17

»Siehst du, wie günstig sich alles ergeben hat?« In dem von Loj geborgten Spiegelchen betrachtete Tel besorgt eine Schramme auf ihrer Wange. Die Kratzer von den Krallen der Zauberin, die seit der ersten Begegnung der beiden Frauen dort prangten, wollten einfach nicht heilen. Und selbst Loj vermochte nichts daran zu ändern.

»Ja, das war nicht schlecht«, musste Viktor notgedrungen zugeben. Der ganze Kampf mit Andrzej kam ihm im Nachhinein wie eine harmlose Begebenheit vor, die sich ausgezeichnet zur Anekdote eignete. Er wollte Tel keine Vorwürfe machen wegen der Provokation. Schließlich hat der Sieger bekanntermaßen immer Recht. Sogar Loj betrachtete Tel jetzt mit deutlich mehr Respekt.

Loj Iwer - das Oberhaupt der Katzen - war, da gab es keinen Zweifel, eine clevere Frau. Sie verfolgte ein bestimmtes Ziel, aber es war nicht klar, worum es ihr ging. Und sie war schön, mhmhm, ja ... Viktor wurde sogar schwindelig vor Augen, obgleich er jetzt wirklich andere Sorgen hatte. Er sollte nicht daran denken, aber er tat es immer wieder ...

Die Kutsche des Fürsten war ihnen nicht lange von Nutzen. Die von Loj bezauberten Stallknechte hatten ihnen keine robuste Reisekutsche gegeben, sondern ein mit Quasten

»Hier bleiben wir bis morgen ... Viktor.« Jedes Mal, ehe Loj seinen Namen aussprach, machte sie eine kleine, vielsagende Pause. »Die Magier der Luft haben wir im Augenblick abgehängt, und außerdem werden sie kaum an einer so offenen Stelle angreifen. In Oros sieht das dann natürlich wieder anders aus ... Beim Clan der Erde herrscht jetzt ein schrecklicher Aufruhr, aber vorerst sind sie noch damit beschäftigt, die Verfolgung zu organisieren! Und später könnte ich sie wahrscheinlich um den Finger wickeln. Wir werden so lange wie möglich durchhalten ... und dann denke ich mir schon was aus.«

Tel hörte sich alles an und sah dabei wieder wie ein schmollendes kleines Mädchen aus. Aber sie war klug genug, sich jede Stichelei zu verkneifen, denn immerhin hatte Iwer ihnen geholfen, Ritors Falle zu umgehen, und auch jetzt war sie genau rechtzeitig mit ihrer Kutsche aufgetaucht.

»Und was machen wir morgen?«, erkundigte sich Viktor.

»Wir gehen zum Clan des Feuers, nach Oros«, antwortete Tel widerwillig. »Loj Iwer, wie lange ...«

»Vielleicht kann ich euch ja noch mal nützlich sein, Tel? Wer weiß, was euch dort erwartet.«

»Warte, Tel«, mischte Viktor sich ein. »Warum muss ich unbedingt zum Clan des Feuers?«

»Weil ...« Es war offensichtlich, dass Tel ihm nur ungern antwortete, und erst recht in Lojs Gegenwart. »Weil du lernen musst, deine Kraft zu lenken. Und das kann nur, wer die Weihen aller Elementaren Clans durchläuft. Traditionell

»Und was muss er dann tun, meine verehrte Tel?«, murmelte Iwer.

»Was er will«, antwortete das Mädchen scharf. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und was hast du vor, Loj Iwer?«

»Euch im Rahmen meiner schwachen Möglichkeiten zu helfen«, erwiderte die Katze, ohne zu zögern. »Euer Ziel liegt sowieso auf meinem Weg. Jedenfalls wenn du, verehrte Tel, mir die Wahrheit gesagt hast.«

Das Mädchen schnaubte nur.

Es wurde still.

Was war so schlecht daran, die Kraft zu beherrschen?, fragte sich Viktor. Wenn er der Drachentöter sein sollte, nun gut, dann war das eben sein Schicksal ... Schließlich hatte er sich heute nicht seinem Hass überlassen, hatte ihn nicht in eine alles vernichtende Macht verwandelt und das Städtchen des Erdclans nicht zerstört. Dabei wäre er dazu in der Lage gewesen - ganz sicher!

Dennoch, tief in seinem Inneren ertönte eine weitere Stimme und verschaffte sich Gehör.

»Es gibt noch eine dritte Welt«, vernahm Viktor eine weiche Stimme. »Du hast sie gesehen ... ein wenig von ihr ... in deinen Träumen. Auch dort lässt sich eine würdevolle Beschäftigung finden. Warum nicht dahin gehen? Sollen doch diese verrückten Magier untereinander ausmachen, wen sie brauchen und wen nicht. Dorthin führt für sie kein Weg. Das ist eine Tatsache.«

Er erinnerte sich an den Fresssack. Irgendetwas sehr Bedeutsames hatte ihm dieser nicht sonderlich angenehme Typ erklären wollen. Was hatte Loj noch mal gesagt? Die

Daran wollte er gerne glauben.

Aber eines war klar, wenn er seine Verfolger abschütteln könnte, dann würde er eine Freiheit erlangen, von der er bei sich zu Hause, auf der Anderen Seite, nur träumen konnte. Ganz gleich, selbst wenn das alles nur ein kranker Wahnsinn war und er in Wirklichkeit schon lange in die Kaschtschenko-Klinik[24] eingeliefert worden war, für diese Form des Wahnsinns wäre er bereit, für immer auf seine »Wirklichkeit« zu verzichten ... genau wie der Rollenspieler Kolja vom Frachtkahn.

»Tel, werde ich zum Drachentöter?« Viktor wollte nicht länger drumherumreden. »Wenn ich die Weihen hinter mich gebracht habe?«

Dieses Wort hatte etwas Abscheuliches. Drachentöter ... Mörder ... Henker ... Killer ... Assassine.

Das Mädchen wich seinem Blick aus.

»Du sollst dieses Wort nicht laut aussprechen, Viktor. Gib dem, was noch nicht stattgefunden hat, keinen Namen.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.

Loj lauschte eifersüchtig.

»Was kann ich tun?«

»Du selbst bleiben.« Tels Lippen formten die kaum hörbaren Worte. »Alles andere ist Schicksal.«

»Und was ist mit diesen Angeborenen? Was sind das überhaupt für Leute? Ich habe geträumt ... aber undeutlich und wirr ...«

Sowohl Loj als auch Tel senkten die Blicke.

»Das ist unser Fluch, Viktor«, sagte Loj schließlich. »Es ist so, dass wir alle - alle Clans, die hier in der Mittelwelt

»Lange beschützten uns die Drachen. Die Geflügelten Herrscher der Mittelwelt«, ergänzte Tel überraschend.

»Das heißt, dass die Drachen gut sind?«, wunderte sich Viktor.

»Gut?«, empörte sich Loj. »Seit wann das! Sie herrschten mit eiserner Faust nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gab immer nur ein Urteil! Du weißt schon, welches ... Sie wollten alles wissen und alles bestimmen. Sie mischten sich in alles ein ... Und duldeten keinen Widerspruch. Andererseits waren sie schön und stark ...«

»Sie waren weder gut noch schlecht, Viktor«, sagte Tel mit leiser Stimme. Sie presste ihre Knie an die Brust und legte ihr Kinn darauf. »Sie existierten einfach. Und jetzt sind sie nicht mehr. Weil ...«

»Weil die Clans ihre Tyrannei am Ende satthatten«, mischte sich Loj nun wieder ein. »Ihre Tyrannei und Despotie, ganz gleich, was man dir erzählt, nur so kann man ihre

»Warum tötete er sie dann nicht? Warum ließ er sie am Leben? Wenn er sie doch so sehr hasste?«

»Ich weiß es nicht.« Tel zuckte mit den Schultern.

»Grundsätzlich ist es das Privileg des Geheimen Clans, zwischen den Welten hin und her zu wechseln.« Loj lächelte schlau.

»Und was habt ihr sonst noch für Privilegien? Und was ist das Besondere an euch?« Viktor beschloss, es nicht länger hinzunehmen, dass das Mädchen sich in Schweigen hüllte.

»Erzähl es ihm schon, Tel«, schmunzelte Loj zufrieden. »Wenn du was vergisst, helfe ich dir auf die Sprünge.«

Das Mädchen warf ihr einen wütenden und misstrauischen Blick zu.

»Der Geheime Clan gehört zu den Elementaren ... halt, nein, so nicht. Den Kräften nach sind wir den Elementaren ebenbürtig, aber wir sind nicht an einen der vier Urgründe, an Feuer, Wasser, Luft oder Erde, gebunden. Wir haben unsere Existenz nie zur Schau gestellt. Und wir waren niemals an den kleinen Streitereien beteiligt.«

»Ja, ja, ihr habt immer nur bei den großen Angelegenheiten mitgemischt«, schnaubte Loj. In ihrer Stimme schien eine uralte Gekränktheit mitzuschwingen.

»Neid ist kein guter Zug«, sagte Tel mit schulmeisterlicher Stimme. »Ich habe die Ordnung unserer Welt nicht erdacht, Iwer. Ich hoffe, du bist klug genug, das zu begreifen.«

»Seid friedlich!«, flehte Viktor. »Tel, wozu die ganze Geschichte? Wozu braucht der Geheime Clan den Drachentöter?«

»Genau«, unterstützte Loj ihn erbarmungslos. »Na los, Tel, warum schweigst du? Oho, wirst du etwa rot?«

»Wenn die Angeborenen ihren eigenen Drachen erschaffen ...«, flüsterte Tel.

Loj Iwer blickte das Mädchen einige Sekunden durchdringend an, während sie lautlos die Lippen bewegte.

»Vielleicht würde es an meiner Stelle ebenso gut eine Flak tun«, sagte Viktor verbittert.

»Was würde es an deiner Stelle auch tun?« Tel war verwirrt, und auch Loj zog ihre reizvoll gebogenen Augenbrauen überrascht nach oben.

»Eine Fliegerabwehrkanone. So ein Ding, das Raketen und Flugzeuge vom Himmel holt. Ich schätze mal, dass ein Drache nicht viel anders ist, oder? Sie rechnen seine Position aus und feuern ihm ein paar Raketen in den Ranzen ...«

»Hör auf, Viktor!« Es klang wie eine Ohrfeige. Tel war rot geworden und sprang auf die Beine. »Du bist nicht meine Waffe! Du bist überhaupt keine Waffe! Du bist von ganz allein - Kraft! Aber du musst den vorgezeichneten Weg beschreiten, sonst ...«

»Aber warum jagt Ritor mich? Warum will er mich töten?«

»Weil er auf die Ankunft des Drachen wartet.« Tels Flüstern war kaum zu verstehen, wie ein entferntes Rascheln des Windes, wie das Rascheln des Windes in einer wallenden goldenen Mähne ...

»Ja, und?«

»Du ... er denkt, dass du ...«

»Und bin ich das etwa nicht?«, stieß Viktor hervor und spürte, wie sich eine schreckliche Kälte in ihm breitmachte.

»Noch nicht!«, sagte Tel scharf und hartnäckig. »Dir steht noch eine letzte Weihe bevor. Beim Feuer. Und danach die Insel.«

»Die Insel?« Auf Lojs schönem Gesicht zeichnete sich Angst ab. »Die Dracheninsel im Heißen Meer, gleich neben der Bruchstelle der Welten?«

»Ja.« Tel hielt ihrem Blick stand. »Die Weihen werden vom Hüter der Insel vollendet.«

»Bei allen Großen Kräften«, murmelte Loj, ohne sich für ihre Furcht zu schämen. »Tel, und wenn du dich doch irrst, dann bedeutet das den sicheren Tod ... für dich und für ihn.«

»Ja. Wenn er nicht standhält. Aber Viktor wird standhalten«, sagte Tel mit eiserner Überzeugung wie ein Frauchen, das seinen Hund lobte.

»Und was wartet dort auf mich - noch ein Kampf?«, fragte Viktor verzagt. Nach den Zusammenstößen auf dem Bahnhof, auf der Brücke, im Zug und im Schloss beim Vasallen der Erde widerte Viktor allein der Gedanke daran an.

»Ich weiß es nicht«, bekannte Tel. »Ich bin noch nie dort gewesen. Ich kenne nur den Weg. Ich kann die Tür öffnen. Alles Weitere musst du alleine herausfinden.«

»Und was?«

»Was dann? Du wirst ... vollendet.«

»Nein«, sagte Viktor hartnäckig. »Wer werde ich sein?«

»Der Drachentöter«, antwortete Tel mit monotoner Stimme, als betete sie eine auswendig gelernte Lektion herunter, »ist die Quintessenz dessen, was man unter dem Wort Vernichtung versteht. Es bedeutet die Fähigkeit, alles, was einen umgibt, zum eigenen Nutzen zu verwandeln. Unabhängig

Viktor schloss die Augen. Ja, genau so war es am Bahnhof von Chorsk gewesen.

Und um ein Haar auch im Schloss, nur mit viel größerer Wucht.

»Der Drachentöter ist fähig zu hassen. Er hasst stärker als jedes andere Wesen der Mittelwelt. Sein Hass ist seine Waffe. Er verschmilzt ganz und gar mit diesem Hass, und das, Viktor, bedeutet, dass er jeder Magie überlegen ist. Darum vermochte Ritor den Sieg davonzutragen. Niemals, nicht mal im schlimmsten unserer inneren Kriege, haben wir einander so stark gehasst, wie der Drachentöter hasst. Dem Wesen nach ist er die Verkörperung des Hasses.«

»Steht es so in den Büchern geschrieben, Tel?«, fragte Loj mit leiser Stimme. »Oder spürst du das von dir aus?«

Das Mädchen strich sich mit der Hand über die Stirn. Biss sich auf die Lippe.

»Es gibt keine Bücher, Loj Iwer. Kein Mensch weiß ganz genau, wie man zum Drachentöter wird. Ritor war der letzte. Nur er weiß es. Vermutlich hängt es vom Wunsch ab ... dem innersten, tief verborgenen Wunsch des Menschen. Ritor selbst hat niemanden durch die Geflügelten Herrscher verloren, aber er träumte immer von der Freiheit der Clans, dieser Ritor.« Tel lachte hart. »Und jetzt ... hat er sie endlich.«

»Und was willst du, Tel? Du hast mich doch hergeführt.«

»Nein! Viktor, nein!« Tel verschränkte die Arme. »Du bist von selbst gekommen. Die Andere Seite hat dich verstoßen. Du bist dort ein Fremder, sonst hättest du nicht einmal die erste Weihe überlebt. Sonst hätten dich schon die Räu... die Wächter der Grauen Grenze getötet. Oder Gotors Wassermonster.

»Und wer hat uns am Anfang überfallen? Am Übergang?«

»Torns Leute.«

»Warum hätten sie das tun sollen, wenn ich der Drachentöter bin?«

»Sie konnten doch nicht sicher sein. Torn hat den Drachentöter gerufen ... aber er hat keinen Augenblick damit gerechnet, dass ich an seiner Seite auftauchen würde. Und seine Wächter rissen sich von der Kette los. Erst jetzt ist Torn bereit, dir jedes Stäubchen von der Jacke zu pusten.«

Loj konnte nicht verhindern, dass ihre Brauen sich wieder skeptisch hoben, aber zum Glück bemerkte es keiner.

»Na gut.« Viktor gab auf. »Die Runde geht an dich, Tel.«

»Warum?«

Viktor lachte unbehaglich. Sie hatte Recht, worin bestand denn eigentlich ihr Sieg? Dieses Mädchen hatte wirklich immer das letzte Wort.

»Wir sollten uns jetzt ausruhen, der letzte Tagesmarsch führt über den Pass, ans Ufer, nach Oros. Und dann zur Insel.«

Loj spielte nervös mit den Fingern. Es schien, als ob das Gespräch sie nicht mehr länger beschäftigte. Sie dachte über etwas anderes nach. Die Frau wusste offenbar mehr als das, was soeben enthüllt worden war, aber sie hatte es nicht eilig, damit herauszurücken.

Auch gut, dachte Viktor. Sollte sie schweigen. So war es ohnehin besser. Dann eben die Dracheninsel. Es war nicht wichtig, ob er krank war oder nicht, ob er am Ende hier starb oder in einem Krankenhauszimmer aufwachte, wo ein Sanitäter mit einer Spritze vor ihm stand, so wie Kolja, der Kapitän, es immer befürchtet hatte. Solange er hier war,

»Sag mal, Tel, gibt es viele von euch? Ich meine, seid ihr viele im Geheimen Clan?« Tel blickte ihn schräg von der Seite an und antwortete nicht.

»Das weiß keiner, Viktor«, sagte Iwer mit nervösem Kichern. »Der Geheime Clan galt als ausgestorben. Aber dann erwies es sich, dass dem nicht so ist. Mir gefällt es überhaupt nicht, dass dein Mädchen so eine Geheimnistuerei veranstaltet! Und dir?« Sie blickte ihn mit unverhüllter Aufforderung an.

»Wenn Tel schweigt, dann muss das so sein«, beendete Viktor die Unterhaltung mit scharfem Ton. Was erlaubte sich diese Katze? Warum mischte sie sich ein? Wut stieg schäumend in ihm auf und brachte das Fass beinahe zum Überlaufen, ihr Widerschein trat in seine Augen - und die Frau hielt augenblicklich inne, warf sogar zum Schutz gegen etwas Unsichtbares die Hände nach oben.

»Es tut mir leid ... Viktor«, sagte Loj versöhnlich. »Ich würde nur gerne wissen, wohin ihr als Nächstes geht.«

»Eine seltsame Frage«, prustete Tel. »Ich habe es dir doch schon gesagt, zum Clan des Feuers!«

»Und wenn sie Viktor den einzigen Weg nach Oros abschneiden? Was werdet ihr dann tun?«, erkundigte sich Loj mit schmeichlerischer Stimme. »Ohne mich? Nun? Werdet ihr kämpfen? Ihr könnt sicher sein, meine Lieben, dass Ritor diesmal eine ganze Armee gegen euch aufbieten wird. Unter anderem auch ein ordentliches Aufgebot vom Clan

»Wir brauchen dich nicht, Loj Iwer!«, stieß Tel eilig hervor. »Das heißt ... wir sind dir natürlich sehr dankbar für deine Hilfe, aber ...«

Was nun folgte, wäre einer Shakespeare’schen Tragödie würdig gewesen. Loj weinte. Loj klagte bitter über die Undankbarkeit der Menschen. Loj verfluchte sich selbst für ihre Naivität. Loj schwor, dass sie nie mehr, für kein Geld der Welt irgendjemandem helfen würde.

Tel beobachtete das alles mit kalter, teilnahmsloser Neugier. Viktor hielt sich raus. Nach seinen Erfahrungen beim Clan der Erde war er endgültig davon überzeugt, dass es möglich war, die Kraft zu lenken. Wahrscheinlich musste er nicht einmal einen direkten Zusammenstoß mit Ritor fürchten. Zumindest wäre ein solcher Kampf für ihn nicht aussichtslos. Und er ... ja, insgeheim wünschte er sich sogar ein Duell. Die Versuchung war groß.

Aber woher kannte er diesen Ritor? Wieso erinnerte er sich sogar in allen Einzelheiten an sein Gesicht? Vielleicht war ein Duell von Angesicht zu Angesicht ja genau das, was nötig war; ein Kampf von Mann zu Mann, damit alles entschieden wäre - schnell und klar ...

Endlich beruhigte sich Loj.

»Das heißt, ihr wollt mich hier zurücklassen? Hier? Vor uns warten Ritor und seine Gefährten vom Feuer, und hinter

»Denk dir was aus«, sagte Tel gleichgültig. »Wenn es nötig ist, schläfst du eben mit dem einen oder anderen, und schon ist alles in bester Ordnung. Tu nicht so, als ob es das erste Mal wäre.«

»Tel«, sagte Viktor scharf. »Loj kommt mit uns. Sie hat Recht.«

Das Mädchen zog eine Grimasse, aber dann sah es Viktor an, schwieg und zuckte mit den Schultern.


Der Weg stieg immer steiler bergan. Der Clan des Feuers hütete eifersüchtig seine Geheimnisse ... oder seine Magier liebten schlicht und einfach die Abgeschiedenheit. Sie hatten sorgsam alle anderen Wege, die über die Alten Berge zu ihrer geschützten Bucht mit dem Leuchtturm führten, zerstört. Die einzige Trasse verlief durch einen überschatteten Pass, der an beiden Seiten von beinahe senkrecht aufragenden Felswänden begrenzt wurde. Krumme junge Kiefern drückten sich in die steilen Hänge und wurzelten an den steinernen Vorsprüngen - es war eine Gegend, die stark an die Krim erinnerte. Die Luft war ungeachtet der herbstlichen Jahreszeit trocken und warm. Bald begannen die Wanderer zu schwitzen.

»Hinauf in die Berge benötigen wir einen Tag«, sagte Tel und keuchte kaum merklich. »Und für den Abstieg noch einen. Wenn alles gutgeht, holen sie uns nicht ein. Ritor

Viktor zuckte nur mit den Schultern. Manchmal machte ihn Tels schulmeisterlicher Ton richtig wütend. Dann hatte er größte Lust, Loj zuzublinzeln und sie ... in die Schulter zu beißen und ...

Die Trasse nach Oros war im Grunde genommen eine Sackgasse, aber die fürsorglichen Oberhäupter des Clans hatten einen Anlegehafen in ihrer Bucht gebaut, und deshalb gab es ausreichend Fuhrwerke, manche leer, andere mit Waren beladen, die sie umsonst oder für kleines Geld ein Stück mitnahmen.

Abends lagerten die drei Wanderer direkt am Wegesrand, weit entfernt von anderen Reisenden. Es war ziemlich kalt, und keiner von ihnen konnte einschlafen, denn Tel hatte es kategorisch abgelehnt, dass Viktor seine Kraft einsetzte. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als eng zusammenzurücken. Tel rollte sich zu einem Knäuel zusammen und atmete tief ein und aus. Loj schien nicht die Absicht zu haben, überhaupt zu schlafen, und nutzte die Notwendigkeit zusammenzurücken schamlos aus.

»Was für eine Nacht«, vernahm Viktor ihr schnurrendes, warmes Flüstern. »Was ist das heute für eine wundervolle Nacht ...«

Scharfe Krallen kitzelten Viktor spielerisch unter dem Kinn. Loj wusste, oh, sie wusste ganz genau, wie sie vorgehen musste, dass dem neben ihr liegenden Mann die -

»Loj, lass das ...«

»Warum?« Er spürte ihren Atem an seinem Ohr. »Willst du mich denn nicht?«

»Gerade weil ich dich will, ist es nicht richtig, es am Wegesrand zu tun«, antwortete Viktor mit einem Gott weiß woher geliehenen Zitat.

»Genierst du dich vor Tel? Komm, dann nehmen wir sie dazu«, raunte Loj. »Das wird lustig ...«

»Nein, wirklich!«, empörte sich Viktor. »Es reicht, Loj!«

Die Zauberin rückte beleidigt von ihm ab. »Pass nur auf, das wirst du noch bereuen.«

»Da bin ich ganz sicher«, brummte Viktor. Aber sein Körper war mit dieser ernunftgesteuerten Entscheidung ganz und gar nicht einverstanden. Eine geschlagene Stunde wälzte er sich ruhelos herum und lauschte dem Atemfluss der schlafenden Frauen. Dabei wusste er ganz genau, dass Loj bei der leisesten Berührung reagieren würde, sie würde freudig und geschickt reagieren, mit ausgelassenem Eifer und der ungeheueren Erfahrung ... von Jahrhunderten, wenn man Tel glauben durfte.

Und genau dieser Gedanke half ihm endlich dabei, sich zu entspannen.

Und sogleich überkam ihn der Schlaf. Und der altbekannte Traum.

Viktor knirschte sogar mit den Zähnen, als er begriff, dass sich unter seinen Füßen wieder der vertraute, blendend weiße Sand befand, sich über ihm der Himmel wie ein matt flimmernder Schleier spannte und neben ihm die schwarzen Wellen plätscherten.

»Du Schwein!«

Er drehte sich um sich selbst und suchte nach dem Fresssack.

»Ich gehe nirgendwohin, hörst du? Ich brauche deine Geheimnisse nicht! Von mir aus kannst du hier verfaulen!«

Die abgebrannte Ruine des Laboratoriums war schon von Gras und Moos überwuchert. Der violette Wald zitterte unter den Windstößen. Und weit, weit entfernt, am Fuße der Berge, erhoben sich weiße Rauchwolken.

»Ich gehe da nicht hin!«, schrie Viktor wieder. Dabei begriff er schon, dass er keine andere Wahl hatte und genau das tun würde; und dass er dort wieder etwas beklemmend Unangenehmes zu sehen bekommen würde, etwas absolut Ekelerregendes ...

»Miau ...«

Er drehte sich um und sah, wie am Saum der Brandung, mit weichen Sprüngen den heranrollenden Wellen ausweichend, eine rote Katze auf ihn zustolzierte. Vermutlich eben jene, die ihn in der zerstörten Stadt beobachtet hatte.

Seine Mutmaßung schien völlig unsinnig.

Viktor hockte sich auf die Knie und streckte die Hand aus. »Bist du zufällig da, Mieze ...«

Die Katze setzte sich und begann sich zu putzen. Ihre blauen Augen blickten spöttisch zu Viktor herüber.

»Sei friedlich!«, vernahm er eine Stimme aus dem Wald. Durch das Riedgras kam, stolpernd und jammernd, der Fresssack gelaufen. »Was ist das für eine Dreistigkeit ... er muss doch wandern und wandern ... kusch ... verfluchte Katze! Kusch!«

Die Katze wandte ihren spöttischen Blick jetzt zum Fresssack, dann spannte sie die Muskeln und sprang Viktor auf die Brust. Sie miaute ihm ins Gesicht und berührte seine Wange mit ihrer warmen Pfote ...

Viktor öffnete die Augen. Über ihm spannte sich der Sternenhimmel, und davor erblickte er einen Frauenkopf mit langen offenen Haaren. Loj verschloss ihm mit einem Kuss den Mund und antwortete auf die nicht gestellte Frage.

»Du hast im Schlaf geschrien, du hast schlecht geträumt ... Entspann dich, Viktor, entspann dich ...«

Die Innenfläche ihrer Hand glitt über seine Wange.

»Unrasiert ...«, sagte Loj zärtlich und leise. »Hab keine Angst, der Traum ist vorüber. Wir Katzen verstehen uns darauf, böse Träume zu verjagen.«

»Danke«, antwortete Viktor ebenfalls leise.

»Und deine Freundin«, sagte Loj mit plötzlichem Spott, »ist nicht einmal aufgewacht!«

»Sie ist ein kleines erschöpftes Mädchen ...«

»Ach so«, stimmte ihm die Zauberin ohne jede Überzeugung zu. »Ein kleines Mädchen ... eine Zauberin des Geheimen Clans ... Aber ich, ich bin eine erwachsene Frau ...«

Sie atmete direkt neben Viktors Ohr ein und aus.

»Diese Mistgöre hat bestimmt allerhand Gemeinheiten über mich erzählt, oder? Dass ich zweihundert Jahre alt bin und mit allen Männern, denen ich je begegnet bin, geschlafen habe?«

»Nicht ganz ...«

Viktor wusste nicht, wie ihm geschah. Loj presste sich bereits mit ihrem ganzen Körper an ihn.

»Immerzu lügt sie!«, schnaubte Loj wütend. »Ich bin nicht zweihundert Jahre alt ... sondern viel jünger. Und ich werfe mich ganz bestimmt nicht jedem Erstbesten an den Hals.«

Sie zögerte etwas, ehe sie hinzufügte: »Dir schon ... ja. Ich ... wenn du ...«

Viktor sah ein, dass es sinnlos war, dagegen anzukämpfen. Hauptsächlich deshalb, weil es nicht im Geringsten seinem eigenen Wunsch entsprach.

Er saugte sich an Lojs weichen, heißen Lippen fest.

Ganz egal, wie alt sie war!

Von ihm aus auch dreihundert!

Lojs Geschicklichkeit hatte tatsächlich etwas Katzenhaftes. Ihre Hände glitten hin und her, während sie sich küssten, so dass Viktor nicht einmal mitbekam, wie sie ihn und sich selbst auszog. Das Ganze erinnerte halb an eine Vergewaltigung und halb an eine Verführung - nur dass die Frau die Rolle des Vergewaltigers übernahm.

Die Tatsache, dass Tel nur wenige Meter von ihnen entfernt schlief, verlieh dem Ereignis noch einen zusätzlichen Reiz.

»Endlich bist du bei mir ... endlich ...«, flüsterte Loj. Und in ihrer Stimme lag weniger Verliebtheit als Triumph, aber Viktor fühlte sich trotzdem geschmeichelt. So in etwa musste sich ein aufstrebender Sänger fühlen, der von jungen Mädchen angehimmelt wurde, die verzweifelt versuchten, sich mit Lügen in sein Hotelzimmer zu schmuggeln und vor der Tür seiner Wohnung campierten ...

Viktor hatte nicht gemerkt, dass sie ihre Position verändert hatten und er sich plötzlich über Loj befand, die sich ihm nicht mit wahnsinniger, tierischer Lust hingab, sondern mit jener freudig-weiblichen Demut, die Grundlage allen Sexes ist.

Ihr Spiel nahm nicht viel Zeit in Anspruch, obgleich es Viktor erschien, als könnte es sich die ganze Nacht hinziehen und ihnen beiden größtes Vergnügen bereiten. Aber offenbar hatte Loj entschieden, es nicht zu weit zu treiben ... An einem bestimmten Punkt spürte er, wie sich ihre Muskeln

Sie ging von selbst, etwa eine halbe Stunde später, nachdem sie ihr Spiel einige Male wiederholt hatten. Leise schlich sie davon, nachdem sie ihm zum Abschied noch einmal die Lippen auf den Mund gedrückt und geflüstert hatte: »Ich danke dir ... mehr werde ich nicht fordern ...«

Viktor war ihr dafür dankbar. Er hatte keine Kraft mehr, er fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Andererseits hatte er sich lange nicht mehr in einem so angenehmen Erschöpfungszustand befunden ...

In dieser Nacht träumte er nicht mehr.

Bei Tagesanbruch wachte er auf. Es war ein herbstlich kalter Morgen. Die Sonne verbarg sich noch hinter den senkrechten Felswänden, und die Schlucht war von feuchtem Nebel erfüllt, der klebrig und widerwärtig wie der Nebel in Sankt Petersburg war.

»K-kalt ist es«, sagte Tel mit klappernden Zähnen, während sie zusammengekauert dahockte. Ihr Gesichtchen wirkte frisch, und sie blickte Viktor mit gespielter Ernsthaftigkeit an, ganz so, als sei die Kälte seine Schuld.

Loj sagte nichts. Sie neigte sich graziös nach vorne und wusch sich an einer Wasserrinne, die von einem aus den Felsen hervorspringenden Bergquell gespeist wurde. Das muntere Bächlein sprudelte in die hölzerne Rinne und floss dann weiter bergab in Richtung Norden zu den trockenen Feldern und in die Steppe.

Загрузка...