16

Dem jungen Kutscher war die Lust auf eine Unterhaltung mit seinen beiden Mitreisenden offenbar vergangen. Entweder hatten ihn Tels Vorwürfe gekränkt, oder der Vorfall mit Viktor hatte ihn allzu sehr mitgenommen. Als gegen Abend niedrige graue Mauern in der Ferne sichtbar wurden, begann Wasja sein Pferd energisch anzutreiben. Und die Stute schien ihrerseits die Aussicht auf eine baldige Rast zu spüren und beschleunigte bereitwillig ihren Schritt.

Die kleine Stadt vor ihnen teilte sich offenbar in zwei Bereiche. Der kleinere Teil lag hinter den Festungsmauern, der größere bestand aus ärmlichen Häusern und erstreckte sich entlang der Hügelkette. Der Weg, auf dem sie unterwegs waren, beschrieb einen Bogen und führte in einem beachtlichen Abstand an der Zitadelle vorbei.

»Hinter den Mauern liegt das Schloss des Fürsten«, rief Wasja ihnen über die Schulter zu. »Ich kann da nicht rein ... solange ich nicht ... Ich fahr zum Ausspannhof.«

»Na, dann gehen wir zu Fuß dorthin«, schlug Viktor vor.

»Ihr müsst euch beim Fürsten zeigen.« Wasja wandte sich wieder zu ihnen. »Ich bin der Erde treu ergeben und kenne die Regeln! Wenn ihr zu den Magiern nach Feros

Viktor blickte Tel an, die nickte.

»Also, Wasja, lieber Freund, wir danken dir«, sagte Viktor. »Fürs Mitnehmen und für die Milch.«

»Die Erde hat uns getragen, ihr musst du danken«, brummte Wasja. »Und, soll ich anhalten?«

Sie kletterten von der Kutsche. Wasja trieb sein Pferd wieder an und nahm sein Buch zur Hand.

»Du hast ihn ganz schön erschreckt mit deinen Drachen, Tel.«

»Na und?« Das Mädchen verzog verächtlich das Gesicht. »Er soll nicht auf den Herrscher spucken, wenn er selbst keine Flügel hat. Lass uns gehen, damit wir die Stadt bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen.«

Sie bogen vom Weg ab und steuerten geradewegs auf die Mauern zu. Der Teil der Stadt, der von der Mauer eingeschlossen war, erwies sich keineswegs als klein, aber er wirkte irgendwie gedrungen und niedrig, als ob er mit der Erde verschmölze. Sogar die Türme, die aus den Mauern aufragten, schienen sich ihrer Höhe zu schämen und sahen wie in die Breite aufgebläht aus. Dafür erstreckte sich rundherum eine schlichte, idyllisch anmutende Landschaft: Wiesen, die aus fettem, sorgfältig gepflegtem Gras bestanden; ab und zu ein Bäumchen - allesamt wie handverlesen, einer kräftiger als der andere, keiner war vertrocknet oder vom Wind gekrümmt; sogar die Hügel lagen wie geglättet da.

»Warum hast du mich als deinen Bruder ausgegeben?«, fragte Viktor. »Wir sehen uns doch überhaupt nicht ähnlich.«

»Warum? Wenn ich mir die Haare färben würde, könnten wir gut als Geschwister durchgehen ... So ergibt es eine vernünftige Geschichte, Viktor. Man hat festgestellt, dass ich über eine gewisse Kraft verfüge, so was kommt häufiger vor. Deshalb begleitest du mich zu den Magiern, das passt alles tadellos zusammen. Du musst mich vor den Gefahren auf der Reise beschützen, und du kannst dich selbst, wenn möglich, in der Nähe der Magier niederlassen ... Das wird keinem komisch vorkommen.«

»Und wenn sie dich auffordern, deine Kraft vorzuführen?«

»Dann führ ich sie eben vor.« Tel lachte. »Was denn? Denkst du, ich kann kein Erz oder Wasser in der Erde finden? Das ist doch ganz einfach. Alles, was sich einer im Selbststudium aneignen kann, bekomme ich mühelos hin.«

»Und das, was man im Selbststudium nicht lernt?«

»Wenn man sich ein bisschen anstrengt ...« Tel wich der Frage aus. »Hauptsache, du behältst deine Kraft für dich, zeigst sie keinem. Ritor ist außer sich vor Wut, er sucht alles nach dir ab.«

»Warum verfolgt er mich so hartnäckig?«

»Er verfolgt sich selbst, Viktor. Er hat den Tag verflucht, als er zum Drachentöter wurde. Er glaubt, dass nur der Drache unsere Welt retten kann.«

»Bist du anderer Meinung?«

»Alles kann passieren.«

»Aber hat er Recht? Kommt der Drache wirklich?«

»Ja. Auch du musst auf seine Ankunft vorbereitet sein.«

Endlich erreichten sie die Stadt. Sie folgten der steinernen Mauer, bis sie zu einem Tor kamen, durch das die letzten, verspäteten Fuhrwerke Einlass in die Festung fanden.

Als Ersten traf es einen graubärtigen Alten, der eine ganze Karre voller Melonen vor sich her schob; ob der Dummkopf denn nicht wisse, dass alle treuen Vasallen der Erde ausreichend eigene Früchte und Gemüse hatten? Einen Bauerntölpel, der mit offenem Mund die dicken Mauern und mächtigen Tore anstaunte, überhäuften sie mit Spott. Einer Schar Mädchen in einem offenen Fuhrwerk, das von einer unansehnlichen, vertrockneten Alten gelenkt wurde, warfen sie jede Menge gesalzene - und wie Viktor fand, vollkommen überflüssige - Bemerkungen zu. Die Mädchen jedoch reagierten mit gutmütigem Gelächter, und das alte Weib parierte in einer Art und Weise, dass selbst die heldenmütigen Wachen hätten rot werden müssen. Über einen einzelnen Reiter - einen ganz jungen Kerl auf einer klapprigen Mähre mit gelblichem Fell - machten sie sich von hinten bis vorne lustig, angefangen bei seinem lächerlichen Hut bis hin zum altertümlichen Degen. Es war nur gut, dass der Junge, der ganz versunken in den Anblick der Türme war, nichts von ihrer Boshaftigkeit mitbekam.

Endlich kam die Reihe an Viktor und Tel.

»Wohin so eilig, Kleine?« Die Aufmerksamkeit der wachhabenden Soldaten hatte eine eindeutige Richtung eingeschlagen. »Wir sind doch viel lustiger als dein Kavalier!«

Viktor fasste automatisch an den Griff seines Schwertes, was die Soldaten mit einem Anfall schallenden Gelächters quittierten. Sie hatten offensichtlich die Absicht, sich auf verbale Annäherungsversuche zu beschränken, aber natürlich waren sie auch bereit, sich zu schlagen.

»Wehe, ihr beleidigt meine Schwester!«, rief Viktor, wobei er Tels Geschichte aufnahm. »Sie ist auf dem Weg zu den Magiern in Feros, um die Kraft zu erfassen!«

Augenblicklich machte sich ein gewisser Respekt auf den Gesichtern der Soldaten breit. Der Hauptmann der Wache, der einen mit Goldborte gesäumten Umhang trug, nickte einem Kameraden zu und sagte: »He, Rames, begleite die beiden bis zum Schloss des Fürsten!«

»Zu Befehl, Sergeant.« Ein groß gewachsener Mann mit einer Hakennase, der an einen Griechen oder Bulgaren erinnerte, deutete eine Verbeugung vor Tel an und sagte: »Und Ihr habt also die Kraft gespürt, Mädchen?«

»Und wie ich sie gespürt habe!«, rief Tel mit hitziger Stimme aus. Die Soldaten brachen in lautes Gewieher aus. Rames lächelte leicht, bewahrte aber seine ernste Haltung.

»Dann schätze ich mich glücklich, Ihr Begleiter sein zu dürfen ... zumindest in der ersten Zeit.«

Er blinzelte Viktor listig zu. Offenbar glaubte er, dass jeder Zivilist stolz darauf sein müsste, wenn seiner Schwester so viel Achtung entgegengebracht wurde.

Sie schritten durch enge, gepflasterte Gässchen auf das Zentrum der Stadt zu. Entgegen Viktors Erwartungen war es recht sauber auf den Straßen, und er bemerkte nichts von jenem Gestank, der nach Meinung der Historiker die mittelalterlichen Städte beherrscht haben sollte. Möglicherweise hatten die Untertanen des Clans der Erde ja eine richtige Kanalisation. Oder übernahm die Magie diese Aufgabe?

Als Viktor versuchte, sich eine magische Toilette vorzustellen, konnte er ein Kopfschütteln nicht unterdrücken. In der Mittelwelt war das möglich. Wenn die Magie in den Alltag eindrang, würde sie jede Menge weniger erhabene Anwendungsbereiche finden.

Im Übrigen war nirgendwo auch nur das kleinste bisschen Magie zu spüren. Es waren gewöhnliche Menschen unterwegs. Vielleicht waren sie etwas stämmiger und hatten breitere Gesichter als in anderen Städten. Es war unverkennbar, dass es den Vasallen der Erde gutging.

»Es ist nicht das Schlechteste, ein Magier zu sein«, sagte Rames mit hoher, melodischer Stimme. Er hatte einen leichten, aber deutlich hörbaren Akzent. »Übrigens ist es auch durchaus ehrenwert, nicht Magier zu sein. Vor allem für ein hübsches junges Mädchen ...«

Tel wurde rot und lächelte geschmeichelt wie ein naives Landkind.

»Als Magier verbringt man die besten Jahre beim langweiligen Studium in unterirdischen Tempeln und finsteren Höhlen«, fuhr Rames fort. »Magier sind so in ihre Bemühungen versunken, die Geheimnisse der Natur zu begreifen, dass sie nicht einmal bemerken, wenn sich eine wunderschöne rosa Knospe öffnet, wenn sie ihren Duft in der verhassten unterirdischen Finsternis verströmt. Und wenn die Kraft, die durch so viele Entbehrungen erfasst wurde, erstarkt, findet sie schon keine Anwendung mehr.«

»Aber ich will eine Magierin werden!«, rief Tel kapriziös aus. »Ich will, dass alle mich lieben und fürchten! Ich will in einem weißen Kleid und mit Brillanten geschmückt in einem offenen roten Wagen dahinjagen, und hinter mir soll ein Elfenjunge sitzen und mir die Haare kämmen!«

Rames seufzte und blickte Viktor an. »Was sagst du?«

»Na ja, wenn sie es will, warum nicht?«

»Ja, warum nicht«, stimmte der Gardist zu. »Und für die Verwandten ist es auch von Vorteil ...«

Viktor antwortete nicht auf diese Spitze. Schweigend erreichten sie das Schloss. Ein wenig düster und gedrungen

»Deine Schwester hat Glück«, erklärte Rames. »Vor ein paar Stunden ist Herr Andrzej[23] in der Stadt eingetroffen. Er ist das Oberhaupt des Erdclans und Magier ersten Ranges! Er sieht die Kraft überall und kann geradewegs in die Menschen hineinschauen; er wird euch sagen, ob es sich für euch lohnt, nach Feros zu ziehen ... Nun ja, hat mich gefreut, euch zu Diensten zu sein!«

Er knallte die Hacken zusammen, drehte sich um und ging davon.

Viktor fasste Tel an der Hand und hinderte sie am Weitergehen. »Wohin willst du, Dummerchen? Warum wollen wir uns in so eine Lage bringen?«

Die Plauderei zwischen Tel und dem Gardisten hatte so echt geklungen, dass Viktor begann, in Tel tatsächlich ein törichtes Mädchen zu sehen: eine rote Kutsche mit einem Elfenpagen also ... haha ...

»Es ist zu spät, um die Pläne zu ändern!« Tel riss ihre Hand los. »Na los, komm schon!«

Viktor folgte ihr auf die Tore zu, wobei er insgeheim die ganze Welt verfluchte, angefangen von den kaputten Sicherungen auf der Anderen Seite bis hin zu den elenden Drachen.

Wie sich herausstellte, wurde der Eingang ebenfalls von Gardisten bewacht. Nur saßen ihre Uniformen besser und waren sauberer, und sie selbst wirkten wie handverlesen, allesamt hoch gewachsen und mit feisten Gesichtern, wie Grenadiere Peters des Großen.

»Wir sind gekommen, um dem Fürsten unsere Aufwartung zu machen!«, sagte Tel laut. »Ich bin auf dem Weg nach

Von dieser Dreistigkeit rutschte Viktor das Herz in die Hose. Vermutlich würde er jetzt ohne Rücksichtnahme auf seine Rolle als machtloser Bruder doch die Kraft zu Hilfe rufen müssen ...

Aber entweder war ein derartiges Benehmen bei selbst ernannten Zauberschülern üblich, oder die Gardisten hatten keine Lust, sich in die Ränke der Zauberer einzumischen.

»Tretet ein«, sagte einer der Gardisten und rückte zur Seite, um sie durchzulassen.


Die Postkutsche wurde von zwei Brüdern gelenkt. Natürlich war es ihnen nicht gestattet, Mitreisende aufzunehmen. Aber wie hätten zwei ältere Männer darauf verzichten können, die am Straßenrand winkende Loj Iwer mitzunehmen?

Aber o weh, damit hatten sie sich nichts Gutes getan. Loj war ziemlich schlechter Laune.

Viktor und Tel hatten nicht am vereinbarten Ort auf sie gewartet! Gut, sie hatte sich verspätet, aber nur um eine Viertelstunde. Und die Spuren zeigten deutlich, dass das Mädchen vom Geheimen Clan seinen Schützling schon mindestens drei Stunden früher fortgeführt hatte.

Diese dreiste Ziege!

Viktor hätte sicher auf sie gewartet. Und sie hätte ihm erzählt, wie geschickt sie seine Feinde abgelenkt hatte. Und vielleicht hätte sie sogar erreicht, was sie wollte ...

»Schönes Mädchen, trinkst du ein Weinchen mit uns?« Der ältere Bruder hatte offenbar beschlossen, ein probates Mittel anzuwenden. Er förderte eine riesige, an die vier Liter

»Ach, warum nicht?«

Eingezwängt auf dem Kutschbock zwischen zwei schwitzenden, erregten Männern, stürzte Loj tapfer ein halbes Glas hinunter. Der Wein war süß und mit Schnaps verschnitten. Die Brüder tauschten freudige Blicke aus und machten sich ebenfalls über das Gebräu her.

Der ältere Bruder packte die Flasche und verkündete mit vielsagender Stimme: »Ich bin zuerst dran.« Loj hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

»Na gut«, stimmte der Jüngere ergeben zu.

»Trinken wir noch eins?«, schlug Loj vor.

Die Brüder strahlten. Sie malten sich die weiteren Ereignisse in den schönsten Farben aus. Denn ein so junges Mädchen würden sie sicher mühelos unter den Tisch trinken. Schon bald würde sie anfangen zu kichern und die scherzhaften Küsse und Umarmungen erwidern. Und dann würde der Ältere das benommene Mädchen mit beiden Armen unterfassen, ihr nach hinten in den Wagen helfen, dorthin, wo es ganz weich war von all den Postsäcken und den Stapeln von Menschen- und Gnomzeitungen, die sie in Feros an die verschiedenen Adressen verteilen mussten ...

»Was ist los mit euch, Jungs!«, wunderte sich Loj.

Die Brüder beeilten sich. Dass Loj richtig trank, war deutlich zu sehen. Und es war ja absolut undenkbar, dass so eine junge Frau mehr Wein trinken konnte als sie!

Die Brüder hielten fast eine Stunde lang mit. Dann fingen sie an, albern zu lachen, umarmten einander über den Kopf der sich vorbeugenden Loj hinweg und grölten Lieder. Loj zerrte einen Kutscher nach dem anderen nach hinten in

»He-jo!«, schrie sie, und die Peitsche pfiff über die beiden eingespannten Rappen hinweg. Tut mir leid, ihr Pferdchen, aber nun müsst ihr einen Schritt zulegen ...

Wenn die Pferde einen Sattel gewöhnt gewesen wären, hätte Loj sich lieber eines geschnappt und wäre Viktor hinterhergeritten. Aber mit eingespannten Tieren die Verfolgung aufzunehmen, wäre dumm gewesen.

»He-jo!«

Die Postkutsche jagte holpernd und schaukelnd den Weg entlang. Diese verflixte Tel, was die sich erlaubte! Wollte sie etwa alles selbst erfüllen, ohne freundschaftliche Hilfe? Reichten ihre Fertigkeiten dazu wirklich aus? Wäre sie zum Beispiel zu so einem Trick wie dem mit den beiden Kutschern in der Lage gewesen?


Der Tisch war an die zwanzig Meter lang, und es gab keinen einzigen freien Platz. Der Gardist, dessen Ärmel von hell glänzenden Offizierslitzen geschmückt waren, hatte Viktor und Tel in den Empfangssaal geführt und mit den Augen den Tisch abgesucht, ehe er den Soldaten an der Tür einen Befehl gab. Zwei betrunkene Gäste wurden von der Tafel fortgezogen, und ein kräftiges Mädchen räumte eilig das schmutzige Geschirr und die Gläser fort und wischte das Tischtuch mit ihrem Rockzipfel sauber.

»Setzt euch!«, forderte der Offizier sie auf und ging zum Kopfende des Tisches.

Die Beleuchtung war spärlich: rußende Fackeln an den Wänden und Kerzen auf den Tischen. Entweder pflegten die Vasallen der Erde keine freundschaftlichen Beziehungen zu den Gnomen, oder sie lagen zu weit abseits der »Eisernen«;

Dafür fühlte sich Viktor endlich wie in einer echt mittelalterlichen Umgebung.

Die Gäste, Männer, Frauen und sogar einige Kinder, schmatzten laut und verzehrten die zahlreichen Gerichte mit der Gier von Dickwänsten, die eine Diät unterbrochen hatten. Man speiste gegrillten Eber, und drei riesige Schüsseln mit abgenagten Knochen standen auf der langen Tafel. Außerdem gab es Fleischvorspeisen im Überfluss, Würste, Pasteten, Salate, aber es gab weder Fisch noch Geflügel; über diese kulinarische Demonstration ihrer Zugehörigkeit zum Erdclan musste Viktor unwillkürlich lächeln. Begossen wurde das riesige Durcheinander von gewaltigen Mengen Weiß-, Rot- und Roséweins.

Die Gobelins an den Wänden bildeten ebenfalls hauptsächlich Bankettszenen ab. Es gab allerdings auch einige Behänge, auf denen goldene Getreidefelder Ähren trieben, fette Viehherden weideten und lachende Jungfern Früchte von unvorstellbarer Größe ernteten; Weintrauben so groß wie Kinderfäuste, Äpfel wie Fußbälle. Sogleich fühlte sich Viktor an das große Mosaik in der Moskauer Metrostation WDNCh erinnert.

Viktor musterten die Leute mit neugierigen Blicken, während Tel kaum beachtet wurde. Das dünne, noch nicht ausgewachsene Mädchen war nicht nach dem Geschmack dieser Gesellschaft.

Der Gardist hatte sich zu den Ehrenplätzen vorgearbeitet. Dort saßen der Gastgeber des Banketts, ein stämmiger, älterer Mann, vermutlich eben jener Fürst, dem auch die Stadt gehörte, und ein schmächtiger, kahlköpfiger Mann, der in einen Umhang gehüllt war.

War das etwa der Magier der Erde? Ein Magier ersten Ranges?

Nein, sicher nicht, Unsinn, vermutlich war er der Fürst ...

Aber der Gardist beugte sich zum Ohr des Älteren und flüsterte ihm eilig etwas zu. Mit einem leisen Lächeln schüttelte der Fürst den Kopf. Er hob die Hand. Der Tisch verstummte augenblicklich, die vollgestopften Münder klappten zu, und die erhobenen Gläser verharrten bewegungslos in der Luft. In der Stille erklang ein hohles Geräusch; jemand schluckte mit heroischer Anstrengung einen riesigen Bissen hinunter.

»Wir haben Gäste«, sagte der Fürst wohlwollend. »Ein Mädchen mit Namen Tel hat die Kraft der Erdmagie in sich gespürt ...«

Der schmächtige Magier nickte wie ein Vogel mit dem Kopf und blickte Tel über den Tisch hinweg an.

»Sie ist auf dem Weg nach Feros. Aber sie hat uns mit ihrem Besuch beehrt, denn sie möchte ihre zukünftigen Vasallen kennenlernen ...«

Noch immer herrschte Stille.

Viktor spürte, wie ihm ein Faden kalten Schweißes über den Rücken lief.

Aber nein, es erhob sich kein dröhnendes Geschrei des Widerspruchs und auch kein spöttisches Gelächter, das ja um nichts weniger gefährlich wäre.

»Wie angenehm, eine zukünftige Kollegin zu treffen«, schnarrte der Magier. »Komm hierher, Mädchen.«

Tel nippte unerschütterlich von ihrem Weißwein, ehe sie sich erhob. Auch Viktor stand auf und ging hinter ihr her.

»Der junge Mann kann da bleiben ...«, warf der Magier ein.

»Ich bin für sie verantwortlich!«

Es wurden keine weiteren Einwände laut. Unter den zudringlichen Blicken von Hunderten von Augen traten sie zum Fürsten und zum Magier.

Aus der Nähe sah der Erdmagier abstoßend aus. Er hatte kalte, tote Augen. Seine Haut war gelbgrau, als hielte er sich permanent im Dunkeln auf. Es war verblüffend, wie das Oberhaupt eines Clans, dessen Magie einen solch lebensfrohen, wenn auch etwas primitiv anmutenden Menschenschlag um sich scharte, derart ausgemergelt aussehen konnte.

»Du kannst mich Herr Andrzej nennen, Mädchen«, schnarrte der Magier. Er heftete seinen Blick auf Tel und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich spüre keine Kraft in dir.«

Der Saal atmete hörbar auf. Und Viktor begriff schicksalsergeben, dass sie alles noch vor sich hatten, wütendes Geschrei, höhnisches Gelächter, vielleicht würde man sie auf dem Schlossplatz auspeitschen.

Und Zorn, feuriger Zorn begann sich in seiner Seele zu regen.

»Ich zeige meine Kraft nicht nach außen!«, antwortete Tel scharf.

»Das ist gut«, stimmte Andrzej ihr zu. »Aber mir kannst du sie zeigen. Du sollst sie mir sogar zeigen.«

In seiner Stimme klang Spott. Er machte sich lustig über Tel. Dieser gebeugte, kahlköpfige, die Augen kurzsichtig zusammenkneifende Magier versprach sich nichts von dem dummen, dreisten Mädchen. Er wahrte nur die Form.

Tel machte eine Geste mit der Hand. Viktor erhaschte einen Blick auf ihre Finger, die sich in einer komplizierten Bewegung verschränkten; dann sah es so aus, als ob Staub aus ihrer Faust aufstiege und augenblicklich die ganze Gestalt des Mädchens einhüllte.

Die Wand gegenüber von Tel begann zu erzittern und wurde von einer mächtigen Welle erfasst. Die Steine blähten sich auf, trockener Kalk rieselte herab, und die Gobelins rutschten zu Boden. Ein großer dreieckiger Schild löste sich von der Wand und fiel mit dumpfem Knall auf den Boden.

Herr Andrzej sprang auf.

Die Welle legte sich. Die Steine bebten noch, und für einen Augenblick kam es Viktor so vor, als würden in der Wand die undeutlichen Züge eines ungeheuerlichen, eckigen Körpers sichtbar ... Aber dann ließ Tel kraftlos die Hand sinken, und das Spektakel war vorbei.

Nur das glucksende Geräusch auslaufenden Weins aus einer umgestoßenen Flasche war zu vernehmen.

Der Magier der Erde, dessen glühende Augen den herumfliegenden Staub in Windeseile vertrieben hatten, starrte Tel durchdringend an.

»Mindestens zweiter Rang«, flüsterte er. »Mädchen ... wer ist dein Lehrer?«

»Niemand!«

»Du hast versucht, den Geist des Steins zu rufen! Weißt du das?«

Tel schlug die Augen nieder und blickte zu Boden. »Ich ... ich nenne ihn anders ... bei mir heißt er nur Steinchen ... Einmal, als ich noch klein war, da war mir langweilig, und ich war ganz allein zu Hause ... alle waren weg, alle, sogar Vite-e-k ...«

Sie sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Der Kontrast zu ihrer früheren Dreistigkeit war verblüffend; aber glücklicherweise standen alle noch unter dem Eindruck des Erdbebens, das sich hier eben beinahe ereignet hatte.

»Ich habe mir vorgestellt, dass ein Mensch in der Wand wohnt, aus Stein ... und dann fing ich an, mit ihm zu sprechen ...«

Andrzej strahlte, hob die Hand in die Höhe und sagte: »An diesen Moment werdet ihr noch denken, ihr alle! Vor euch steht eine große zukünftige Zauberin des Clans der Erde! Und sie ist meine Entdeckung!«

»Sie ist meine Beute«, äffte Viktor den Erdmagier nach und musste unwillkürlich an den Tiger Shir Khan denken. Aber der Magier war hoch zufrieden und nahm nichts und niemanden um sich herum wahr.

»Verbeugt euch!«

Die Menge der Gäste beugte sich einträchtig über den Tisch. Viktor bemerkte, dass es einem großen Bärtigen von imposanter Statur sogar in dieser Position noch gelang, mit dem Mund eine Scheibe Schinken zu erwischen und runterzuschlucken. Ganz von selbst stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.

Und das bemerkte der Magier. »Wer bist du?«

»Ich bin Tels Bruder. Ich heiße Viktor.«

»Gut. Du kannst nach Hause zurückkehren.«

Viktor schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss erst sicher sein, dass meine Schwester in zuverlässigen Händen ist.«

Der Magier warf wütend den Kopf nach hinten. »Was? Glaubst du mir nicht? Ich selbst werde ihr Lehrer sein!«

»Unsere Eltern haben mir aufgetragen«, erwiderte Viktor mit erhobener Stimme, »sie frühestens nach einem halben Jahr zurückzulassen!«

Tel hatte seine Hand gefasst und brachte mit ihrer ganzen Haltung zum Ausdruck, dass sie bereit war, auf ihren Bruder zu hören.

Andrzejs Gesicht hatte sich verfinstert, aber seine Stimme war ruhig. »Sie haben keine Ahnung, deine Eltern, junger Mann. Kein Magier würde einem anderen Magier Übles wollen!«

»Woher soll ich das wissen?« Viktor zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Erfahrung mit euch, mit den Magiern ...«

Der Fürst, der alles neugierig mit angesehen hatte, lächelte und sagte: »Hervorragend! Sieh nur, Andrzej, was für hohe moralische Grundsätze in meinem Land herrschen! Woher kommst du, Jüngling?«

Im Vergleich zum Fürsten konnte Viktor durchaus als Jüngling durchgehen.

»Aus Smirnowka«, platzte Viktor heraus. Wie er auf den Namen gekommen war, wusste er selbst nicht; entweder weil das russische Wort für »artig« darin steckte, oder von der allgemein bekannten Wodka-Sorte.

Der Fürst jedenfalls verstand es eindeutig. »Ihr seid aber nicht allzu artig ... ich verwöhne das Volk wohl, was?«

»Ja, Herr, Ihr verwöhnt es ...« Viktor neigte den Kopf.

»Setz dich her«, warf der Magier ein, der offenbar beschlossen hatte, ihn als unvermeidliches Übel zu betrachten. »Und du, du setzt dich neben mich, Tel ...« Sein Gesicht verzog sich zu einer zufriedenen Grimasse. »Was kannst du noch alles?«

»Na ja, ich kann gut kochen«, teilte ihm Tel eifrig mit, nachdem sie sich auf dem Sessel neben dem Magier niedergelassen hatte. »Und es heißt, dass ich gut ...«

»Nein!« Andrzej winkte ab. »Ich meine, was die Magie angeht!«

Das Volk im Bankettsaal interessierte sich nicht länger für Tels großes magisches Talent und auch nicht für Herrn

»Ach«, antwortete Tel ein wenig gelangweilt. »Ich kann Säfte der Erde aus ihrem Schoss ziehen, damit die nützlichen Pflanzen in die Höhe wachsen und all das Unkraut vergeht. Ich kann Wasseradern finden ... und auch Erze, ein bisschen ...«

Der Magier kniff die Augen zusammen und hörte Tel begeistert zu. Viktor nahm sich seufzend eine dicke Scheibe Fleisch aus der nächstbesten Schüssel und goss sich ein Glas Wein ein.

Wozu das alles, Tel? Wozu nur?

Da schlichen sie tagelang durch die Gegend, versteckten sich vor ihren Feinden. Ihr Leben war ständig in Gefahr. Und auf einmal ... dieser freche Auftritt hier, eine große Zaubervorführung ... Was wollte sie damit erreichen, diese Närrin?

Inzwischen hatte Tel alle ihre Fähigkeiten aufgezählt und lauschte mit gesenkten Augen Andrzejs wohlwollender Antwort.

»Werde nur nicht hochmütig deswegen«, unterbrach der Magier sich mit einem Mal selbst. »Ich bitte dich, kein Hochmut! Arbeit, Arbeit, Arbeit, heißt es jetzt! Und keine Kraft verschwenden!«

Der schweigsame Fürst mischte sich ebenfalls ins Gespräch: »Wenn du neue Beschwörungsformeln verfasst, so wende sie nicht gleich an. Überlege erst. Lass sie ein wenig reifen, zwei, am besten drei Jahre. Denn in letzter Zeit haben die Magier es so eilig, versuchen mit Tempo und Einsatz das zu erlangen, was anderen erst nach Jahren ernster geistiger Arbeit im Schweiße ihres Angesichts gegeben ward.«

Andrzej blickte den Fürsten beifällig an und nickte. Natürlich, das war doch seine eigene These, die er dem Fürsten

Diese Lehre nahm aus irgendeinem Grund damit ihren Anfang, dass der Magier Tel ein Glas randvoll mit Weißwein einschenkte und es ihr reichte.

Sicher, Viktor erinnerte sich noch genau, dass Tel ohne besondere Folgen mit ihm zusammen eine Flasche Wein geleert hatte! Dort am Flussufer, als er ihr von der blutigen Schlacht im Zug erzählt hatte ... Aber jetzt! Im Lager des Feindes?

Wozu?

Tel zog die Stirn in Falten und trank den Wein aus, ehe sie Andrzej mit glänzenden Augen ansah.

»Ach, wie schmeckt der gut! Kommt das von eurer Magie?«

So ein Unsinn ...

Viktor beschloss, sie sich austoben zu lassen. Das Serviermädchen hatte wieder frische Gedecke herangeschleppt, diesmal nicht aus Porzellan, sondern aus Silber. Irgendwoher war ein Stück vom gebratenen Eber aufgetaucht, das nach Rauch und Kräutern roch.

Wenigstens konnte man hier anständig essen!

Eine halbe Stunde lang war er ganz damit beschäftigt, die Gerichte auf dem reich gedeckten Tisch durchzuprobieren. Der leichte Rotwein trank sich wie Wasser, und Viktor fühlte sich kein bisschen betrunken. Er gab sich dem kulinarischen Fest mit ganzer Seele hin.

Tel hielt, wie es aussah, ebenfalls gut mit ...

Mehrere junge Diener liefen durch den Saal, um die abgebrannten Kerzen und Fackeln zu erneuern. Von irgendwoher hatte man eine Gruppe Musikanten mit Lauten, Harfen und Gitarren herbeigeholt. So merkwürdig es war, aber

Ohnehin hörte niemand zu. Unter dem Seufzen der Harfe und den Gitarrenklängen hatten auch die Bankettgäste unwillkürlich ihre Stimmen erhoben. Immer öfter ertönte Frauengelächter. Einige Paare begannen zu tanzen.

Auch Tel lachte, mit einer dünnen, zitternden Stimme. Sie sagte etwas, stockte, so als würde ihre Zunge ihr nicht mehr gehorchen. Viktor drehte sich um.

Der Magier Andrzej half Tel vom Tisch aufzustehen. Das Mädchen schwankte und lachte dabei unaufhörlich.

»Tel, es ist Zeit ...«, begann Viktor und unterbrach sich, als seine Augen den zornigen Blick des Erdmagiers trafen.

»Iss und trink, so viel du magst, lieber Gast!«, forderte Andrzej ihn mühsam beherrscht auf. »Such dir eine Freundin unter den Dienerinnen. Vergnüg dich und lass es dir gutgehen, deine Schwester steht unter meinem persönlichen Schutz!«

Tel, die an dem Magier hing, warf Viktor einen glasigen Blick zu und murmelte gedehnt: »Es-s is-s so lus-stig ...«

Viktor blieb der Bissen im Hals stecken, und der Wein hatte mit einem Mal jeden Geschmack verloren. Lustlos stocherte er im nächsten Gang herum, diesmal einem Teller mit zehn verschiedenen Sorten Fleisch in scharfer Sauce. Rings um ihn herum wurde geschmatzt und gerülpst; hicksend, nuschelnd und grölend erzählten sich die Gäste ihre Geschichten.

Der Fürst saß reglos auf seinem Thron und blickte wohlwollend auf seine Untertanen. Dann lächelte er Viktor freundlich zu.

Tel kreischte leise auf.

Viktor drehte sich um und sah gerade noch, wie der Magier seinen neckischen Arm zurückzog. Er und Tel tanzten, langsam durchquerten sie den Saal. Immer mehr Paare gesellten sich dazu und drängten sich auf der freien Fläche. Der Magier blickte über Tels Schulter zu Viktor hin und fletschte kurz die Zähne.

Setz dich, und rühr dich nicht ...

Sie verschwanden irgendwo im Dunkeln.

Viktor wandte sich heftig zum Fürsten um. Er blickte in nachsichtige, verständnisvolle Augen.

»Eure Durchlaucht, gestattet mir etwas zu sagen ...«

Der Fürst hob die Brauen und nickte.

»Eure Durchlaucht, für meine Schwester ist es Zeit, schlafen zu gehen.«

»Der Magier Andrzej wird sich um sie kümmern, Jüngling. Sei unbesorgt.«

Der Fürst war durch und durch gutmütig und wohlwollend.

»Fürst, die Magier sind sehr schwärmerisch veranlagt ... ihre Macht lässt sich nicht mit den schwachen menschlichen Kräften vergleichen. Ich glaube, Tel begreift nicht ganz, was vor sich geht.«

Der Fürst schüttelte den Kopf. »Jüngling, alle haben ihre Schwächen. Die großen Magier haben das Recht auf ein wenig Nachsicht ... von unserer Seite, von uns Sterblichen. Beunruhige dich nicht.«

Verzweifelt blickte Viktor über seine Schulter. Der Magier und Tel waren schon im hintersten unbeleuchteten Winkel

»Fürst!«

»Feier weiter!«

Viktor sprang auf, so dass der schwere Eichenstuhl nach hinten kippte, einem tanzenden Paar direkt vor die Füße. Verständnislos blickten ihn die Leute an.

»Ist dir dein Leben nicht lieb?«, fragte der Fürst. »Ich habe nicht die Absicht, einen dummen Untertan zu beschützen.«

»Und wirst du ihn daran hindern, seine Ehre zu verteidigen?«

Der Fürst öffnete die Arme. »Wenn deine Ehre dich in den Tod schickt ... So beruhige dich doch. Das Mädchen wusste, was es tut. Das habe ich in ihren Augen gesehen.«

Viktor drängte sich schweigend durch die tanzende Menge.

»Lasst ihn durch«, befahl der Fürst hinter ihm. »Er hat es selbst so gewollt ...«

Ganz recht, warum sollte der Fürst sein Ansehen mit dem Mord am Bruder einer zukünftigen Zauberin beschmutzen? Sollte doch der Magier mit ihm fertig werden ...

Die Leute blieben stehen und traten zur Seite. So seltsam es war, aber Viktor sah in vielen Augenpaaren Verständnis und Mitgefühl. Das hieß, dass die Leute mitbekommen hatten, was vor sich ging.

War diese kauende, schnaufende Masse tatsächlich dazu in der Lage, ihn zu verstehen? Ein Mann mittleren Alters, der in dunkelroten Farben gekleidet war, einen Brustharnisch trug und eine Schwertscheide am Gürtel, blieb vor ihm stehen. Er legte die Hand an den Schwertgriff und zog die Klinge halb heraus.

Was?

Viktor spürte, wie sich die Kraft der blinden Wut in ihm regte und zunahm. Die wichtigste Waffe des Drachentöters ...

»Dein Schwert ist ein armseliges Stück Stahl«, sagte der Ritter in Dunkelrot leise. »Nimm meines.«

Der Zorn legte sich, löste sich in Verständnislosigkeit auf, während Viktors Augen den festen Blick des Ritters trafen.

»Ich weiß, was das Wort Ehre bedeutet. Nimm mein Schwert.«

»Danke.« Viktor schüttelte den Kopf. »Meine Klinge reicht mir.«

Und jetzt vorwärts, in die dunkle Ecke des Saals, zu der fest verschlossenen Tür. Was war das überhaupt für eine Tür? Wohin führte sie? Was für Annehmlichkeiten konnte der Hausherr seinen Bankettgästen noch bieten? Was immer sich hinter dieser Tür befand, es war ausgeschlossen, sie mit der Schulter aufzudrücken, mit den Händen zu öffnen oder mit dem Schwert zu zerstören. Sie bestand aus dicken Holzdielen mit Eisenbeschlägen, die nur auf den ersten Blick zum Schmuck dienten; denn woher rührten die alten, dunkel gewordenen Kerben im Holz, und warum waren die Beschläge voller Kratzer, ganz so, als ob hier schon so mancher vor der Tür gestanden und in ohnmächtigem Zorn mit dem Schwert auf sie eingeschlagen hätte ...?

Hinter sich hörte er die Schritte der Tanzenden, scheinbar bewegten sie sich im Takt der Musik, aber er wusste, alle Augen blickten in seine Richtung, und keiner wollte auch nur einen Augenblick des bevorstehenden Schauspiels verpassen.

Ein schwacher Schrei ertönte hinter der Tür, oder war ihm das nur so vorgekommen? Ein schwacher Schrei, erstickt von einer Hand über dem Mund ...

Und der blutrote Hass, der auch in Viktors Seele wohnte, loderte wieder in einer blendenden Flamme auf; sprengte Lojs sorgsam gewirkte Fesseln und befreite die dienstbare Kraft aus seinem tiefsten Inneren.

Viktor schwang den Arm, und die Gobelins an den Wänden erzitterten; jämmerlich klirrend zersprangen die schmalen Glasfenster; Kerzen und Fackeln flackerten ein letztes Mal wild auf, ehe sie erloschen; Geschirr wurde von den Tischen gefegt - als die gehorsame Luft dem Ruf ihres Meisters folgte. Zusammengeballt zu einer fest geschlossenen, unsichtbaren Faust raste das Element durch den Saal, hielt - von Viktors Willen geleitet - eine Sekunde lang inne und stürzte dann auf die Tür nieder.

Holzsplitter und Metallstücke flogen durch den Raum. Der Rammsporn der Luft sprang zurück und umhüllte Viktor mit einem kochenden Schleier.

Ein Durchgang öffnete sich - in ein kleines Zimmer ohne Fenster. Drei Fackeln brannten an den Wänden, ihr Licht wurde von einer Spiegeldecke zurückgeworfen. Das Mobiliar bestand nur aus einem riesigen Bett, etwas anderes hätte auch kaum in dem schmalen steinernen Gelass Platz gefunden ... Ein großer Holzkübel mit Wasser stand auf dem bunten Teppich, Kleidungsstücke lagen verstreut umher. Der nackte und deshalb unerträglich lächerliche, ausgezehrte Magier Andrzej stand über Tel, drückte sie aufs Bett und versuchte, ihr den Rock runterzureißen. Tels Oberkörper war bereits entblößt, und sie versuchte mit schwacher Gegenwehr das Letzte zu verteidigen.

»Was?« Der Magier schrie auf und drehte sich nach dem Geräusch um. Er war zu sehr damit beschäftigt, die junge Zauberin ins Studium einzuführen, um zu bemerken, auf welche Weise die Tür geöffnet worden war. »Knecht!«

Er ließ Tel los und bewegte die Hände. In einer knappen Geste, wie einer, der Fliegen verscheuchte.

Die Decke erbebte, Steinbrocken fielen auf Viktor nieder. Die Hülle aus Luft, die ihn umgab, heulte auf, als die beiden magischen Wellen aufeinanderstießen. Die Steine wurden zu Staub zermalmt, der auf den Boden rieselte und dort kleine Sandhaufen hinterließ.

Im Saal erklang Geschrei. Dort hatten die Leute als Erste begriffen, dass hier nicht einfach jemand totgeschlagen werden würde.

»Fasst ihn!« Die Stimme des Fürsten durchdrang unerwartet laut und stark das Heulen und Schreien.

Ein Schlag von hinten hätte ihm gerade noch gefehlt! Viktor verlor die Beherrschung, der Zorn gellte, sein Körper war erfüllt vom Zittern. Zu Staub zertreten! Das Schloss bis auf seine Fundamente zertrümmern, bis zu den modrigen Kellern!

Er sah es nicht, denn wie sollte er es durch die Mauern sehen, aber er wusste, dass sich am Himmel über dem Städtchen rasende, brüllende Wolken türmten, dass die Fenster in den Häusern zersprangen, die zerbrochene Saat sich krümmte, dass es von den flammenden Blitzen taghell geworden war. Und dass sich die satten Vasallen der Erde in ihren Kellern versteckten und zu ihren Magiern beteten.

Zu Staub!

Ganz und gar!

»Du bist ein Magier«, winselte Andrzej. »Du ... du ...«

Die Finger zu einem Fächer ausgestreckt, begann er eilig Formeln zu flüstern. Ein gedehntes unterirdisches Donnern wälzte sich durchs Schloss. Der Boden erbebte. Die Wände krümmten sich, als ob im Innern der Steine unförmige Wesen herumkröchen.

Irgendetwas von unerhörter Kraft und Gewalt schien geboren zu werden. Er war tatsächlich stark, dieser Magier ersten Ranges. Potenziell sogar stärker als Ritor und Torn ...

Tel, die sich schnell ihre Bluse übergezogen hatte, drückte sich schluchzend aufs Bett.

»Ich befehle, ihn zu ergreifen!«, ertönte die Stimme des Fürsten erneut. Trappeln war zu hören, Soldaten mit gezückten Degen und angelegten Musketen rannten durch den Saal. Viktor begriff mit kalter Gleichgültigkeit, dass nun das Töten beginnen würde.

Und zwar richtig.

So, dass alle bisherigen Gefechte im Nachhinein wie eine armselige Parodie dieses Kampfes wirken würden. Als wollte man Sandkastenduelle mit der Schlacht von Stalingrad vergleichen.

»Nein, Fürst!«

Aus dem Augenwinkel sah Viktor, dass der Ritter in Dunkelrot das Schwert gezückt hatte, einen langen, blitzenden Streifen schwarzen Stahls.

»Er hat das Recht, ein Duell zu fordern, Fürst! Andrzej wusste, was er anrichtet!«

Und neben dem Ritter stellten sich immer mehr Bankettgäste auf und zückten ihre Schwerter. Wie war es nur möglich, dass diese völlende, Zoten reißende Menge sich für ihn starkmachte? Eine dichte Reihe Verteidiger trennte Viktor jetzt von den Gardisten, die verunsichert stehen geblieben waren.

Sein blindwütiger, blutiger Zorn legte sich. Verschwand mit einem jämmerlichen, lautlosen Aufjaulen.

Und in dieser Sekunde hätte man alles mit ihm machen können. Eine beliebige, schwächliche kleine Formel hätte ihn besiegt. Ein Schwerthieb, ein Fußtritt hätte ihn

Aber der Magier der Luft sprach noch immer seinen Zauber. Die Erde zitterte noch immer aus Angst vor dem, was geboren werden sollte. Aus den Steinwänden quollen Bluttropfen. Undeutliche Schatten blitzten in der Luft auf.

Andrzej wirkte und wirkte die endlose Kette seiner Formeln ...

Viktor machte einen Schritt vorwärts, packte den Wasserkübel und stülpte ihn dem Magier mit einem plötzlich aufflackernden Gefühl der Langeweile über den Kopf.

Der Magier schwankte und setzte sich auf den Boden. Das unterirdische Donnern verklang, ohne sich in einem vernichtenden Erdbeben Bahn zu brechen, die Wände hörten auf zu zittern. Nur das Vorgefühl der Kraft, dieser mächtigen, von den Wurzeln der Erde ausgehenden Kraft, war noch zu spüren ...

Viktor warf die Arme in die Luft und saugte die verlorengegangene Macht in sich auf. Von den eisigen Gletschern auf den bergigen Höhen bis zum heißen Inneren der Erde ... Die Grenzenlosigkeit der friedlichen Pole und die tödliche Kraft des Steinschlags ... Die Härte des Granits, das Strahlen der Diamanten, die Freigebigkeit der gebärenden Erde ...

Der Magier saß in der Wasserlache, bewegte kraftlos die dünnen Arme und begriff nicht, was passiert war. Wohin hatte sich die gewaltige Macht verflüchtigt?

Tel stand vom Bett auf. Vollkommen ruhig zog sie ihre Kleider zurecht und schlüpfte in ihre zerrissene weiße Jacke. Ihr Gesicht war nicht länger verweint, im Gegenteil, zufriedener Triumph stand darin geschrieben. Auch von der

»Wollen wir gehen, Viktor?«, fragte sie und ging um Andrzej herum. »Hier sind wir fertig.«

Na gut. Später. Sittenlehre und Erklärungen würden später folgen.

Sie traten auf die schweigende Reihe der Ritter zu. Viktors Augen trafen den Blick des Mannes in Dunkelrot. Der hob das Schwert und salutierte kurz.

»Ich werde nicht vergessen, was du getan hast«, sagte Viktor.

Der Ritter lächelte schwach. »Aber dein Schwert taugt doch nichts ...«

»Du kannst mit uns kommen.«

Der Ritter schüttelte den Kopf und schob das Schwert zurück in die Scheide. »Mein Platz ist hier, Herr.«

Der Fürst saß noch immer am Kopfende des Tisches. Offenbar beunruhigten ihn die Vorfälle kein bisschen. Wahrscheinlich fand er einen gewissen Gefallen an den Kämpfen der Magier.

»Danke für die Speisen«, sagte Viktor.

»Und für den Wein«, fügte Tel hinzu. »Er schmeckt ausgezeichnet.«

Die Leute wichen vor ihnen auseinander. Die Gardisten stellten sich nach einem Blick zum Fürsten an der Wand auf, und man konnte hören, wie irgendwo im Saal bereits wieder ein Glas gefüllt wurde. Das Serviermädchen machte sich im Schlafzimmer zu schaffen, wo der Magier noch immer in der Pfütze saß.

Mit einem Mal gingen die Flügeltüren des Saals auf, und ein dümmlich lächelnder, irgendwie benebelt wirkender Gardist führte eine junge Frau über die Schwelle.

»Lady Loj Iwer ...«

Das Oberhaupt des Katzenclans schubste seinen Begleiter zur Seite und musterte mit schmalen Augen den Saal. Sie nickte Viktor zu. »Auf den Hof hinaus, schnell!«

»Es ist alles in Ordnung, Loj.« Viktor wunderte sich nicht über ihr Erscheinen. Die Zauberin gehörte nicht zu der Sorte Frauen, die man leicht abschütteln konnte, da hatte Tel Recht ...

»Ritor hat dich aufgespürt, du Dummkopf! Du weißt doch selbst, was für Kräfte du zu Hilfe gerufen hast, oder?«

Loj fasste mit einer Hand Viktor und mit der anderen Tel und zog sie zur Treppe. Sie schimpfte im Laufen und blickte die entgegenkommenden Wachen so böse an, dass diese sich sogleich aus dem Staub machten.

»Ich habe eine Kutsche gemietet ... mit guten Pferden. Die fürstlichen Stallknechte machen sie gerade reisefertig. Wir müssen uns beeilen, Viktor!«

»Warum bist du so verärgert, Loj?«, rief Tel, während sie versuchte, ihre zerrissene Jacke zuzuhalten.

»Ach, so ist das Leben!«, antwortete Loj hitzig. »Mach dir keine Sorgen, das hat nichts mit dir zu tun.«

Sie blieb eine Sekunde lang stehen, fasste Tel am Kinn und blickte ihr in die Augen.

»Ein schlaues Kind bist du«, sagte sie wohlwollend. »Trotz allem ein sehr schlaues Kind.«

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