»Was zögerst du noch?« Loj blickte ihn fordernd an. »Viktor! Sieh hin! Dort, nach Süden!«
Am Horizont bewegte sich etwas. Schwoll an, überzog sich schwarz, leuchtete in einem feurigen Netz von Blitzen auf.
»Ein Sturm?«
Loj schüttelte den Kopf. Der Wind zerrte an ihren Haaren, hüllte ihr Gesicht in eine goldene Wolke ein.
»Nicht einfach ein Sturm, Viktor! Das ist die Invasion! Die Angeborenen rücken gegen die Mittelwelt vor!«
Viktor blickte unwillkürlich zu Tel hinüber. Er suchte Unterstützung oder wenigstens ein verärgertes Kopfschütteln, mit dem sie zum Ausdruck brachte, dass Loj wieder fantasierte ...
Das Mädchen schaute in die Ferne, während es sich auf die Lippen biss. In ihren Augen leuchtete ein zorniges, gelbes Feuer. Ihre kleinen Fäuste ballten sich zusammen.
»Ja«, flüsterte sie, als sie Viktors Blick auf sich spürte. »Ja ...«
Loj war wie ausgewechselt. Nein, es lag keine Angst in ihrem Gesicht, sondern erstauntes Abwarten. Verwirrung.
»Viktor, worauf wartest du? Warum tust du nichts gegen diesen Abgrund? Gegen die Wände? Du musst das Schloss
Das Mädchen schwieg. Glaubte sie vielleicht nicht mehr daran, dass Viktor etwas ausrichten konnte?
Er schüttelte sich. Blickte noch einmal auf den Abgrund.
Um ehrlich zu sein, einmal in die Hände gespuckt und schon ... Er müsste sich nur hinunterbeugen zu dem tief unten liegenden steinernen Plateau, zu der Felsplattform, zu den Wurzeln der Erde, und von dort aus dem Abgrund eine neue Scholle heraufholen. Er könnte die ganze Insel einebnen, sie zu einem flachen Pfannkuchen ausrollen. Oder - noch leichter - eine Luftbrücke über den Abgrund schlagen.
Zu den schwarzen Mauern hintreten und mit einer Welle des Feuers auf sie einhämmern, mit einer messerscharfen Luftklinge, einem Rammsporn aus Wasser.
Mit allem dienstbaren Zorn, mit aller Kraft, die dem Drachentöter gegeben war.
Den Kreis schließen. Die Kraft endlich ganz annehmen. Und der sich nähernden Horde entgegentreten, denn er hatte nicht vor, ihnen die Mittelwelt zu überlassen. Er würde jenem entgegentreten, dessen biegsamer stählerner Körper über den adlerköpfigen Schiffen klirrte. Warte noch, Hund, ehe du die Herde zur Schlachtbank führst! Der Wolf ist noch nicht im Wald verschwunden.
»Der Drache kommt«, sagte Tel. Spöttisch und bitter. »Der Drache kommt, Viktor. Wer tritt ihm entgegen? Die besiegten Magier der kampfunfähigen Clans?«
Loj fasste das Mädchen um die Schulter und nickte. »Und? Hörst du, was sie sagt? Sogar sie hat es verstanden! Die weißen Kuppeln des Schlosses über der Welt beginnen
»Nein«, sagte Viktor. »Ich verstehe ... aber so geht das nicht.«
Loj wandte sich zornig um und deutete nach Süden. Dann erstarrten ihre Bewegungen.
»Drachentöter!«
Ein Schrei drang vom Ufer zu ihnen. Weit unten, am Anfang des Weges, warf der Magier der Luft, der ehemalige Drachentöter, die Arme nach oben. Seine Stimme, die der Wind erfasst hatte, traf direkt auf ihre Ohren.
»Drachentöter! Ich werde dich meinen Weg nicht gehen lassen! Nein!«
»Beruhige dich, Unglücklicher!« Loj stand am äußersten Rand der Steilwand. »Du hast nichts ...«
Die Luft heulte auf, als Ritor seinen Schlag führte. So unerwartet und so stark, dass sich Viktor im Fallen - so unpassend es auch war - für die Meisterschaft seines Gegners begeisterte. Dieser vom Misserfolg wahnsinnig gewordene Magier war ein Meister, ein großer Kämpfer; und sogar Viktors Kraft, die eigentlich viel größer war als die des Luftmagiers, konnte an der Situation nichts ändern.
Während er über den bernsteingelben Weg schlitterte, sah Viktor, wie sich die Mauern des Schlosses mit blutigem Gleißen überzogen. Wie dessen Luftschild zerfiel, unfähig, dem Ansturm von Ritors Beschwörungsformel zu trotzen.
Was tun?
Loj schrie auf, als der reißende Wind sie über die Kante in die Tiefe zerrte. Hinab zu den Windungen des Weges ... Tel hatte sich in einem unvorstellbaren Sprung ausgestreckt und es noch geschafft, sich an Viktors Schulter zu klammern;
Noch ein Windstoß, noch ein Angriff, und Viktor und Tel würden ebenfalls von dem Band aus gelb-goldenen Steinen abrutschen.
An der vorletzten Biegung des Weges, etwa zwanzig Meter unter ihnen, lag Loj. Zu Viktors Überraschung war sie am Leben. Die Zauberin hatte sich bereits erhoben, schüttelte den Kopf, krümmte sich unter dem Ansturm des Windes. Aus solcher Höhe ohne einen Knochenbruch? Katze ...
Aber ihnen stand ein viel weiterer Weg bevor.
Der Wind, der Ritor gehorsam ergeben war, ließ sie nicht senkrecht in die Tiefe stürzen. Er trug und zog sie, zerrte sie über die Felsvorsprünge hinab zum Ufer, geradewegs in Richtung des triumphierenden Magiers. Viktor versuchte, sich der Magie zu bedienen, die Luftflügel aufzuspannen ...
Nein.
Ritor lachte laut auf, als er Viktors vergebliche Bemühungen bemerkte. Wahrscheinlich lag für den alten Magier alles klar auf der Hand. Denn einst war er denselben Weg gegangen. Er war über die Spiralen aufgestiegen, hatte zugeschlagen und sich Einlass verschafft in das Schloss über der Welt.
Und er hatte schließlich die Weihe zum Drachentöter empfangen.
»Du kannst es!«, schrie Tel. »Du kannst es.«
Der Wind versuchte, sie auseinanderzureißen, wirbelte ihre ineinander verkeilten Körper herum, fuhr dann mit einem strammen Keil zwischen sie, wie ein elastisches Kissen ...
Kissen?
Viktor gab den Versuch zu fliegen auf. Er wartete, bis sie schon ganz nahe an den Ufersteinen waren, unmittelbar davor, dann zog er mit einer einzigen Kraftanstrengung eine prall gefüllte Luftlinse unter sich. Federnd und weich und rettend ...
Ritor schrie auf, schwankte und bedeckte sein Gesicht mit den Händen, als hätte Viktors Tat ihn in einen Schock versetzt. Die Luftlinse zerplatzte, warf Viktor mit dem Gesicht nach unten, Tel landete auf ihm, und er kam erst nachträglich dazu, sich über diesen Erfolg zu freuen.
»Nein, nein, nein!«, schrie Ritor, während er zurückwich. Der Sturm war verstummt, entweder der Alte hatte sich endgültig verausgabt, oder ... »Warum nur? Wie kann das sein!«
Viktor erhob sich und stützte Tel. Das Mädchen hatte offensichtlich einen Schwächeanfall.
»Was willst du, Ritor?«
Der Magier der Luft wand sich, als ob er Schmerzen hätte. »Dich, Drachentöter! Dein Leben!«
»Steht es dir zu, es mir zu nehmen, Ritor? Ritor, der du die Drachen tötetest!«
»Ich habe jenen Augenblick verflucht!« Ritor warf sein graues Haupt stolz nach hinten, als wäre allein seine Reue schon eine Heldentat. »Und ich kaufe mich von meiner Schuld frei, indem ich dich aufhalte!«
»Warum? Wo ist der Drache, den du verteidigen willst? Doch nicht dort draußen?« Viktor wies in die Richtung der sich ballenden Wolken über dem Meer.
»Der Drache kommt. Der echte Drache! Jener, der die Angeborenen aufhält, der die Mittelwelt verteidigt!«
»Bisher kommt nur der Erschaffene Drache!«
»Was weißt du über ihn, Drachentöter?«
»Genug, um zu begreifen, dass du ihn nicht besiegen wirst!« Viktor schüttelte Tel leicht und blickte ihr in die Augen, aber das Mädchen reagierte in keiner Weise. »Warte ... sie hat in unserem Streit nichts zu suchen.«
Ritor nickte unwillig. Viktor legte Tel auf einem Stein ab, ohne dabei seine Augen von Ritor abzuwenden.
Der Magier wartete. Geduldig, ohne einen Angriff zu versuchen. Entweder sammelte er seine Kräfte, oder es bestand tatsächlich noch die Möglichkeit, sich mit ihm zu einigen.
»Ich will niemandem etwas Übles tun, Ritor!« Viktor bemühte sich um grenzenlose Aufrichtigkeit. »Nicht einmal dir! Obwohl deine Meute mich zu töten versucht hat ... obwohl an euren Händen das Blut unschuldiger Menschen klebt ...«
»Das Gemetzel am Bahnhof war dein Verbrechen!«
»Ich konnte nichts ausrichten, Ritor! Ich hatte keine Gewalt über mich!«
»Und das wirst du auch niemals haben ...« Ritors Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Es wird immer stärker sein als du selbst ... immer, glaub mir ... Und selbst wenn du den Erschaffenen Drachen tötest, wirst du nicht mehr aufhören können. Ich weiß es ...«
Für einen Augenblick blitzte der Schatten des Mitgefühls in seinen Augen auf. Und dann schlug er zu. Mit dem Viktor schon bekannten Luftspeer, einer aus unzähligen Winden geflochtenen spitzen Nadel. Und diesmal gelang es Viktor nicht mehr, den Schlag abzuwehren.
Schmerz. Ein herzzerreißender, alles durchdringender Schmerz. Er wurde auf die Steine geschleudert, gegen sie gepresst, und ein heulender Windstrom peitschte ihm ins Gesicht. Schoss in seine Lungen, spreizte sich dort auf. Er
»Idiot!«
Loj Iwer sprang auf die Steine. Sie vollführte eine Handbewegung, und der Umhang des Magiers färbte sich rot. Der Wind winselte und legte sich.
»Was richtest du nur an, Ritor!«
»Ha! Verräterin!«
Entweder glaubte Ritor, dass der hustende, spuckende Viktor, der sich die Brust hielt, aus dem Spiel ausgestiegen war, oder er konnte sich einfach nicht gleichzeitig auf zwei Gegner konzentrieren. Das erdrückende Gewicht verschwand. Viktor versuchte aufzustehen, stürzte wieder und prallte auf die Steine. In seinem Inneren brannte es wie Feuer. Seine Lungen schienen buchstäblich geplatzt zu sein.
Loj und Ritor umkreisten sich unmittelbar am Saum des Ufers. Die Zauberin hatte die Hände ausgestreckt, ihre Finger waren gekrümmt, genau wie die Krallen eines Raubtiers.
Ritor presste die linke Hand an seine Brust und gab ein schmerzvolles Zischen von sich. Auf seiner Kleidung breiteten sich immer mehr dunkelrote Flecken aus. Lojs Schlag hatte sein Ziel erreicht.
»Ich werde dich töten, Katze«, krächzte der Magier. Und seine Stimme war so voller Hass, dass es schien, als sei die Kraft des Drachentöters in ihm auferstanden.
»Du Schwachkopf!«, kreischte Loj. »Wage es nicht, sonst ...«
»Schweig!«, bellte Ritor.
»Lauf, Viktor! Ich werde ihn aufhalten, diesen Verrückten! Ahhhh!« Loj machte einen Sprung nach vorne und vollführte wieder eine Handbewegung, aber anstatt Ritor einen Hieb zu versetzen, stürzte sie geradewegs vor seine Füße.
»Lauf, Viktor!«
Wieso und wohin sollte er laufen? Wieder die goldenen Schlingen um den Felsen herum, zurück in die schwarze Sackgasse vor dem Schloss über der Welt? Die Frage, ob er Loj und Tel so einfach zurücklassen und seinem Weg folgen konnte, stellte er sich gar nicht erst. Er musste es tun.
Viktor rappelte sich hoch und lief geduckt und sich an der Seite haltend los. Der Weg führte geradewegs in die Brandung hinein. Er warf sich mit Anlauf in die Wellen. Eine Wasserfontäne erhob sich in die Luft, aber an der Seite des schwarzen Felsens blieb der Grund eben und senkte sich nicht ab.
Aha! Genau! Das hatte er sich gedacht ... Bernsteinfarbene Platten hoben sich aus dem Wasser und verwandelten sich in den zweiten Weg hinauf zum Schloss.
Er lief. Über diesen Weg, der zur Regenbogenbrücke führte. Die Spirale wand sich in Richtung Süden, der sich nähernden Wolkenkette entgegen. Die Sturmfront war schon deutlich zu sehen; unnatürlich ebenmäßig und sehr viel schneller als ein gewöhnliches Unwetter.
Hinter Viktor wälzten sich Loj und Ritor auf den Steinen. Sie verwendeten keine Magie, denn dafür war in diesem Handgemenge keine Zeit. Loj war viel beweglicher und geschickter, aber Ritor war einfach zu stark für sie. Ein ums andere Mal, immer wenn er obenauf war, schlug er den Kopf der Katze auf den Stein.
»Er kommt ... sowieso nicht an ...« Ritor presste Loj wieder gegen den Boden, als er plötzlich erstarrte.
Neben ihm stand Torn.
Es sah so aus, als ob der Magier des Wassers sich überhaupt nicht für den Kampf interessierte. Er blickte Viktor hinterher, der im Laufschritt bereits die zweite Umrundung
Auf Torns Gesicht zeichnete sich eine solche Qual ab, als bewegte er sich zusammen mit Viktor.
Ritor hielt inne, ließ die betäubte Loj los. Er hob die Hand und schloss sie zum Zeichen der Kraft der Luft.
»Lass es, Ritor«, sagte Torn, ohne sich umzuwenden. »Es ist zu spät, um sich gegenseitig umzubringen. Sieh hin, die Angeborenen nähern sich ...«
Der Magier der Luft zögerte, hielt an den Fingerspitzen den entstehenden Hurrikan zurück.
»Lass die Rache, Ritor. Du siehst doch, dass ich nicht versuche, ihn zu erreichen ...« Torn nickte in Viktors Richtung. »Es ist zu spät für eigene Pläne, wir müssen uns mit dem abfinden, was das Schicksal uns zugedacht hat.«
»Ihn erreichen? Du?« Ritor lachte auf. »Du hättest ihm nie etwas angetan!«
»Warum?«, wunderte sich der Magier. »Jetzt hätte ich es versucht. Aber die Angeborenen ...«
Endlich blickte er Ritor an.
»Komm, lass uns ...«
Was immer er seinem Erzfeind vorschlagen wollte, seine Stimme verhallte ungehört. Das Wasser am Ufer begann zu schäumen, bäumte sich in einer runden Welle auf. Aus der Tiefe erhob sich eine schmale Felssäule, glänzend wie mit Fett eingerieben. Auf dem Gipfel der in den Himmel kriechenden Säule duckte sich Andrzej.
»Nein!«, schrie Torn. »Nicht doch!«
Der Magier der Erde hörte seinen Verbündeten nicht. Er richtete sich zu seiner ganzen, nicht sehr stattlichen Größe auf und flüsterte eine Beschwörungsformel.
Die Insel begann zu beben. Ein schweres Zittern überlief die Felsen. Und Ritor und Torn wurden zu Boden geschleudert. Viktor hatte es noch schlimmer erwischt: Der gelbe Weg begann abzustürzen, ganze Steinplatten rutschten in die Tiefe. Eine Steinlawine donnerte in einer goldenen Welle die Felswände hinab. Gegen einen Steinbrocken gedrückt wartete der zukünftige Drachentöter ab.
Es war klar, dass Andrzej diesmal seine ganze vernichtende Gewalt aufbrachte, indem er eine möglichst einfache Formel gewählt hatte. Allerdings hatte er mit einem nicht gerechnet, denn die Magie der Erde hatte sich noch nie durch besondere Präzision ausgezeichnet.
Die Säule, auf der er sich aus dem Meer erhoben hatte, begann ebenfalls zu zittern. Dann barst sie in der Mitte auseinander. Andrzej wand sich einen Augenblick ungeschickt hin und her, ehe er ins Wasser sprang. Die hinter ihm her stürzenden Steine wichen dem zappelnden Magier fürsorglich aus. Mit hämmernden Armschlägen schwamm er ans Ufer.
Torn schüttelte verzweifelt den Kopf.
Andrzej schien gar nicht zu begreifen, was vorgefallen war. Den Zusammenbruch seiner Angriffsbasis hielt er für eine Folge von Viktors Gegenschlag. Fröstelnd sprang der Erdmagier an Land und sah zu Torn hinüber, aber in dessen Blick war kein Wohlwollen zu erkennen.
Der Magier der Erde stürzte zu Ritor.
Der seinerseits wich zurück, aber Andrzej hatte nicht die Absicht, ihn anzugreifen. Er packte ihn am Aufschlag seines Umhangs und schrie: »Ritor, ich bitte dich um Hilfe! Um Hilfe und um Schutz, dich, meinen Feind!«
Torn verzog das Gesicht und wandte sich ab. Er blickte wieder zu Viktor hinüber, der vor dem abgestürzten Weg
Der Mensch auf dem Fels ließ sich in die Hocke hinunter, dann stieß er sich ab und flog in den Himmel hinauf.
Torn zögerte immer noch, folgte ihm mit den Augen. Dann holte er zum Schlag aus, das konzentrierte Geschütz schlug ohne großen Schaden anzurichten in die Felsen ein und zermalmte sie zu feinem Staub.
Die Magier hoben die Köpfe.
Viktor flog und näherte sich bereits dem Felsenplatz. Ab und zu schien sich sein Körper zu biegen, so als versuche er, auf das Schloss zuzusteuern. Aber jedes Mal schob ihn eine unsichtbare Kraft wieder zurück.
»Das war’s«, sagte Torn. »He! Wäre es nicht an der Zeit, dass wir uns ins Unvermeidliche schicken und Viktor im Kampf gegen die Invasion der Angeborenen beistehen?«
Ritor riss sich von dem Magier der Erde los und schüttelte den Kopf. Er öffnete die Arme, die Kraft heulte in einer verzweifelten Anstrengung auf.
Loj war inzwischen aufgestanden und spuckte Blut aus, sie fixierte den Luftmagier und warf sich mit einem Sprung auf seinen Rücken.
Aber aufzuhalten vermochte ihn keiner mehr. Offenkundig waren die Überreste seiner ehemaligen Kräfte als Drachentöter tatsächlich zu ihm zurückgekehrt, und er erhob
Torn ging gebeugt und erschöpften Schrittes zu Tel, die noch immer rücklings auf dem Boden lag. Er hockte sich neben sie und blickte ihr ins Gesicht. Er schnalzte mit der Zunge.
»Was ... was für eine Invasion?«, kreischte Andrzej.
»Hilf ihr«, sagte Torn, ohne sich umzudrehen. »Die Geheime hier hat alle ihre Kräfte verausgabt, indem sie Viktor nährte. Sie war eben doch jünger als er ... ich hätte es nicht gedacht.«
»Was für eine Geheime? Was für eine Invasion?« Andrzejs Stimme war gedehnt und klang boshaft. »Was schwafelst du, Torn?«
Der Magier schaute in das Gesicht des Mädchens und machte eine finstere Miene. »Was für eine Geheime? Nun, sieh sie dir nur an.« Aus Torns Handfläche strömte ein gleichmäßiges hellblaues Licht zu Tels Gesicht. »Hast du wirklich geglaubt, dass sie alle zusammen mit dem Herrscher umkamen?«
»Eine hat Ritor entkommen lassen ...«
»Und eine zweite wartete in der Mittelwelt auf ihre Stunde ...« Torn zog die Hand weg. Tel öffnete die Augen und blickte ihn verständnislos an. »Was die Invasion angeht ... schau da nach Süden, Andrzej ...«
Der Magier kniff kurzsichtig die Augen zusammen und fixierte den Horizont. »Ein Sturm ...«
»Ja, und in seinem Herzen rücken die Schiffe der Angeborenen gegen uns vor.« Torn stand auf. »Es ist zu spät, um zu streiten. Hilf mir, der Flotte entgegenzutreten.«
In Andrzejs Augen flackerte Angst auf. »Dort ... dort ... ist ... ich spüre es ...«
»Der Erschaffene Drache ...« Tels Stimme war noch kraftlos. »Er kommt. Auch er ist im Zentrum ihrer Kraft. Nur der Geflügelte Herrscher kann ihn aufhalten.«
»Andrzej, hilfst du mir?«
Der Erdmagier knetete sein Kinn mit seinen gelblichen Fingern. »Man braucht eine besondere Formel ...«
»Wirk du nur deine Formeln, bis der Drache dich frisst!«, bellte Torn. »So sieh doch wenigstens zu, dass die Riffe sich vom Meeresboden heben! Wenigstens das!«
»Ich muss ... ich muss ... zurückkehren ... in den großen Tempel ... nur da kann ich ...«, murmelte Andrzej zusammenhangslos vor sich hin. Torn rüttelte ihn schonungslos an der Schulter.
»Komm zu dir, Magier! Hier sind deine Kräfte doch viel größer!«
»Ich ... ich muss erst etwas in meinem Gedächtnis auffrischen ... dann komme ich wieder her ... Ich benötige Ruhe, Konzentration, Versenkung ins Detail ...«
Torn holte im Zorn zum Schlag aus.
»Das wirst du nicht wagen!«, kreischte der Magier der Erde mit dünner Stimme.
»Du Kröte ...« Torn trat auf ihn zu. »Und ob ich es wage! Ich werde alles sagen und tun, damit ...«
Das war sein Fehler. Andrzej hüpfte geschickt zur Seite, hob beide Arme in die Luft und schrie laut eine Formel. In seiner Angst hatte er sie offenbar kurz und wirkungsvoll gewoben, denn die Ufersteine fügten sich zu einer schmalen Treppe zusammen, die geradewegs ins Wasser führte. Der Magier eilte die Stufen hinab, die Wellen traten gehorsam auseinander, und einen Augenblick später war er verschwunden.
»Elender ...« Torn spuckte aus. »Kannst du aufstehen, Geheime? Wie es aussieht, müssen wir uns der Flotte zu
»Du bist sehr tapfer, Geheime«, sagte der Magier des Wassers, während er in den sich verdunkelnden Horizont starrte, von wo sich ein dichter Vorhang aus wirbelnden Tornados näherte. »Du hast alle ohne Ausnahme getäuscht. Mich eingeschlossen. Und wahrscheinlich sogar Viktor. Jetzt ist es vorbei, oder? Er vermag nichts mehr zu tun, nicht wahr?«
Tel zuckte schweigend mit den Schultern.
»Und kannst du etwas tun, Geheime?«
»Ja.«
»Aber der Hüter ...«
»Sorge dich nicht, Magier des Wassers. Wir treten ihrer Flotte entgegen. Und auch dem Erschaffenen Drachen. Wir werden standhalten, solange wir können. Ich bitte dich nur ... töte mich, wenn ich es nicht schaffe. Ich will nicht bei lebendigem Leibe in die Hände dieses Ungetüms geraten.«
Einige Sekunden blickte Torn nach Süden, wo sich der Sturm ausbreitete. »Ich schwöre es dir, Geheime, sofern ich selbst am Leben bin. Aber ich werde alles daransetzen, damit es nicht dazu kommt.«
»Ich bin es, die alles daransetzen muss ...«, sagte Tel mit leiser Stimme.
Der steinerne Platz hatte die Form eines gleichschenkligen Fünfecks. Ein Pentagramm, das sich seit undenkbaren Vorzeiten auf gleicher Höhe mit dem Schloss über der Welt befand. Viktor hing für einen Augenblick über ihm, wie ein Sportler in einem Sprung von beispielloser Höhe.
Dann kamen die schwarzen Steine auf ihn zu.
Die Magie verschwand nicht vollständig. Noch immer spürte er die vier Elemente. Aber hier gab es weniger davon. Hier verbarg sich die Quelle.
Der halbe Himmel hatte sich bereits in eine brüllende Hölle verwandelt, vielleicht gab es auch auf der Anderen Seite solche Stürme, aber Viktor hatte nie welche erlebt, und sein Bewusstsein weigerte sich, dieses Ereignis als Realität anzuerkennen. Der Sturm zog unmittelbar vor der Insel auf, vollführte einen leichten Bogen und umarmte sie in einem Halbkreis. Irgendwelche Urkräfte zügelten noch träge seinen Ansturm, aber sie wurden nicht vom lebendigen Willen gestützt.
Die Steine des Platzes waren vom Wind blank poliert, fast so wie die Mauern des Schlosses. Aber an einigen Stellen waren tiefe Furchen zu sehen, als ob etwas ... jemand ... aus großer Höhe auf sie niedergestürzt sei, seine Krallen hineingestoßen hätte, Krallen, die stärker waren als der Fels.
Etwas oder jemand stieß herab, bremste seinen zügigen Flug, schüttelte den mächtigen Körper, schloss die Flügel.
Und ging auf das Schloss zu, über die schmale Regenbogenbrücke, die doch kaum einen Menschen auszuhalten vermochte?
Nachtschwarz zeigen sich die Wände
und die Kuppeln perlmuttweiß.
Hat die Trauer hier ein Ende,
unsrer Träume Festung sei’s.
Glatt-blau plätschert eine Welle,
Sonnenhonig strömt herab,
aus dem Wolkenland zur Stelle
Kinder, die zum Flug begabt.
Was ist wirklich, was ein Traum,
denk nicht nach, stell keine Fragen.
Ein Gedanke in dir wohnt,
deine Antwort gibt dir Recht.
Der beherrscht die Welt des Tages,
jener ganz allein die Nacht,
aber vom geheimen Feuer
einer nur den Schlüssel hat.
Leib vom Leib, des Wesens Kern,
gabst du auf die luftige Höh’,
Traumwelt ist dein Reich allein,
auf zur Regenbogenbrücke.
Du trugst die Last.
Du gingst den Weg,
was du erfuhrst,
vergiss jetzt nicht.
Hier hatten die Drachen gehaust.
Ihre Flügel umfassten die Luft, ihrer Kehle entstiegen Flammen, das Wasser am Ufer schäumte, und der Fels unter ihnen stöhnte.
Und in Menschengestalt gingen sie über die Regenbogenbrücke in ihren Horst, in ihr Schloss, in ihr Haus ...
Als ob er vergessen hätte, wer er war, schritt Viktor auf das vielfarbige Band zu. Und vernahm einen Schrei hinter sich.
Ritor und die sich an ihn klammernde Loj stürzten auf den Platz. Die Katze hämmerte dem Magier ins Gesicht, drückte ihm mit festem Griff den Hals zu, als ob sie bereit
Ritor ergab sich nicht.
Sie wälzten sich über die Steine, ineinander verschlungen wie Liebende. Loj sprang vom Magier weg, brachte sich erneut in Angriffsposition. Viktor sah, wie an ihren Fingerspitzen scharfe Schatten aufblitzten.
Und dann schwang Ritor, der noch nicht dazu gekommen war, die Luftflügel zu schließen, seine Arme. Die gewaltigen Flügelflächen fuhren auf die Frau nieder, drückten sie in den Stein hinein. Loj hatte keine Chance, zu groß war die Gewalt der sich schließenden Flügel. Ihr Schrei verstummte, wurde vom Wind fortgetragen.
Das Oberhaupt vom Clan der Katzen lag in einer Pose, die für einen lebendigen Menschen unnachahmlich war. Sogar für eine Magierin. Der Hals war verdreht, das Rückgrat gebrochen.
Loj Iwer war tot.
»Du ...« Der Magier der Luft trat auf Viktor zu, als sei es an ihm, vor Hass zu ersticken, als wäre es seine Freundin und Geliebte, die dort tot auf den kalten Steinen lag. »Du bist schuld! An allem!«
»Ich bin einfach nur hierhergekommen, Ritor! Ich bin nur an dem Ort, an den ich kommen musste.«
Die Kraft des Drachentöters heulte auf und bahnte sich einen Weg ins Freie, die Kraft des Drachentöters suchte einen Ausweg. Aber aus irgendeinem Grund durfte er es nicht zulassen.
»Du hast also gewonnen? Ja?« Ritor sah zum schwarzen Himmel hinauf. »Der Drache ist nicht gekommen! Ich habe dich gejagt ... ich habe alle meine Kräfte aufgewandt ... ich habe Menschen geopfert ... Aber den Drachen habe ich nicht
Wahrscheinlich hätte man einwenden können: »Und warum seid ihr besser?« Man hätte ihn fragen und sich damit ein Späßchen erlauben können.
»Willst du sie aufhalten?«, rief Viktor aus, während er auf die sich nähernde schwarze Front zeigte. In der heranrückenden Kraft konnte er schon ihr Herz spüren. Nicht mehr lange, und diese Kraft würde in Stücke zerspringen. Würde Gestalt annehmen, hier an der Bruchstelle der Welten; für die einen würde sie sich in adlerköpfige Schiffe, für die anderen in nächtliche Ängste, immerwährende Schwermut oder in drückende, Tag und Nacht irremachende Alpträume verwandeln ... Und wer wusste schon, wie viele sich mit Rasierklingen die Pulsadern aufschneiden würden, nur um diesem Schrecken zu entgehen?
»Es ist zu spät«, schrie Ritor.
Der Wind zerrte am Umhang des Magiers, der Wind, über den er schon keine Gewalt mehr hatte. Nur die eingesunkenen Augen in diesem gequälten Gesicht lebten noch weiter. Der auf Viktor geheftete Blick war nicht mehr hasserfüllt. Nur herzzerreißende Schwermut und hoffnungslose Trauer lagen noch darin.
»Du hast gesiegt, Drachentöter! Das hast du doch gewollt, nicht wahr? Du wolltest mir meine Kräfte nehmen? Wolltest verhindern, dass ich den Drachen finde? Du bist der Sieger! Aber was wirst du mit deinem Sieg anstellen?«
Ritor lachte laut auf und streckte dem niedrigen schwarzen Himmel die Arme entgegen. Der Sturm nahm an Kraft zu, riss an der Wolkendecke und stopfte die Löcher in ihr
»Was wirst du mit deiner Kraft tun, Drachentöter?«
Eine Girlande aus Kugelblitzen hing über dem Himmelsgewölbe. Flammengerinnsel flackerten auf, mal verloschen sie, mal verströmten sie ein blendendes Licht. Hinter ihrem durchsichtigen Leuchten wirbelten verschlungen Windhosen und rissen am Leib des Ozeans. Und irgendwo noch weiter, unsichtbar, aber spürbar, kam die Kraft.
»Wirst du in ihrer Welt einen Platz finden?«
Die Felsen erzitterten. Der Schüttelkrampf stieg geradewegs von den Wurzeln auf, stülpte Berge um und zerquetschte die Ebenen. Tief unten am Ufer, wo der Schaum brodelte, bewegten sich Torn und Tel. Viktor blickte zu ihnen hinüber, als versuchte er, einen verspäteten Ratschlag zu vernehmen oder um etwas zu bitten. Aber der Wind brüllte, gab keine Antwort, und die stürmende See gehorchte dem Magier des Wassers nicht länger. Die Wellen schlugen zu, und Tel kam auf den Steinen ins Rutschen; Torn blieb stehen, fasste sie an der Hand, versuchte sie zu halten.
»Ihre Welt wird es nicht geben«, sagte Viktor.
Die Felsen unter ihren Füßen bröckelten. Nur das Schloss über der Welt stand reglos, als ob die Kraft der früheren Herrscher es bis zu diesem Tag schützen würde. Über die schwarzen Steine der Mauern tanzte der Widerschein der Blitze, die Kuppeln leuchteten in matt-weißem Licht. Die offenen Tore lockten mit einer durchsichtigen Illusion der Gefahrlosigkeit.
»Du kannst sie nicht aufhalten, Drachentöter!« Ritor schüttelte den Kopf. »Selbst wenn du ihren Drachen besiegst!«
Der Himmel stand in Flammen.
Ein Feuerball explodierte in der Ferne. Ein blutiger Stern erhob sich über dem Meer. Strömender Regen stürzte vom Himmel, ein kalter, scharfer Regen, der die Haut augenblicklich gefrieren ließ.
»Im Namen der vier Elemente ...« Viktor verstummte. So nicht! Irgendwie anders! Dies war nicht das Totenreich, und es war nicht seine Aufgabe, die Graue Grenze zu errichten, die Welten zu verschließen ...
Seine Aufgabe?
Hatte er etwa die Graue Grenze errichtet?
Und in diesem Augenblick begann Loj, die tote Loj, sich zu rühren! Entweder Ritor sah es nicht, oder es war ihm schon alles gleichgültig. Der zerschmetterte Körper der Katze regte sich, streckte sich und nahm unter kurzem, krampfartigem Zittern wieder seine alte graziöse Gestalt an. Ein Moment, und die rothaarige Frau hob den Kopf und warf dem Magier der Luft einen schnellen, zornigen Blick zu.
»Für mein siebtes Leben wirst du mir noch büßen, Ritor!«
Der Wind riss ihr die letzten Stofffetzen vom Leib, und Viktor empfand plötzlich, so unpassend der Augenblick auch sein mochte, eine Welle der Leidenschaft. Und Loj schien das zu spüren, drehte sich um und antwortete ihm mit einem dankbaren Lächeln.
»Was stehst du noch herum, Viktor? Lauf!«
Er verstand noch nicht.
»Zum Schloss, du Dummkopf!« Loj rannte zu ihm hin, noch waren ihre Bewegungen eckig und unbeholfen. »Zum Schloss, Herrscher! Was stehst du noch herum, Drache?«
Ritor hob den Kopf und warf Loj einen irren Blick zu, dann starrte er Viktor an. Er hob die Hand, als wollte er seine Augen verdecken.
Loj wandte sich zu ihm: »Du hast dein Blut in ihm gespürt, Ritor! Wie konntest du den Rest nur übersehen? Wie? Hast du versucht, jenen Augenblick aus deinem Gedächtnis zu tilgen?«
»Nein!«, kreischte Ritor. »Nein! Das kann nicht sein!«
Loj schubste Viktor, sie deutete auf den glühenden, blutigen Stern am Himmel ... Schon kein Stern mehr - ein Komet ...
»Entscheide dich, Viktor! Entscheide dich, Drache oder Drachentöter! Was willst du? Wer wirst du sein?«
Die Felsen schwankten. Die goldenen Steinplatten fielen in die Tiefe, ins brodelnde Wasser, auf den Weg, über den Torn und Tel liefen. Zum Schloss über der Welt gab es schon kein Durchkommen mehr ... fast kein Durchkommen.
»Willst du, dass sie es tun muss?« Loj sah Viktor direkt in die Augen. »Der Geheime Clan verfügt nicht über die ganze Kraft! Schick deine Frau nicht in den Kampf, Drache! Für sie ist es der Tod!«
Viktor rannte los. Über die zerberstenden Steine, über den sich auflösenden Weg. Die Regenbogenbrücke schmolz unter den Windstößen, die eisigen Regenstrudel woben eine dichte Wand vor ihm. Er tauchte in den Strom ein - woher kam so viel Wasser, der Himmel konnte doch unmöglich so viel Feuchtigkeit gesammelt haben! Er stürzte, wurde weiter getragen, lief schon nicht mehr - schwamm in dem dichten Gemisch aus Wasser und Luft. Viktor wurde immer weiter zum Abgrund hin gezerrt, und plötzlich erkannte er, dass es zu spät war, dass Loj zu spät gekommen war, dass Ritors wahnsinniger Zorn ihn um die kostbaren Minuten gebracht hatte, in denen er es vielleicht noch geschafft hätte, vielleicht noch das Schloss erreicht und die schwarzen Wände berührt hätte ...
Das Wasser flaute mit einem Mal ab, als ob ein gewaltiger Schutzschirm über dem Weg geöffnet worden wäre. Unten war Torn stehen geblieben, schwankend streckte er die Hände über dem Kopf aus, versuchte, dem aufgerissenen Himmel Einhalt zu gebieten. Tel blieb für einen Moment lang stehen und sah zum Magier hinüber, dann rannte sie weiter. Zum Schloss über der Welt, zum schwarzen Stein der Mauern, zu den geöffneten Toren ...
Schick deine Frau nicht in den Kampf, Drache ...
Viktor rannte auf die Regenbogenbrücke. Die Zierschrift des Lichts unter den Füßen, die Minuten zuvor noch fest wie eine Erdscholle gewirkt hatte, brach nun auf und wand sich, ganz wie eine Erdscholle in Aufruhr. Leuchtender Nebelstaub erhob sich unter ihm und durchbohrte mit farbigen Funken die Luft. Jetzt waren sie gleich weit entfernt vom Schloss - Tel auf dem Pfad, der nach oben führte; Viktor auf dem sich zum Schloss hin senkenden Brückenabschnitt.
»Bleib stehen«, schrie Viktor. »Stehen bleiben!«
Sie hörte ihn nicht. Oder sie glaubte ihm nicht mehr ...
Viktor glitt aus. Die Brücke löste sich auf. Die Bögen aus Licht drehten sich zusammen, wanden sich unter ihm. Die bebende Erde tief unter ihm fasste nach ihm, lockte, wartete.
Er stürzte. Er schritt durch einen Regenbogenbrei, der ihm bis zur Brust reichte. Unter den Füßen spürte er keinen Widerstand mehr. Der dunkelrote Komet am Himmel brüllte auf, öffnete seinen Schlund ...
Ein Schlag. Ein Stoß in den Rücken. Der gespannte Flügel des Windes erfasste ihn, schleuderte ihn vorwärts, durch die sich auflösende Brücke, über die Bodenlosigkeit hinweg. Hinter ihm fiel Ritor zu Boden, krallte sich mit gekrümmten
Viktor kam unmittelbar vor Tels Füßen auf. Der Schlag hatte ihm die Luft genommen, der Schmerz bohrte sich in seinen Körper. Aber auch Tel hatte nicht damit gerechnet, stolperte über ihn und schlitterte über die Steine. Viktor bekam ihre Hand zu fassen, riss sie zurück und schrie.
»Nein!«
»Lass los! Ich muss ...«
»Nein! Letzte aus dem Geheimen Clan, ich verbiete es dir!«
Das Mädchen keuchte und riss sich von ihm los. Viktor blickte ihr in die Augen und formte mit den Lippen die Worte: »Dies ist meine Welt, Tel.«
Blut ergoss sich über den Himmel. Blitze schlugen am Ufer ein. Der Wind heulte und schickte eine Tornadogeißel über die Dracheninsel.
»Erneuerung ...«, flüsterte der Regen. »Wiedergeburt ...«, stimmte der Wind ein. »Neu, neu, neu ...«, schrien die Blitze.
»Ich entscheide«, sagte Viktor und ließ Tels kraftlose Hand los. Dann wandte er sich zu den Toren des Schlosses über der Welt.
Der Hüter stand auf der Schwelle.
In Viktors Träumen hatte er anders ausgesehen. Ganz anders, nicht wie ein zerbrechlicher Jüngling mit vom Wind
»Gib mir meine Kraft«, sagte er und trat einen Schritt auf das Schloss über der Welt zu.
»Hast du das Recht?«, fragte der Hüter mit der Stimme eines plötzlich wieder jungen Fresssacks.
»Ja!«
»Versuch es! Beweise es!«
»Ich habe das Recht.«
Viktor spürte, wie sich eine dichte Wand vor ihm aufbaute, einförmig, unsichtbar, wartend. Arme Wand ...
»Ich habe das Recht - in mir fließt das Blut der Herrscher ...«
Ein Schritt ...
»Ich habe das Recht, in mir fließt das Blut des Drachentöters ...«
Ein Schritt ...
»Ich habe das Recht, der Geheime Clan, der Hüter der Urgründe, hat mich gerufen ...«
Ein Schritt ...
»Ich habe das Recht, ich habe geglaubt und bin gekommen ...«
Ein Schritt ...
»Ich habe das Recht, die Wächter der Grenze ließen ihr Leben für mich ...«
Ein Schritt ...
»Ich habe das Recht, ich habe die Kraft der Elemente angenommen ...«
Ein Schritt ...
»Ich habe das Recht, ich habe den Weg der Angeborenen abgelehnt ...«
Zum Hüter und ihm die Hand reichen.
»Ich habe das Recht, bei mir sind meine Feinde und meine Freunde, bei mir ist meine Liebe und mein Hass. Dies ist meine Welt.«
Er berührte den schwarzen Stein der Mauern.
»Wirst du alles nehmen?« Der Fresssack schüttelte den Kopf. »Leben und Tod? Verehrung und Verachtung? Wirst du dich verantworten?«
»Ja.«
»Du entscheidest, wozu die Ängste und die Träume der Anderen Seite werden? Wozu sie sich bei den Angeborenen verwandeln? Wie sie zur Mittelwelt hinübergelangen?«
»Ja. Gib mir meine Kraft zurück, Hüter!«
Der Himmel explodierte in weißen Strahlen. Die Blitze flochten ein flammendes Netz, um die Welt zu umfassen. Die Insel erzitterte und erhob sich aus dem kochenden Wasser.
Der Erschaffene Drache, der am Himmel segelte, brüllte auf. Die stählernen Flügel durchtrennten die Luft, ein Feuerschlund öffnete sich und stieß einen Strom Napalm aus. Die blitzenden Krallen streckten sich aus und zielten auf den Rivalen.
Viktor richtete sich auf. Mit seinem ganzen gepanzerten Körper.
Gepanzert von der peitschenscharfen Schwanzspitze bis zu den Flügelenden.
Der Herrscher der Mittelwelt erhob sich über die Dracheninsel.
Unten auf dem Weg saß Torn mit verächtlich verzerrter Miene im Regen und fing kalte Tropfen mit den Lippen auf.
Loj Iwer saß ebenfalls da, nackt, verführerisch und lebendig, und hielt den Kopf des Luftmagiers auf den Knien,
An den Toren zum Schloss über der Welt schüttelte ein weißes Einhorn seine goldene Mähne.
Und die adlerköpfigen Schiffe der Angeborenen, die sich hinter der Wand von Wirbelstürmen hervorstahlen, erstarrten, als hoch über ihnen der Drachenherrscher dem Erschaffenen Drachen begegnete.