jedes Mal beleidigt zu fühlen. Ritor fragte sich gelegentlich, ob Sandras üppige Meeresrhetorik und die komplizierten Schimpfwörter nicht nur eine Art Maske darstellten, die Maske einer erschrockenen Frau, die sich plötzlich in einer fremden Welt wiedergefunden hatte. Bestätigt fühlte er sich in diesem Verdacht durch die Tatsache, dass die Meereswölfin Sandra nie auch nur den geringsten Wunsch äußerte, an Bord zu gehen. Womit sie vollkommen Recht hatte, denn auf Schiffen waren Frauen normalerweise nicht willkommen - höchstens ... in einer einzigen Rolle.

Aber sie war eine gute Magierin. Für eine Frau geradezu herausragend.

»Sandra! Gib doch bitte dein Enterkommando auf und dreh für einen Augenblick bei, ja?«, erklang die Stimme des vierten Magiers. Er war dunkelhäutig, hatte eine Hakennase und hörte auf den merkwürdigen Namen Boletus Eduljus. Auch er war - genau wie Sandra - von der Anderen Seite gekommen. »Wir haben Ritors Argumenten zugestimmt, als er vorschlug, vorerst keinen Krieg gegen Torn zu führen. Aber diesmal können wir ihm unmöglich zustimmen. Diese Beschwörung würde zu viel Energie erfordern. Ganz abgesehen davon, dass wir nicht mit der einen Stunde unserer größten Kraft auskommen würden, müssten wir fast alle unserer Schutzwälle und Beobachtungsformeln aufgeben und würden selbst für längere Zeit ausfallen. Ich habe keine Angst um mich, aber denk doch mal an Roj und Gaj. Die Kräfte des Clans sind nicht unbegrenzt, Ritor. Zum großen Wind! Das weißt du doch genauso gut wie ich. Der Clan würde praktisch ohne jeden Schutz zurückbleiben. Es wäre ein Kinderspiel für Torn, uns zu vernichten ...«

»Na, das sicher nicht!«, bellte Sandra und zog unter ihrem breiten, bunten Gürtel einen mächtigen Enterhaken hervor. Von dieser Waffe trennte sie sich angeblich nicht einmal im Bett, wo sie - Gerüchten zufolge - ein unbändiges Temperament auszeichnete. Obwohl sie schon ein achtbares Alter erreicht hatte, sah Sandra nicht älter als fünfunddreißig aus. »Ehe diese Ausgeburt eines Abortmatrosen und einer syphilitischen Meerjungfrau auch nur ...«

»Sandra, Werteste«, sagte Ritor geduldig. »Bitte lass den verehrten Eduljus erst zum Ende kommen ...«

»Der kommt doch nur in der Horizontalen zum Ende«, bellte die Zauberin. »Ich weiß schon, was er sagen wird! Er

Die ehrwürdigen Magier wurden unruhig, einer kicherte.

»Bravo, bravo, Sandra!« Boletus war überhaupt nicht beleidigt und klatschte beifällig in die Hände. »Es gefällt mir, wie du deine Ansichten auf den Punkt bringst. Und im Großen und Ganzen hast du Recht. Genau das wollte ich sagen. Ganz sicher wird Torn die Gelegenheit ergreifen, uns zu überfallen. Ich nehme an, er lässt uns schon jetzt nicht aus den Augen. Sobald wir uns öffnen, wird er uns attackieren. Und zwar unverzüglich. Für ihn ist es gerade jetzt wichtig, dass wir den Drachentöter nicht erreichen, solange dieser noch schwach ist. Ihr mögt mich für einen Feigling halten, aber dieser Plan unseres verehrten Ritor kommt einem Selbstmord gleich. Da ist es schon besser, wir entsenden die Aufklärer. Ja, das wird länger dauern, und ja, ihre Nachrichten sind nicht immer zuverlässig. Aber dafür ist es für den Clan weniger gefährlich.«

Ritor wollte die Hand erheben, aber der hakennasige Zauberer dachte noch nicht daran, zu verstummen.

»Ich bin nicht taub, Ritor, ich habe sehr wohl gehört, was du gesagt hast. Ich weiß, wir könnten zu spät kommen. Das ist wahr. Aber auch der Drachentöter ist nicht sofort zur Stelle, wenn der Drache, wenn der Herrscher die Mittelwelt erreicht. Auch der Drachentöter braucht Zeit, und das nicht zu knapp.«

»Zum Teufel noch mal, dann kannst du dich ja um ihn kümmern, Boletus«, schnaubte Sandra. »Der macht mit links

Eduljus lächelte verschlagen. »Auf den ersten Blick, meine Unvergleichliche, aber nur auf den ersten Blick. Der Drachentöter ist genauso verwundbar durch Schwerter, Pfeile und Kugeln wie jedes andere sterbliche Wesen auch. Ein ordentlicher Hinterhalt ... Ritor! Warum schweigst du? Weißt du etwa nicht mehr, wie es zu deiner Zeit war?«

Boletus hatte Recht. Dennoch ...

»Um dem Drachentöter eine solche Falle zu stellen, müssen wir erst wissen, wo er sich befindet«, antwortete Ritor mit unbewegter Stimme. »Er wird alles tun, um uns von seiner Spur abzubringen. Ich hege keinen Zweifel daran, dass Torn sich jetzt ebenso seine Gedanken macht wie wir. Daher wird es fast unmöglich sein, dem Drachentöter eine Falle zu stellen. Höchstens auf der Dracheninsel, aber dann können wir uns ebenso gut gleich selbst ertränken ...«

»Wir könnten auch den Drachen beschützen, wenn er kommt«, wandte Solli ein.

Ritor lachte bitter.

»Das wird uns wenig nützen, mein Freund. Der Drachentöter spürt den Drachen besser als eine Maus den Käse. Er wird den Herrscher vor uns aufspüren, ganz gleich, wie sehr wir uns bemühen. Nein, es gibt einfach keinen anderen Ausweg. Ich bin sehr beunruhigt, und ich habe mir angewöhnt, meiner Unruhe zu vertrauen. Was eure Sorge um unseren Schutzwall angeht ... nun, die kann ich gut verstehen, aber uns wird ein sehr cleverer Junge zur Seite stehen.«

»Asmund«, lachte Sandra plötzlich.

»Woher weißt du das?« Ritor runzelte die Stirn.

Die Zauberin verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und senkte aus irgendeinem Grund den Blick. Dann hustete sie verlegen.

»Es gab da so einen Vorfall ... zu überprüfen«, erklärte sie vage. »Ach, das ist ein geschicktes Teufelchen!«

Die anderen begannen alle gleichzeitig zu reden. »Ein neuer Magier?« ... »Ist er stark?« ... »In welchem Stil arbeitet er?«

Nur Boletus’ Gesicht verdüsterte sich, und das war verständlich. Asmund gehörte zu seinen Schülern, und das bedeutete, dass ihm ein für den Clan bedeutsames Talent durch die Lappen gegangen war.

»Über Asmund reden wir später«, sagte Ritor entschieden. »Lasst uns jetzt abstimmen.«

»Ich bin dagegen«, sagte Roj eigensinnig.

»Ich auch.« Gaj unterstützte seinen Bruder.

»Ich bin dafür!«, bellte Sandra. »Ihr stinkenden Stinktiere, dass euch alle die Impotenz trifft!«

»Das hat sie schon«, sagte Roj ruhig. »Lass uns nicht darüber reden, Sandra.«

»Entschuldige.« Die Zauberin drehte sich düster zur Seite. »Aber ich bin trotzdem dafür.«

»Ich ebenfalls«, sagte Solli unvermittelt. »Du hast mich überzeugt, Ritor.«

»Also zwei dafür und zwei dagegen«, stellte der Zauberer fest. »Und du, Boletus?«

»Ich enthalte mich«, antwortete dieser nicht ohne Häme. »Ich kann nicht sagen, dass mich dein letztes Argument völlig umgestimmt hat ... andererseits lässt es mich auch nicht ganz ungerührt.«

»Drei dafür, zwei dagegen, eine Enthaltung. Die Entscheidung ist gefallen. Roj und Gaj, werdet ihr uns helfen?«

Die beiden unzufriedenen Alten waren schon fast an der Tür, jetzt blieben sie stehen. Gaj sah Ritor mit unverhohlenem Zweifel an.

»Wir schaffen es nicht ohne euch«, sagte das Oberhaupt des Clans eindringlich. »Wer könnte besser die Kräfte verteilen als du, Roj? Und wer könnte sich besser strecken als du, Gaj?«

»Nun ja«, brummte Roj. Es war zu sehen, dass er geschmeichelt war. Selten genug gab der mächtige Ritor zu, dass er etwas nicht allein vermochte. »Hast du also endlich begriffen, dass auch alte Besen kehren ...«

»Das habe ich«, sagte Ritor, ohne zu lächeln. »Ruht euch jetzt aus bis zum Abend, Freunde, und wenn es dunkel wird, bitte ich euch, zu mir zu kommen. Dann werden wir den Plan besprechen. Morgen früh beginnen wir, denn zur Stunde der größten Kraft muss alles bereit sein.«


»Komm her zu mir, Asmund. Du brauchst nicht zu zittern, ich bitte dich. Als du meinen Wall durchbrachst, hast du dich auch nicht gefürchtet. Du musst uns entschuldigen, deine Weihe vollzieht sich ganz und gar unfeierlich. Ich weiß, du hast dir etwas anderes erträumt: dass der ganze Clan auf dem großen Platz versammelt ist und du den Schwur verliest ... Und nun stehen wir hier. Sechs Magier in einem verdunkelten Saal. Aber das macht nichts. Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden, Asmund. Manchmal muss das sehr schnell geschehen - sonst erlaubt dir das Schicksal nicht, überhaupt erwachsen zu werden. Der Krieg rückt näher, mein Asmund. Die Väter werden ihre Söhne begraben müssen. Bei Morgenanbruch ziehen wir ins Feld, sobald das Ritual vollzogen ist. Du bist auserkoren, uns zu helfen. Du hast bewiesen, dass du dazu in der Lage bist. Ich


Sieben Magier standen an den Händen gefasst im Kreis auf der äußersten Spitze des steilen Felsens. Es war noch lange hin bis zur Stunde ihrer größten Kraft, aber nun lag eine feinfühlige Arbeit vor ihnen - sie würden Windkränze flechten müssen; nur hier auf dem Zahn war das möglich.

Ritor hielt Asmund fest an der Hand. Für alle Fälle, falls der Junge doch die Kontrolle über sich verlieren sollte. Jetzt war der Moment gekommen, in dem die über lange Zeit angesammelte Kraft des Clans freigesetzt werden musste, indem sie sich auf die alte Magie des Kampfes besinnen mussten.

Die Handfläche des Jungen zitterte kaum spürbar, und Ritor bemitleidete ihn unwillkürlich, ungeachtet seiner eigenen Worte. Und er verspürte Scham. Ja, dieser hier hatte

Aber in Wahrheit war es auch so, dass bei der Arbeit im Kreis der schwerste Schlag den Jüngsten traf. Wie das Wasser immer nach unten fließt, ebenso geht die Kraft immer durch den, der am wenigsten Erfahrung und am meisten Energie hat. So ist es gerecht, denn das, was Roj getötet und selbst Ritor vermutlich aufs Lager geworfen hätte, verwandelte sich für den Jungen nur in einen schweren Traum und unendliche Erschöpfung. Er würde schneller und leichter als sie alle wieder zu sich kommen ...

Es wäre nur besser für Asmund, das nicht allzu früh zu erfahren. Nicht, ehe ein jüngerer Magier in ihren Kreis aufgenommen würde. Es war schwer, ja, sehr schwer, zu begreifen, dass deine geliebten Lehrer und gewissermaßen auch deine Kampfgefährten dich über Jahre vor allem als lebendigen Schild geschätzt hatten.

Ritor wusste das aus eigener Erfahrung ...


Wahrscheinlich schmeckte die Forelle vorzüglich. Sogar sehr wahrscheinlich - falls Viktor das überhaupt merkte, während er den Fisch ganz langsam in Stücke zerlegte und verzehrte, nur um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Aber das Frühstück war für ihn jetzt nur noch eine kurze Schonfrist vor dem Kampf. Genauer gesagt vor dem Tod. Die Familie des Räubers hatte offenbar entschieden, ihn fertig essen zu lassen, aber Viktor hatte keine Chancen, sich dieser fünf zu erwehren.

Wie hatte er sich nur so täuschen können!

»Gnade, Herrscher ...«, etwas in der Art hatte dieser Räuber doch geflüstert, oder? Und er hatte nachgegeben, der mitleiderregenden Stimme, dem Äußeren dieses Lumpen,

Viktor knirschte mit den Zähnen. Vor ihm auf dem Tisch lag sein frisch geschliffenes Schwert, er würde es noch zu fassen bekommen. Aber was würde es ihm im Kampf nützen? Ja, wenn es eine Maschinenpistole wäre ... wenn er sich wenigstens noch an den Offizierslehrgang an der Uni erinnern könnte.

»Oh, die Wächter der Grauen Grenze!« Rada trat an den Tisch der Familie. Ihre Stimme klang spöttisch herablassend. »Seltene Gäste! Herzlich willkommen!«

»Bier, Frau Wirtin«, sagte der Räuber heiser, und Viktor erzitterte, als er dessen Stimme vernahm: sie klang gedämpft, alle Gefühle unterdrückend.

»Was für ein Bier?« Rada war die Gastfreundschaft in Person, aber ihr Ton hatte sich leicht verändert. Sie spürte das Unheil ... vielleicht würde sie Dersi rufen ...

Viktor schalt sich selbst dafür, dass er sich um ein Haar auf den Krüppel ohne Beine verlassen hätte. Nein, der Elf würde ihm sicher keine Hilfe sein.

»Irgendeines ... das Billigste ... nein!« Der Räuber hatte es sich anders überlegt und sagte entschieden: »Das Beste, das du hast! Wersker, goldenes Wersker Bier!«

Rada gab einen Laut der Verwunderung von sich und ging.

Viktor aber verstand sofort, warum der Räuber seinen Söhnen das beste Getränk vorsetzen ließ. Damit sie sich an diesen Augenblick erinnerten. Der Mord selbst würde wohl keinen allzu tiefen Eindruck auf die Jungen machen. Aber an den Geschmack des Bieres würden sie sich erinnern, damit würden sie vor ihren Freunden angeben.

Und in ihr Gedächtnis würde sich für immer eingraben, dass ihr Vater keine Demütigung ertrug und seine Feinde nicht ungeschoren ließ!

Eine Welle des Zorns erfasste ihn, eine riesige kochende Welle. Wie unmittelbar nach dem Übergang, als ihn im eisigen Wasser des Sees eine Art Wahnsinn befallen hatte.

Sie wollten also ein Schauspiel aus ihm machen!

Ein Lehrstück für minderjährige Banditen!

Er merkte nicht einmal, wie das Schwert in seine Hand glitt, die Finger eisern den Griff umfassten - leicht, geübt, als wäre er damit vertraut. Der Tisch wackelte vom Stoß seines Körpers, Viktor drehte sich um, schleuderte den Stuhl nach hinten. Mit einem traurigen Klirren zerbrach der Pokal mit einem Rest Sprudelnden Tages auf dem Boden.

»Du!«, brüllte Viktor und streckte die Klinge in Richtung des Räubers aus. Und in seinem Schrei erklang kein Aufruf und keine Drohung, sondern eine Feststellung, ein Versprechen, dass etwas geschehen würde ... weit mehr als das, wozu er fähig war.

»Herrscher ...« Der Räuber sprang vom Tisch auf und fiel vor Viktor auf die Knie. »Herr, ich bin gekommen ... ich habe meine Söhne mitgebracht ...«

Noch in der Hitze des frischen Zorns sah Viktor, wie die Jungen sich neben den Vater zu Boden fallen ließen, sich ausstreckten - bereit, den Schlag seines Schwertes zu empfangen. Nur der Jüngste wagte es, den Kopf ein wenig zu heben und ihn anzusehen, aber sein Blick war nicht erfüllt von Hass oder Furcht, sondern von einer eifrigen, begeisterten Neugier.

So hatte Moses vermutlich den brennenden Dornbusch angesehen oder die Apostel den erzürnten Jesus.

»Wie es euch beliebt, Herrscher ...«

Viktor schwieg, er wusste nicht, was er mit diesen Leuten anstellen sollte und was eigentlich vor sich ging. Verlangte ein geschenktes Leben in der Mittelwelt tatsächlich nach einer solch hündischen Ergebenheit?

»Wollt ihr das Bier noch?«, fragte Rada hinter dem Tresen hervor. Viktor bemerkte, dass das Mädchen schnell etwas verbarg.

Vielleicht hatte das Schicksal Konam keine Söhne gegönnt, aber seine Tochter war jedenfalls in der Lage, für sich einzustehen.

»Bring ihnen Bier, Rada ...«

Viktor trat auf den Räuber zu. »Wie heißt du?«

Der Mann hob den Kopf und blickte ihn an, als könnte er nicht glauben, dass Viktor sich zu einem Gespräch mit ihm herabließ.

»Verzeiht, dass wir Eure Ruhe gestört haben ...«

»Wie ist dein Name?«

»Ich bin der Grenzer ...«

Vielleicht hatte der Räuber auch einen richtigen Namen außer diesem Spitznamen, aber Viktor war das egal. »Also gut, Grenzer, warum seid ihr gekommen?«

»Um Euch zu dienen, Herrscher.«

»Ich brauche niemandes Dienste!«

»Ja, Herrscher ... dann tötet uns, Herr ...«

Es wurde nicht einfacher! »Steh auf. Und deine Söhne auch. Trinkt euer Bier, und geht dann in die Eingangshalle. Wartet dort auf mich.« Diese präzisen Anweisungen schienen die richtige Taktik zu sein. Der Grenzer sprang auf, half seinen Söhnen mit Fußtritten auf die Beine, und nach wenigen Augenblicken hatten sie ihre Krüge geleert und verließen das Restaurant.

»Und wer bezahlt ihr Bier?«, fragte Rada. Allerdings erst, als die Familie sich bereits entfernt hatte, denn offensichtlich hatte sie das Gespräch nicht unterbrechen wollen.

»Ich.« Schweigend holte Viktor ein Goldstück aus dem Säckchen. »Rada, wer sind sie?«

»Was für eine Frage! Das wirst du ja wohl besser wissen, Doktor!«

»Bitte glaub mir, Rada, ich habe keine Ahnung.«

»Also wirklich ... das kann ich kaum glauben.« Das Mädchen musterte ihn jetzt mit sehr viel mehr Interesse als zuvor. »Ich weiß auch nicht viel. Entlang der Grauen Grenze gibt es Höfe, jeder besteht aus jeweils zwei, drei Häusern. Es heißt, die Leute dort seien die Nachkommen von Soldaten aus jener Armee vor langer Zeit, deren Tote hinter der Grenze einfach keinen Frieden finden. Es gibt menschliche Gehöfte und solche für Elfen und Gnome. Die Leute dort pflegen mit niemandem Umgang außer mit ihresgleichen. Ganz selten kommen sie in die Dörfer. Es gibt Gerüchte ...«, Rada schwieg einen Augenblick und sah Viktor prüfend an, »dass diese Höfler auf den Wegen um die Grenze herum manchmal Reisende überfallen und ausplündern. Sie haben ihre eigenen Sitten, ihren eigenen Glauben und ihre eigenen Gesetze. Sie nennen sich die Wächter der Grenze. Ein seltsames Volk.«

»Und?«

»Was und? Mehr weiß ich auch nicht.«

»Gibt es hier einen Hinterausgang?«

»Aus dem Restaurant? Willst du Reißaus nehmen?«

»Ja.«

Rada schüttelte den Kopf. »Es gibt einen Ausgang. Aber das wird dir nichts nützen. Hast du ihre Augen nicht gesehen?« Viktor nickte widerwillig. »Das sind Fanatiker. Also,

»Gib mir auch ein Bier, Rada«, bat Viktor mit einem Seufzer.

Mit dem Pokal in der einen Hand und dem Schwert in der anderen trat Viktor in die Halle hinaus. Der Grenzer und seine Söhne standen nah beieinander an der Tür und strafften sich bei seinem Anblick, wie es neue Rekruten vor einem strengen Sergeanten ... oder besser noch ... einem geliebten Bataillonskommandeur tun.

Der Elf blickte ihn nachdenklich und fremdartig an.

»Dersi ...«, Viktor verlor den Faden, weil er nicht wusste, wie er das Gespräch anfangen sollte. »Dein Kollege ... der Rothaarige ... Wo kann ich ihn finden?«

»Er kommt bald.« Der Elf griff sich ein Blatt Salat von dem Teller und schob es sich in den Mund. Seine Bewegungen waren geziert wie die eines Adeligen auf dem Ball der Königin oder wie eines Rassepferdes, das ein Stück Zucker von einer Handfläche nahm. »Ich vermute, der Rote ist im Begriff, seiner Neigung für das weibliche Geschlecht nachzugehen. Aber wo er genau ist ...«

»Ich habe nicht viel Zeit, Dersi. Ich muss den Donnerpfeil erwischen.«

Der Elf schüttelte den Kopf. »Dann werden Sie ihn wohl kaum antreffen.«

Pech auf der ganzen Linie ... Mit einem Nicken legte Viktor den Schlüssel auf den Tisch. »Schade. Na dann, ich reise ab.«

»Alles Gute«, sagte der Elf gleichgültig.

Noch einmal versuchte Viktor den Wall seiner Fremdartigkeit zu durchbrechen und fragte: »Dersi, ich habe ... eine persönliche Frage ... dieser Bogen ...« Der Elf warf einen schnellen Blick auf seine Waffe. »Er ist sehr schmal. Der wird doch kaum eine gute Waffe abgeben ...«

»Die Pfeile sind vergiftet«, antwortete der Elf gelassen. »Wir hatten schon immer hervorragende Gifte. Solche gegen die Vögel, andere gegen Tiere und wieder andere gegen Menschen.«

Viktor musste husten, dann drehte er sich um und verließ das Hotel.

So hatten sich die Elfen also ihren Ruf als herausragende Schützen erworben!

Hinter ihm her kamen trappelnd der Grenzer und seine Söhne. Viktor blieb stehen und wandte sich um. Ihre Mienen erhellten sich vor seinen Augen und nahmen einen diensteifrigen und gehorsamen Ausdruck an.

»Ihr seid selbst schuld, ihr habt uns überfallen ...«, begann Viktor.

Nun flackerte Angst in den Augen des Grenzers auf. »Herrscher!«

»Halt! Ich zürne dir nicht. Ich habe dich laufen lassen ...«

»Ja, Herrscher ...«

»Aber du bist mir zu nichts verpflichtet. Verstehst du? Lebe weiter. Hör auf mit dem Plündern und such dir eine anständige Arbeit ...« Er war selbst erstaunt über diese hochtrabende Phrase. Wer war er, der Papst? »Ich brauche deine Dienste nicht!«

Der Räuber schwieg dumpf vor sich hin. Viktor drehte sich um und ging die menschenleere Straße hinunter, hinter sich vernahm er Schritte.

»Wieso hängt ihr euch an mich?« Viktor gestikulierte mit der Hand, ohne daran zu denken, dass er ein Schwert umfasst hielt. Der Grenzer zwinkerte. Er wollte offensichtlich nicht sterben, aber er war bereit, einen Schlag zu empfangen.

Viktor spuckte aufs Pflaster und schritt weiter die Straße entlang, dabei versuchte er nicht länger auf seine schweigende Eskorte zu achten. Er würde sie schon irgendwann abschütteln. Sie würden doch nicht von hier wegwollen. Wenn er erst im Zug saß ... sie würden doch ihre angestammte Heimat nicht verlassen, sich nicht Hals über Kopf ins Unbekannte stürzen!

Ein paarmal begegnete er Leuten auf seinem Weg; sie sahen ganz und gar nicht auffällig aus, und Viktor schenkten sie keine Beachtung. Aber ihre Kleidung war irgendwie anders - nicht unbedingt, was die Stoffart oder die Machart anging. Aber Viktor hatte den Eindruck, als gäbe es keine Standardfarben und -schnitte. Als ob jeder selbst seine Kleider bei einem ordentlichen Schneider in Auftrag gäbe ...

Vielleicht gab es hier ja tatsächlich keine Maschinenproduktion. Aber warum? Es gab eine Eisenbahn, das bedeutete doch, dass es mindestens Dampfmaschinen geben musste. Was wiederum ausreichend wäre, um eine Art Textilindustrie zu schaffen ...

Als er sich bei dieser Art unternehmerischer Neugier ertappte, musste Viktor lachen. Na klar. Ein Yankee am Hofe König Arturs! Er war schließlich nicht der Erste, den es von der Anderen Seite hierher verschlagen hatte. Wenn es hier trotz der grundsätzlichen Gegebenheiten keine Textilindustrie gab, dann hatte das vermutlich ernste Gründe. Es wäre dumm, deswegen in die Fänge der örtlichen Inquisition zu geraten oder womöglich der Zunft der Hosenschneider

Und zum ersten Mal erfasste ihn der Hauch des ABEN-TEUERS.

Mit großen Buchstaben geschrieben.

Gestern war er noch wandelndes Frachtgut gewesen, ein Schlappschwanz auf zwei Beinen, der sich mühsam hinter Tel herschleppte, aber heute hatte sich etwas geändert. Vielleicht lag es an dem seltsamen Traum oder an Radas erfrischendem Getränk oder an dem überflüssigen, aber doch angenehmen Begleitschutz hinter ihm, jedenfalls fühlte sich Viktor wie ein Forscher, wie ein begeisterter Museumsbesucher.

Schließlich war er satt, gesund, mit Kleidern und Schuhen versehen. In seinen Taschen trug er ein anständiges Sümmchen Geld bei sich sowie kostbare Steine, die offensichtlich noch mehr wert waren. Vor ihm lag eine merkwürdige, idyllische Welt, wo es Errungenschaften der Zivilisation gab, jedoch nur die guten, und ein Meer unbekannter Dinge und Wesen. Elfen, Gnome und Untote, die man hinter die Graue Grenze abgeschoben hatte. Was es hier wohl noch alles zu erkunden gab?

Hehe! Er war zu allem bereit!

Die Straße war zu Ende und mündete in einen kleinen Bahnhofsvorplatz. In diesem Dorf führten wahrscheinlich alle Wege zum Bahnhof, so wie es in allen kleinen Dörfern in allen Welten üblich ist. In der Mitte des Platzes stand ein Brunnenbecken, ausgetrocknet und voller Abfall, aber trotz alledem nett anzusehen: Zweige, Laub und Bündel getrockneten Grases quollen heraus. Der Brunnen wirkte eher wie der Tempel eines Waldgeistes denn wie ein improvisierter

Mit eifriger Neugier strich Viktor die Stände entlang und betrachtete die Waren. Das Fehlen von Schokoriegeln, Einwegwindeln und weiblichen Hygieneartikeln war Balsam für seine Seele.

Die Frauen verfielen bei seinem Anblick keineswegs in Geschäftigkeit und versuchten auch nicht, seine Aufmerksamkeit mit anpreisenden Rufen auf sich zu lenken. Es waren ernste Alte, die ihren Preis kannten und sich nicht um des Handels willen versammelt zu haben schienen, sondern um hier den Tag zu verbringen.

Zunächst sah er nur Lebensmittel: Milch, Sauerrahm, Sahne in feuchten Lehmkrügen, Schichtkäse in Tüchern und Körben, kleine Keramikgefäße mit Honig, dessen Farbe von blauschwarz bis milchig weiß variierte, als ob die Bienen hier wüssten, wie man Kühe melkt. Von seinem Duft lief Viktor die Spucke im Mund zusammen, obwohl er satt war. Der Honig wurde zur Abwechslung von einem Mann angeboten. Er war ein prächtig anzusehender Alter mit einem gewaltigen Bart, einem Haarkranz um seine Glatze und kleinen, schlauen Äuglein. Offenbar hatte er Viktors Reaktion auf seine Ware bemerkt und lächelte zufrieden. Ohne zu verhandeln, erwarb Viktor ein ordentliches Stück Honigwabe für drei Kupfermünzen. Während er weiterschlenderte, saugte er abwechselnd den frischen durchsichtigen Honig aus der Wabe und kaute auf dem geschmeidigen Wachs herum.

Auch seine Eskorte hielt bei dem Imker, und der Grenzer kaufte für jeden seiner Söhne ein Stück Honigwabe. Viktor

Zwei Alte, vermutlich Schwestern, boten alle Arten von Kleidung feil. Viktor ging erst vorbei, dann kehrte er um. Für seine Reise ins Unbekannte war es sinnvoll, sich auszurüsten. Er kaufte Wäsche zum Wechseln und wunderte sich darüber, dass die augenscheinlich handgenähten Unterhosen durchaus einen tragbaren Schnitt aufwiesen und ganz und gar nicht hausbacken wirkten.

»Wie für dich geschnitten, mein Lieber«, sagte die eine fachkundig und blickte Viktor wohlwollend an.

Schlichte Gemüter sind das hier, dachte Viktor.

Im Moment war Viktor genau richtig für das Wetter angezogen. Aber es konnte nicht schaden, an die Zukunft zu denken. Zum Beispiel an Regen. Von Osten her zogen allmählich Wolken auf ...

Zwei schwarze Lederjacken lagen auf dem Tisch, aber beide kamen Viktor reichlich klein vor. Und dann diese kupfernen Knöpfe überall, diese Schnürchen und Nieten - in dieser Jacke würde er aussehen wie ein Heavy-Metal-Fan, aber nicht wie ein erwachsener Mann.

»Die sind für Elfen genäht ...«, teilte ihm die Alte betrübt mit. »Elfen mögen so was ... und dann war da so eine Kleine heute Morgen, die hat ewig rumprobiert und dann doch nichts genommen ...«

Viktor fragte gar nicht erst nach, wie besagte Kleine ausgesehen hatte. Auch so war er sich ziemlich sicher, dass es sich um Tel gehandelt hatte.

»Nimm den Mantel!«, riet die andere. Offenbar hatte Viktor in ihren Augen den Status eines echten Kunden erworben. »Der taugt was, ist aus Biberfell.«

Aber Viktor war nicht so verrückt, in einem edlen Mantel aus fein gegerbtem, glänzendem Fell auf Reisen zu gehen. Darin würde er viel zu sehr auffallen.

»Dann nimm eine Scheide; wenn du weiter so mit dem Schwert durch die Gegend gehst, wirst du noch jemanden erschrecken«, ließ die Alte nicht locker.

Und das war nun tatsächlich ein guter Rat. Aus einem dicken Sack unter dem Tisch zog sie geschickt einige Scheiden hervor. Viktor besah sie sich neugierig: Sie waren aus Holz und mit dickem, rauem Leder überzogen. Er maß sein Schwert mit dem Blick und schob es dann in die erstbeste Scheide; es glitt leicht hinein und saß doch fest, als wäre die Hülle extra für seine Waffe angefertigt worden. Sogar die Alte war überrascht und schüttelte den Kopf. »Sieh einer an, da hast du aber die richtige gefunden ...«

Viktor hatte das Gefühl, dass sie den Preis, der für eine Scheide ohnehin unverschämt war, gleich noch mal verdoppelte. Aber er bezahlte schweigend und ging weiter. Die Scheide hatte er an seinem Gürtel befestigt, nun baumelte sie ihm zwischen den Beinen - ohne nachzudenken, schob er sie nach hinten; es schien, als ob die Waffe sich an ihren Platz erinnerte.

Die Räuber blieben ebenfalls an dem Kleiderstand stehen. Neugierig beobachtete Viktor sie. Würden sie sich tatsächlich auch Unterhosen kaufen? Aber so weit ging ihre blinde Ergebenheit nun auch wieder nicht. Der Grenzer befühlte die Lederjacke, verzog das Gesicht und rief den Jüngsten zu sich. Er sprach ein paar Worte zu ihm und gab ihm dann einen kleinen Schubs. Der Jüngste stürzte eilig los und verschwand.

Viktor fuhr fort, sich mit dem örtlichen Warenangebot vertraut zu machen. Eine Frau von etwa vierzig Jahren in

Viktor wollte jetzt keine Experimente machen, daher ging er zügig weiter. Vielleicht konnte er auf dem Rückweg ein paar Flaschen ... als Überraschung; seine Kumpels würden sich nicht schlecht wundern!

Ganz zum Schluss entdeckte Viktor etwas, mit dem er nie gerechnet hätte. Vor einer stämmigen, kleinen Frau, die dastand wie ein Fels, lag ein schmaler Stoß Zeitungen.

Echte Zeitungen! Richtig gedruckte! Viktor streckte die Hand aus, und die Alte schlug ihm blitzschnell und überraschend stark auf die Finger.

»Erst bezahlen ... Ihr Schriftkundigen werdet auch immer mehr ...«

Die Stimme der Alten klang rau und guttural. Hinter ihm stieß der Grenzer einen Schrei aus und trat zu ihnen. Viktor drehte sich um und bedeutete ihm mit einem Blick, sich aus dem Staub zu machen, dann sah er die Alte an.

Ein hartes, faltiges Gesicht mit einem Schnurrbart und einer flachen Nase umrahmt von einem Büschel drahtiger Haare.

Ein Gnom, besser gesagt, eine Gnomfrau!

»Wie viel?«

»Ein Goldstück«, sagte sie in einem Ton, der eigentlich nur eines nahelegte, nämlich »Hau ab«.

Viktor stieß innerlich drei Flüche aus, gegen sein Gedöns eines Intellektuellen, gegen die allgemeine Schulbildung

Nachdem er gründlich untersucht hatte, welches die kleinste Münze war, legte er sie neben die Zeitungen. Ohne die geringste Verlegenheit biss die Gnomfrau in das Goldstück, um seine Echtheit zu prüfen, erst dann hielt sie ihm eine Zeitung hin. Viktor heftete die Augen gierig auf die erste Seite: Der Eisenbahner.

Dieser Zeitungstitel schrie förmlich danach, um das Adjektiv »rot« erweitert zu werden, aber augenblicklich wäre Viktor bereit gewesen, alles zu lesen, was sich ihm bot, vom Elfenboten bis hin zum Abendvampir. Sein Blick glitt weiter.

Zwar waren alle Artikel in kyrillischer Schrift gesetzt, aber die Buchstaben fügten sich einfach nicht zu sinnvollen Wörtern zusammen. »Kratzer Gootschek« war noch das harmloseste. Aber was sollte man von »lauer erser« oder von »hu du« oder von »sef« und »ab!!!« mit drei Ausrufezeichen halten?

War das die Gnomensprache?

Im ganzen Text waren ihm nur die Präpositionen bekannt ... allerdings, wer wusste schon, was ein Gnom unter »über«, »bei« und »auf« verstand.

Aber halt. Jeder Artikel war mit einer kurzen Anmerkung in russischer Sprache versehen, die jeweils in einem schwarzen Rahmen daneben abgedruckt war. »Die Geschichte von Kilometer 1054 der Eisenbahnroute«, »Vergleichende Analyse der Wirtschaftlichkeit von Lastwagen- und

Viktor blätterte die Zeitung eilig durch - alles in allem gerade mal sechs Seiten. Und es gab selbstverständlich keine Illustrationen oder Fotos. Der Schrifttype nach zu urteilen wurde diese Zeitung auf einer entsetzlich primitiven Vorrichtung gedruckt ... Keine Artikel auf Russisch, lediglich diese lächerlichen Resümees am Rande.

Er sah die Gnomfrau an, die mit hämischer Freude auf seine Reaktion wartete.

»Danke schön«, sagte Viktor. »Ich werde sicher ... eine Verwendung für dieses Papier finden.«

Er faltete die Zeitung mehrmals sorgfältig und stopfte sie in die Tasche seiner Jeans.

Die Gnomfrau wurde dunkelrot, öffnete die Lippen, sagte aber nichts. Die umstehenden Verkäuferinnen, die alles mit angesehen hatten, kicherten los. Stolz auf seinen kleinen Sieg ging Viktor zum Bahnhof.

»Herrscher ...«

Er drehte sich um. Der Junge, den der Grenzer kurz zuvor weggeschickt hatte, stand vor ihm und hielt ihm ein Bündel hin.

»Nehmen Sie, Herrscher ...«

»Ich brauche eure Geschenke nicht«, sagte Viktor müde. »Bring das deinem Vater. Hast du verstanden?«

»Herr, nehmt es, sonst bringt er mich um.«

Alle Achtung, das war keine rhetorische Wendung. In den Augen des Jungen lag Furcht.

»Was ist das?«, lenkte Viktor ein.

»Eine Jacke, Herr. Ihr habt doch eine Jacke für Euch gesucht.«

Viktor rollte schweigend das Bündel auseinander und befühlte den schwarzen Stoff.

Aber war das Stoff?

Das Material glich am ehesten einer Fischhaut. Einer schwarzen Fischhaut, mit Schuppen in der Größe einer Kinderhand. Das Innenfutter bestand aus kurzhaarigem, ebenfalls schwarzem Pelz. Und ganz gleich, wie Viktor zu der unerbetenen, heftigen Liebe des Grenzers stand, die Jacke war einfach großartig. Sie schien Wärme ebenso wie Schutz vor Wind und Regen, ja sogar vor einem verräterischen Schlag zu versprechen.

»Danke«, sagte er schließlich und kämpfte mit der Versuchung, sie sogleich überzuziehen. »Was schulde ich dir?« Der Junge schwieg erschrocken und schüttelte den Kopf.

»Na gut. Danke noch mal. Aber jetzt könnt ihr gehen, verstanden? Sag deinem Vater, dass wir quitt sind, ich bin ihm sehr dankbar und so weiter ...«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und betrat eilig den Bahnhof. Er stand in einem kleinen Saal, wo vermutlich der Fahrkartenverkauf stattfand. Jedenfalls gab es dort zwei Schalter, hinter jedem langweilte sich offenkundig eine Frau unbestimmten Alters; auf den hölzernen Bänken schliefen zerknitterte Gestalten - entweder Menschen, die wie Gnome, oder Gnome, die nach Menschen aussahen; unter der Decke schaukelte leicht ein staubiger Lüster vor sich hin.

Entschlossen ging Viktor auf einen der Schalter zu und sagte: »Bitte, eine Fahrkarte für den Donnerpfeil.«

»Wohin?«

Ja, wohin eigentlich?

»Nach ... Was ist weiter weg von hier, Luga oder Rjansk?«

»Rjansk«, schnaubte die Frau.

»Dann nach Rjansk.«

»Welche Klasse?«

»Was gibt es denn?«

»Passagierwagen, Schlafwagen, mit eigenem Platz und mit eigenem Abteil.«

Diese Klassifizierung weckte sein Misstrauen. Wenn der Passagierwagen schon keine Schlafmöglichkeit vorsah und der Schlafwagen offensichtlich keinen eigenen Platz ...

»Mit eigenem Abteil.«

Die Frau wühlte in einem Stapel Papiere auf ihrem Tisch herum. Dann nickte sie. »Noch verfügbar. Das macht zwölf Goldstücke.«

Viktor schluckte und öffnete sein Säckchen. Er hatte noch genau elf goldene Münzen. Diese verdammte Gnomfrau mit ihren Zeitungen!

»Geht auch ... Silber?«

»Drei zu eins.«

Viktor hatte eine dunkle Ahnung, dass der reale Wechselkurs von Gold zu Silber in dieser Welt möglicherweise ein anderer war. Aber ... andererseits, wie sollte er streiten, wenn er es nicht genau wusste. Er bezahlte. Danach blieben ihm noch einige Silbermünzen und ganz wenige Kupfermünzen, die der Halbelf offenbar nicht für Geld gehalten hatte.

»Hier, Ihre Fahrkarte.«

Viktor nahm ein Stück Karton aus den Händen der Frau in Empfang, auf dem einige Ziffern vermerkt waren und etwas in der unverständlichen Gnomensprache geschrieben stand.

»Und was muss ich damit tun?«

»Hier steht doch alles!« Die Fahrkartenverkäuferin empörte sich, als hätte sich hinter Viktor bereits eine endlose

Viktor steckte die Fahrkarte in die Hosentasche.

»Und entfernen Sie sich lieber nicht mehr vom Bahnhof, in einer halben Stunde ist es so weit!«, riet ihm die Frau.

Er zog sich in den hintersten Winkel des Saals zurück, wo noch freie Bänke waren, setzte sich und streckte die Beine aus. Er versuchte sich zu entspannen und betrachtete das verblasste Mosaik an der Wand. Das Wandbild stellte eine Art Kampfszene dar - Menschen, Gnome, Elfen, die allesamt Waffen trugen und mit wutverzerrten Gesichtern auf einem offenen Plattformwagen direkt hinter der Dampflok saßen. Aus dem Schornstein wallte Rauch, es blitzten gezückte Schwerter, Pallasche und Säbel, die sorgfältig aus Spiegelstückchen zusammengesetzt waren.

»Doktor ...«

Er blickte sich um. Rada stand hinter ihm. Sie sah sehr ernst und konzentriert aus.

»Wir müssen reden. Du steckst in Schwierigkeiten. Großen Schwierigkeiten!«

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