13

»He, was ist los ... was denkst du dir eigentlich?«

Viktor merkte, wie ihn jemand an der Schulter zupfte. Er wollte so gern weiterschlafen ...

»Steh auf! Jetzt steh schon auf, los!«

Endlich öffnete er die Augen. Der Fresssack hing über ihm und fuchtelte geschäftig mit seinen feisten Händen herum. In seinem Gesicht lag ein ehrlicher Ausdruck des Leidens.

»Was richtest du da an, was richtest du an!«, schnatterte er, als er sah, dass Viktor wach war.

»Worum geht es denn?«

»Du schläfst doch sowieso schon!«

Viktor seufzte, richtete sich auf und rieb sich die Augen. »Na und? Ich hab es satt. Deine Scherze sind dumm, hier gibt es keinerlei Vergnügungen. Da lieg ich doch lieber am Ufer und ruh mich aus.«

Der Fresssack hielt die Luft an. Verwirrt breitete er die Arme aus. »Was soll das heißen, keinerlei Vergnügungen? Überleg mal, was du da sagst!«

»Für diesen Plausch bin ich verantwortlich«, sagte Viktor finster. Es war seltsam. Der Fresssack war offenbar froh über diese Wendung im Gespräch.

»Sicher?«

Irgendwas in Viktor schnappte zu. Mit größter Freude machte er eine Bemerkung, die ihm bei normaler Geistesverfassung die Röte ins Gesicht getrieben hätte.

Und der Fresssack strahlte. »Siehst du, so mag ich dich!«

Ehe Viktor zu sich kam, klopfte der kleinwüchsige Dickwanst ihm herablassend auf die Schulter.

»Das lob ich mir!«

Viktor erhob sich und fragte mit drohender Stimme: »Was willst du von mir?«

»Ich? Nichts ...« Augenblicklich wirkte der Fresssack betrübt. »Ich mag dich ... ja, ich verstehe ... dass man sich nicht aufdrängt ... aber ich mag dich eben, das ist alles! Was soll man da machen? Ich will dir noch mehr zeigen vom Leben, dir was beibringen.«

»Danke, mein Lieber, aber ich habe keinen Bedarf.«

»Bist du sicher?« Der Fresssack zwinkerte schlau. »Zu viel ... kann man doch nie wissen. Warum willst du hier rumliegen ... wenn du im Wald spazieren gehen würdest ...«

»Am Ende bekomme ich doch ohnehin wieder nichts zu sehen. Ich kenne deine Tricks inzwischen.«

»Warum schlägst du dich auch immer zu Fuß durch?«, sagte der Fresssack verwundert. »Ganz klar, auf Schusters Rappen braucht man ja wochenlang.«

»Bietest du mir ein Fahrzeug an?«

»Dir?« In gekünsteltem Schrecken wedelte der Fresssack mit den Händen. »Wie könnte ich! Ausgerechnet dir! Wo du doch jetzt selbst ...«

Er breitete die Arme aus, ließ ein surrendes Geräusch erklingen und hüpfte dabei von einem Fuß auf den anderen, so dass er an ein überladenes Transportflugzeug beim Start

»Ich bin kein Kind mehr, das im Traum fliegen kann.«

»Versuch es nur!«, ermutigte ihn der Fresssack. »Du konntest gegen die Luft bestehen, aber du fürchtest dich davor, abzuheben?«

Jetzt benahm er sich wie ein Sergeant in einem amerikanischen Kriegsfilm. Scheinbar böse, aber im Grunde natürlich sehr gutmütig. So einer, der weiß, dass es für die Soldaten nur zum Besten ist, die ganze Nacht die Kaserne zu putzen oder sich auf dem von der Sonne ausgemergelten Exerzierplatz abzustrampeln.

Während er den Fresssack noch fragend ansah, spürte Viktor plötzlich eine Art Versuchung. Könnte er fliegen? Warum eigentlich nicht? Im Traum ... Er kannte das Gefühl zu fliegen ja bereits, aus jenen wahnsinnigen Erinnerungen eines anderen, aus den Schwären eines fremden Gedächtnisses. Wenn auch vermischt mit Angst, denn hinter ihm flog ein feuerspeiendes Ungetüm ...

Langsam breitete Viktor die Arme aus und sah aus den Augenwinkeln, wie der Fresssack grinste.

So nicht! Benimm dich nicht wie ein LSD-Junkie! Und stell dir kein Flugzeug vor!

Flieg einfach los!

Er streckte sich dem niedrigen, schwach glitzernden Himmel entgegen. Dem trüben Dunst, der sich wie eine Kuppel über die Welt wölbte.

Er erlaubte der Luft, ihn in die Höhe zu heben.

Der Fresssack fluchte - tief unter ihm. Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine Grimasse des Zorns ab.

Viktor flog.

Sein Körper lag auf einer unsichtbaren Stütze. Auf einer unendlichen, unsichtbaren Stütze, die sich über das Ufer und den Wald erstreckte, die Berge umwob und das Meer überspannte. Er lag auf einer Brücke aus Luft, die von den Grauen Bergen bis zum Warmen Ufer reichte, auf der unvorstellbaren Macht des Elements.

Er spürte jede Bewegung der Luft. Den Hurrikan, der über dem Meer tobte und das Segel einer glücklosen Corvette in Fetzen riss ... Den Tornado, der mit seinem gierigen Rüssel fragile Häuschen zerfetzte ... Den Sandsturm, der sich wie ein glühendes Leichenhemd über eine Karawane legte ...

Die Luft schaukelte ihn sanft, trug ihn über den Wald. Gehorsam, beherrscht, zu allem bereit.

Viktor lachte auf, so leicht und märchenhaft war dieser Flug. Er war eins geworden mit dem Ozean der Luft. Wenn auch nur im Traum. Wenn auch nur für einen Augenblick.

Der Fresssack war am Ufer zurückgeblieben und wütete weiter vor sich hin. Jetzt stampfte er mit den Füßen auf wie ein verwöhntes Kind, und dann packte er in einem neuerlichen Wutanfall einen halb von Sand verschütteten Findling und schleuderte ihn aufs Meer hinaus. Oho, was für eine Kraft ...

Viktor dachte gar nicht darüber nach, was er tat. Er streckte sich übers Meer nach dem Findling aus, der schon fast ins Wasser getaucht war, spürte die aufs Ufer zurollende Welle - die gespannte, an dieser Stelle zerbrechliche Kraft. Und dann gab er dem Stein einen Stoß. Dieser erzitterte und flog zurück. Er plumpste dem Fresssack direkt vor die Füße, so dass dieser mit einem lächerlichen Sprung zur Seite hüpfte. Na also ...

Die Luft trug Viktor immer weiter. Die verwahrloste Lichtung mit dem verlassenen Haus zog vorbei. Einen Moment lang war er versucht, dort zu landen und nachzusehen, ob die Bewohner nicht vielleicht zurückgekommen waren; augenblicklich verlor er an Höhe.

Aber nein. Vorwärts. Was hatte der Fresssack gesagt?

Weißer Rauch?

Weiter vorne, am Fuße eines Berges rauchte es wirklich. Allerdings nicht weiß, sondern schwarz, grau und graublau, als ob Müll auf einer Müllkippe verbrannt würde.

Viktor beschleunigte sein Tempo, was sich als unerwartet einfach erwies; er spürte keinen Gegenwind. Die Luft wich vor ihm zurück, sie trug ihn zu den Rauchsäulen ...

... der fröhlichen, glühend heißen Zugluft entgegen, welche die Flamme anheizte ...

Er spürte einen Schmerz. Einen scharfen Schmerz, der seinen Körper wie eine Nadel durchdrang. So setzte das Herz aus, wenn es von einer Welle des Grauens und des Ekels erfasst wurde, beim Anblick von etwas ... für das Auge Unerträglichem ...

Der rauchige Dunst hing jetzt ganz nah vor ihm. Und er konnte schon erkennen, was brannte.

Eine Stadt.

Er sah rußige, etwas schiefe Häuser. Nicht solche, wie sie in der Mittelwelt üblich waren, sondern »andersseitige«. Stacheln aus Beton, die auch in das Straßenbild einer amerikanischen Megapolis gepasst hätten. Daneben Viertel mit Einfamilienhäusern, die vom Feuer bis auf die Fundamente ausgeleckt waren. Einen geometrisch angeordneten Wohnkomplex, haargenau nach russischem Vorbild: eintönige Wohnblöcke, die sich mehr in die Länge denn in die Höhe ausdehnten. Unebener, löchriger Asphalt. Einen

Viktor landete auf einer der Straßen. Der Asphalt fühlte sich weich und klebrig an und wies zwei Streifen gerippter Abdrücke auf, die verdächtig an die Spuren von Panzerraupen erinnerten. Die Abdrücke endeten an einem Gebäude, das sich gefährlich zur Seite neigte, inmitten von Glasscherben, die von den Fenstern herrührten.

Herr im Himmel, was war hier passiert?

Er tat einen Schritt und spürte, wie sich um ihn herum der Kokon aus Luft anspannte. Wie ein unsichtbarer Panzer, der ihn vor Hitze und Ruß schützte ... In den Häusern knackten die letzten Brandherde; offenbar war bereits fast alles verbrannt, was brennen konnte. Aus der Wand eines schon fast ganz eingestürzten fünfstöckigen Hauses ragte ein zusammengedrücktes, angeschmolzenes Rohr heraus. Die schwächliche Krone der blauen Flamme lag in den letzten Zuckungen - die Gasreste, die herausströmten, waren nicht mehr in der Lage, das Feuer am Brennen zu halten.

Viktor bewegte sich wie verzaubert vorwärts.

In den Ruinen eines anderen fünfstöckigen Gebäudes knackte etwas; es war ein schwaches, nicht sehr beängstigendes Geräusch, wie wenn ein Erwachsener aus Versehen auf ein Spielzeug aus Plastik tritt oder wenn trockene Äste im Wald brechen. Die Wand, die Viktor zugewandt war, erzitterte, fiel in sich zusammen und offenbarte das leere, entweder von einer Explosion ausgehöhlte oder ausgebrannte Innere des Gebäudes. Auf den Überresten der Trägerdecken, etwa auf Höhe des dritten Stocks, wurde ein

Unwillkürlich hob Viktor seinen Arm; irgendetwas an diesen Überbleibseln forderte ihn heraus, machte sich lustig über ihn. Die gespannte Faust des Windes ging auf die Ruine nieder und entfachte das Feuer im Zimmer neu, das glühend heiße Metall des Bettes loderte auf wie in einem Schmiedeofen, durchlief nacheinander alle Glühfarben, ehe es in einer Flammenpfütze zerschmolz.

Hinter sich vernahm Viktor ein leises Geräusch. Er drehte sich um.

Mitten auf der Straße stand ein Hund. Ein großer Hund, ein Dobermann oder ein Rottweiler, mit gefletschten Zähnen und einem blutenden Rückgrat. Die einst vermutlich gut genährte und mächtige Hündin war in einem schrecklichen Zustand. Sogar ihr weit geöffneter Rachen hatte nichts Furchteinflößendes mehr, sondern wirkte jämmerlich und bettelnd: Dieser Hund drohte nicht, er versuchte nur auf sich aufmerksam zu machen.

Viktor ließ sich in die Hocke nieder. Er streckte die Hand aus und blickte der Hündin in die Augen.

Diese machte einen unsicheren Schritt nach vorne und versuchte mit ihrem Schwanzstumpf zu wedeln.

»Ist es schlimm?«, sagte Viktor mit gedämpfter Stimme. »Komm her. Guter Hund. Guter Hund ...«

Die Hündin winselte leise. Dann drehte sie sich um und lief eilig davon.

»Du traust mir nicht?«, rief Viktor ihr hinterher. »An deiner Stelle würde ich auch niemandem mehr trauen ...«

Wieder fiel ein Gebäude in sich zusammen, diesmal sehr viel lauter. Eine Wolke aus Staub, Abfall und Ruß machte sich breit, aber Viktor blieb davon unberührt, denn sie prallte an den Rändern seines Luftkokons ab.

»Und, hast du genug gesehen?«

Der Fresssack stand hinter ihm. Er atmete schwer und wischte sich den Schweiß von der glänzenden Visage. Es war ihm offenbar nicht leichtgefallen, Viktor einzuholen.

»Wovon?«, fragte Viktor und erhob sich.

»Natürlich ...« Der Fresssack gähnte gekünstelt. »Was soll man hier auch anschauen, hä? Es wird ja wohl kaum einer übrig geblieben sein ... autsch!« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab gelogen ... gelogen ...«

Viktor folgte seinem Blick. Er fürchtete jetzt keinen Schlag aus dem Hinterhalt mehr, der Fresssack verfolgte andere Absichten; und außerdem glaubte Viktor an seine neue Kraft, die so unerwartet aufgetaucht war.

Ein Junge schleppte sich die Straße entlang. Er war vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt, dünn und kniff kurzsichtig die Augen zusammen. Er trug eine Tarnuniform, die so verschmiert war, dass nicht zu erkennen war, ob der Soldat zu einer echten, nationalen Armee gehörte oder ebenso standardisiert war wie die Stadt selbst. Über der Brust hing eine gewöhnliche Kalaschnikow - aber auch die war ja schon ein auf der ganzen Welt geläufiger Gegenstand. Über die Schultern des Jungen wölbte sich ein selbst gemachter Rucksack, besser gesagt ein Sack mit Aussparungen für zwei Beine, denn in diesem Sack hing schlaff ein menschlicher Körper. Ebenfalls ein junger Mann ... nur war er tot. Sein Kopf baumelte willenlos, seine Uniform war mit dunklen Flecken übersät.

»Wir schaffen das ...«, murmelte der Soldat vor sich hin. Er war noch weit entfernt, aber der diensteifrige Wind trug Viktor jedes Wort zu. »Scheiße, wenn wir es nicht schaffen ...«

Offenbar sah er Viktor und den Fresssack nicht.

»Mit denen rechnen wir noch ab ... keine Sorge ...«

Seine Stimme war heiser, als hätte der Junge lange nichts getrunken, als hätte er mit überschlagender Stimme geschrien und alles gesagt, was zu sagen gewesen war.

»Für die Jungs und für uns ... rechnen wir noch ab ... wenn wir nur erst da sind ... gleich haben wir es geschafft ...«

Er ging ganz nah an ihnen vorbei, Viktor trat sogar zur Seite; aber wie es aussah, war das ganz überflüssig, denn der Soldat ging geradewegs durch den grinsenden Fresssack hindurch, ohne ihn zu bemerken. Andererseits war der Junge sicher kein Gespenst, denn Viktor hörte nicht nur seine Stimme, sondern auch das schleppende Geräusch seiner Schritte und das Klacken der Kalaschnikow, deren Patronenmagazin sich immer wieder an der Gürtelschnalle festhakte, und er nahm Brandgeruch und Schweiß wahr.

»Mit wem will er abrechnen?«, fragte Viktor mit gepresster Stimme.

»Woher soll ich das wissen?«, ereiferte sich der Fresssack. Während er sich nachlässig gegen die Mauer eines Gebäudes lehnte, pulte er mit gekrümmtem Finger eine zerdrückte Kugel aus einem pockennarbigen Einschussloch. »Ist es wirklich wichtig, wen er fürchtet und hasst?«

Ein Teil der Mauer stürzte unmittelbar neben dem Fresssack herunter. Aber der ließ sich nicht stören.

»Es ist nur eine primitive Fantasie«, sagte er, während er hinter dem Soldaten hersah. »Städte brennen, Häuser stürzen

»Eine Fantasie?«

Der Fresssack dachte nach, während er die Kugel zwischen den Fingern knetete. Der Bleiklumpen erhielt wieder eine glatte Wölbung und nahm seine ursprüngliche Gestalt an. »Na ja ... vielleicht nicht gerade eine Fantasie ...«, bekannte er widerwillig. »Wahrscheinlich hast du Recht ...«

Seine Augen leuchteten auf.

»Na und«, fragte er glühend vor Neugier, »hast du so was schon mal erlebt?« Er beschrieb mit den Armen einen Kreis, gerade so, als wollte er Viktor die ganze Umgebung vorführen.

»Nein«, antwortete Viktor. »Nein.«

Der Fresssack nickte verständnisvoll.

»Wird er es schaffen?«, fragte Viktor und blickte dem Soldaten hinterher. Der Junge war soeben hingefallen, erschöpft und im Schneckentempo rappelte er sich wieder auf. Die tote Last störte ihn.

»Was macht das schon für einen Unterschied?« Der Fresssack kam wieder in Fahrt. »Was berühren dich die Abenteuer dieses Körpers? Hä? Denkst du etwa, er ist im Recht?«

»Weiß ich nicht.«

»So, so, natürlich! Hast hier angehalten ... gaffst rum ... ach! Aber was hab ich dir gesagt? Flieg bis zum weißen Rauch, hab ich gesagt. Das ist noch weiter!«

»Ich finde es hier auch interessant.« Während Viktor die Worte aussprach, wurde ihm bewusst, wie unpassend sie waren. Interessant? Was redete er für einen Unsinn ...

Dafür wurde der Fresssack wieder freundlicher. »Na dann ... schau dich um ... lern was. Ich werd dich nicht zwingen ...«

»Verbrennst du nicht?«, rief Viktor ihm hinterher.

Der Fresssack kicherte nur leise, während er immer tiefer in den Dunst hineinging. »Keine Angst ... kümmere dich lieber um dich selbst ...«

Viktor spuckte auf den Boden und verfluchte sich für seine unangebrachten Sorgen. Diesem Bewohner seiner Alpträume brauchte er gewiss keine Ratschläge zu geben.

Sollte er tatsächlich den weißen Rauch suchen?

Aus irgendeinem Grund hatte er keine Lust, seine Reise durch diese herrenlose Welt fortzusetzen. Als ob die letzten Worte des Fresssacks einen ernsten Hintergrund gehabt hätten ...

Seine Unruhe wuchs. Sie schien durch nichts gerechtfertigt, was sie noch drängender machte.

Er drehte sich um und fing einen fremden Blick auf. Auf dem scherbenübersäten Asphalt, unter einem zerschlagenen Schaufenster, saß eine Katze. Eine rothaarige Katze mit durchdringend blauen Augen. Sie blickte so nachdenklich prüfend, wie es nur Menschen ... und Katzen vermögen.

»Kusch!«, sagte Viktor, leicht verwirrt von seiner eigenen abwehrenden Reaktion. Dabei war anzunehmen, dass ein streunender Hund sehr viel unberechenbarer war als dieses Tier hier, trotzdem, die Hündin hatte ihm keine Angst eingeflößt ...

Die Katze hob die Pfote - entweder um einen Schritt zu tun oder um ihn zu begrüßen. So kam es ihm jedenfalls vor!

Und Viktor begriff, augenblicklich und absolut, dass es an der Zeit war, aufzuwachen.

Wahrscheinlich half ihm die Angst. Wahrscheinlich half das ekelerregende Gefühl, das die tote Stadt in ihm heraufbeschworen hatte.

Er tauchte aus dem Schlaf auf, wie ein dünner Schwimmer aus eiskaltem Wasser auftaucht. Er spürte, dass er auf dem harten Deck lag, fühlte die grobe Matte unter sich, die zerfetzte Decke und wie Tel sich warm an ihn drückte. Er warf sich nach vorn, um sich aufzusetzen. Vom Schlaf blieb keine Spur zurück.

Fünf Meter von ihm entfernt stand eine Frau. Eine sehr attraktive Frau, die selbst in ihrer Reglosigkeit eine unvorstellbare Grazie ausstrahlte. Sie hatte goldfarbenes Haar, sehr zarte, matte Haut und riesige Augen, die aufmerksam und fragend blickten. Genau wie die Katze im Traum, aber selbst dieser überraschende Vergleich konnte Viktor nicht aufheitern.

An ihr war auch etwas von jenen mörderischen Magiern ... vielleicht nicht ganz so blutrünstig, aber nicht weniger mächtig. Kraft! Genau - es war Kraft, die von ihr ausging. Viel größere Kraft als die, die dem Menschen gegeben ist.


Loj saß am Rand des Kanals. Sie war müde, hatte alle ihre Kräfte aufgebraucht, aber dafür konnte sie sicher sein, dass sie allen Elementaren voraus war. Auf dem Kanal würde Ritor dem Drachentöter kaum eine Falle stellen. Nein, der erfahrenste aller Magier würde sein Opfer vermutlich auf dem Weg zur Festung des Erdclans abfangen wollen. Eine vernünftige Entscheidung, denn der Drachentöter würde nicht einfach verschwinden. Er hatte nur einen Weg.

Aber Ritor wusste nichts von Loj, und das kitzelte angenehm ihre Eigenliebe. Wie eine geschmeidige Eidechse glitt

Loj hatte keine Angst, dass der Mensch, den sie suchte, ihr entwischen könnte. Denn sie würde seine Kraft, selbst wenn diese schlummerte, unfehlbar spüren. Die entsprechende Beschwörungsformel hatte sie den letzten Rest ihrer Kraft gekostet, ja, aus ihr herausgesaugt, aber die starrköpfige Katze hielt durch. Ausruhen konnte sie später. Jetzt war die Zeit gekommen, vorbehaltlos alles zu geben.

In einem dichten Strom glitten Kähne und Flöße an ihr vorbei. Loj wurde immer wieder angesprochen, gefragt, ob sie nicht zusteigen wollte. Was nicht weiter verwunderlich war, denn was eine junge Frau allein am Kanalufer tat, das war auch dem größten Einfaltspinsel klar. Sie wollte sich was dazuverdienen. Und wenn nicht - nun, so dumm würde sie schon nicht sein, dass sie nicht wusste, was die Seeleute am meisten als Dankeschön fürs Mitnehmen schätzten ...

Früher hätte Loj vermutlich über eine Reihe von Angeboten nachgedacht; und einige hätte sie womöglich angenommen. Nicht so dieses Mal.

Der Kahn war leer ... der auch ... leer, leer. Auf dem wurde getrunken, dort ... hatten sie Sex, ja, wie süß ... hier schliefen alle ... auf diesem wurde gewürfelt ... das Floß nicht, das auch nicht!

Aber plötzlich hatte sie das Gefühl, Feuer zu fangen. Es war ein ganz gewöhnlicher Kahn mit dem stolzen Namen Elberet, der gemächlich vorbeizog; und auf ihm, ja, auf ihm ...

Loj schrieb alle Vorsicht in den Wind und überwand mit einem gewaltigen Sprung wie ein Panther das Wasser zwischen

Der groß gewachsene, dünne Kerl hinter dem Steuerrad riss vor Verwunderung die Augen auf. Er brauchte ein, zwei Sekunden ... ehe er begriff, dass ein normaler Mensch kaum zu so einem Sprung in der Lage wäre. Eilig verbeugte er sich und stand unruhig da ... Nein, es war sinnlos, sich jetzt noch vor ihm zu verbergen.

»Verschwinde«, befahl Loj leise. »Und lass dich nicht blicken, bis ich es gestatte.«

»Gleich, gleich, meine Dame ...«

Loj versiegelte die Luke zum Deckhaus mit einer simplen Formel, damit der Kapitän des Kahns nicht auf die Idee käme zu lauschen. Beiläufig tasteten ihre Sinne das Boot ab, sie nahm einen feinen Strudel Grasgeruch wahr und runzelte voller Abscheu die Stirn, beschloss aber, sich nicht weiter darum zu kümmern. Am Bug des Schiffes erblickte sie zwei Gestalten auf einer Bastmatte unter einer dünnen Decke. Ein ganz junges Mädchen von vielleicht vierzehn und ein äußerlich nicht weiter auffälliger, schwarzhaariger Mann, der etwas über dreißig sein mochte. Sie schliefen nebeneinander, aber sonst lief nichts zwischen ihnen; das hätte Loj sonst als Erstes gemerkt.

Das Mädchen war irgendwie merkwürdig ...

Und ihr Begleiter noch merkwürdiger. Loj spürte erneut die Hitze, sobald sie auch nur mit einer zarten, unschuldigen Formel nach ihm tastete. Die Schranke der Kraft war so gewaltig, dass ihr nichts anderes übriggeblieben wäre, als schweres Geschütz aufzufahren, sofern sie es auf einen Kampf abgesehen hätte.

Aber genau das kam überhaupt nicht in Betracht. Der Mann und das Mädchen schliefen weiter ... und das war

Die Zauberin blieb augenblicklich stehen. Innerlich war ihr Gegenüber vollkommen konzentriert und bereit zum Kampf.

Schlecht, ganz schlecht, Loj. Wirst du alt? Oder bist du endlich auf jemanden getroffen, dem du nicht das Wasser reichen kannst?

Sie bemühte sich, so natürlich wie möglich zu lächeln. »Hallo. Gut geschlafen?«

»Wer bist du?«, fragte er scharf. »Und wie kommst du hierher?«

»Eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten ...« Loj lächelte ihn an. Aber das Gesicht des Mannes blieb undurchdringlich. Es sah ganz so aus, als ob ihn sogar Lojs Hüfte, die wie zufällig durch den Schlitz ihres schmalen Rocks lugte, völlig gleichgültig ließe.

Nun, dafür würde er büßen!

»Ich bin einfach so gekommen und hab mich dazu gesellt.« Loj zuckte mit den Schultern. »Vom Ufer rübergesprungen. Ihr seid ganz nah vorbeigeschwommen. Mach dir keine Sorgen, der Kapitän weiß Bescheid und hat nichts dagegen. Wie heißt du? Ich heiße Loj Iwer.«

Und im gleichen Augenblick spürte sie den vor Eifersucht glühenden Blick des Mädchens auf sich. Sie war also aufgewacht. Na, macht nichts. Gleich würde die Kleine sich wieder auf die andere Seite drehen ... und süß weiterschlafen ... dafür würde Loj schon sorgen.

»Lass das, Loj«, sagte das Mädchen fest und ebenfalls kein bisschen verschlafen.

»Ach!«, brach es aus Loj heraus.

Ein kalter Granit. Eine eisige Wand. Stahl und Kristall, die von keinem Hammer der Welt zerschlagen werden konnten. Ein weißlich-goldener Schatten glitt auf sie zu, in wahnsinnigem Galopp. Die großen Augen des Mädchens hefteten sich auf Loj und überwanden den eilig errichteten Schutzwall.

»Lassen wir das«, bat das Mädchen plötzlich. »Wir sollten uns nicht streiten, Loj. Wir haben nichts zu teilen.«

»Geheim ...« Lojs Kehle weigerte sich beinahe, das Wort auszusprechen. »Der Geheime Clan ...«

»Was?« Der Mann blickte verwirrt auf seine Begleiterin. »Was ist das für ein Clan, Tel?«

Aha, Tel heißt du also; hoch erfreut, verehrte Rivalin, dachte Loj.

»Hast du ihn hergebracht?«

Tel nickte.

»Und du führst ihn auch weiter?«

Wieder nickte die andere.

»Vielleicht sagst du mir jetzt auch mal, wie du heißt?«, wandte sich Loj an den Mann.

»Viktor«, brummte dieser widerwillig.

»Was willst du, Viktor?«

Beim Anblick ihrer fassungslosen Gesichter beglückwünschte Loj sich in Gedanken selbst.

»Nun ja, was willst du selbst? Und nicht deine Gefährtin ... Tel.«

Der Mann mit Namen Viktor versank in Nachdenken. Es sah schön aus. Er dachte konzentriert nach, innerlich gesammelt. Ohne äußerliche Anspannung. Die Gedanken rollten dahin, gleich einer weichen Lawine. Seine Kraft schlummerte und war doch bereit, jeden Augenblick zu erwachen.

»Ich weiß es nicht«, verkündete er seine überraschende Schlussfolgerung. »Es gefällt mir hier ... Wenn diese psychopathischen Magier nicht wären ...«

Tel blickte die Zauberin der Katzen streng an.

»Solltest du Viktor nicht lieber reinen Wein einschenken?«, flötete Loj mit unschuldigem Stimmchen und setzte sich so hin, dass Viktor noch mehr von ihren Reizen zu sehen bekam.

Ach, wie sie solche Sätze liebte! Welcher Mann träumte nicht davon, alles zu erfahren, ganz gleich, wie trist das Ergebnis ausfallen würde!

Viktor jedoch schien sie nicht gehört zu haben. Und ihre bloßen, makellosen Beine sah er offensichtlich ebenfalls nicht. Er saß völlig reglos da, genau wie ein zum Sprung bereites Tier.

Und seine Kraft machte sich ebenfalls zum Sprung bereit. Er hatte vor irgendetwas Angst ... oder nein, er wartete auf etwas. Auf etwas sehr Unangenehmes. Und er glaubte ihr kein Wort. Was für eine traurige Entdeckung.

»Loj!« Das Mädchen hatte die Stirn gerunzelt. Das Oberhaupt der Katzen nahm ihr den familiären Umgangston nicht übel. Diese Tel vermochte viel ... sehr viel sogar. Mit ihr würde vermutlich nur Ritor fertig werden. Und auch der nicht, ohne ins Schwitzen zu geraten.

Sie war vom Geheimen Clan. Damit war alles gesagt.

»Was heißt da ›Loj‹? Findest du nicht, dass es unehrlich ist, Viktor so zu benutzen?«

Los jetzt, Junge, was schweigst du noch? Schüttle dich, reg dich auf, dann ist die Sache schon halb geritzt. Die Katze blickte den dunkelhaarigen Mann erwartungsvoll an.

Aber Viktor ließ seine Augen lediglich von Loj zu seiner Gefährtin hinüberwandern. Das war alles. Und Lojs Beine schienen ihn nach wie vor nicht zu interessieren.

Tel antwortete auf Lojs offenkundige Provokation nur mit einem Achselzucken. »So ist sein Schicksal. Da lässt sich nichts ändern. Wir sind zusammen von der Anderen Seite gekommen ...«

»Und natürlich hast du sein Schicksal schon bis zum Ende durchdacht, oder?« Wieder startete Loj einen kühnen Angriff. »Hast für ihn gedacht und ihn dabei gewiss nicht nach seinen Wünschen gefragt? Ihr vom Geheimen Clan seid so was von überheblich. Nehmen, ohne etwas dafür zu geben ...«

»Längst nicht alle teilen deine Ansicht«, parierte Tel unerschütterlich. Ein rein weiblicher Einwand. »Selbst in der Sphäre, wo sich keiner mit euch Katzen messen kann ... ich meine, im Bett, selbst da waren wir doch in gewisser Hinsicht noch ein wenig besser.«

Der Schlag saß. Tel hatte auf etwas angespielt, bei dem die Katzen den Geheimen Clan nie hatten übertrumpfen können. Trotz aller Anstrengungen. Ach, du kleines Miststück! Was spielst du dich denn auf? Du hast doch nicht mal versucht, Viktor die Nacht zu versüßen!

Loj unterdrückte nur mit Mühe eine angemessene Antwort im Stile von: Ich geb dir gleich besser, du minderjährige Schlampe!

Selbst die Geduld der Ersten der Katzen war nicht grenzenlos!

»Na wunderbar, ganz toll, wohl bekomm’s«, flötete Loj stattdessen wieder mit engelsgleichem Stimmchen. »Aber was ist mit Viktor?«

»Bist du neuerdings für meine Tugendhaftigkeit zuständig, Loj? Willst du mein wandelndes Gewissen sein? Oder

»Heute ist wohl der Morgen der unbeantworteten Fragen«, schnurrte die Katze. »Jeder stellt Fragen, und keiner antwortet. Und einer schweigt ganz.« Bei diesen Worten warf sie einen schnellen Blick auf Viktor. »Als hätte er seine Zunge verschluckt.«

»Reden ist nutzlos«, sagte Tel mit gerunzelter Stirn. »Loj Iwer, Oberhaupt des Clans der Katzen, beabsichtigst du, dich uns in den Weg zu stellen?«

Dies war der erste Satz einer offiziellen Herausforderung. Loj sah, wie die Augen des Mädchens böse und voller Ungeduld blitzten.

Na was denn? Sollte sie sich mit einer vom Geheimen Clan prügeln?

»Ja störe ich euch denn?« Loj tat verwundert. »Euer Kahn schwimmt friedlich vor sich hin ... niemand hat ihn aufgehalten. Ich bin allein. Obwohl, ich könnte natürlich noch einige von meinen Jungs herbringen ...«

»Ja, und vielleicht würdest du dann mit mir fertig werden«, stimmte Tel ihr zu. »Aber mit ihm nicht.« Und sie nickte mit dem Kopf in Viktors Richtung.

Der schwieg noch immer. Und das war das Beste, was er im Moment tun konnte. Allerdings nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Denn wenn sie und diese Tel sich tatsächlich an die Kehlen gehen würden ... Es war nicht eindeutig, wer als Sieger daraus hervorginge. Das Mädchen schien sich selbst nicht mal so ganz sicher zu sein, was gut

»Aber mit ihm muss ich ja auch nicht fertig werden«, wandte Loj leichthin ein. »Er ist nicht mein Feind oder der meines Clans.«

»Bist du sicher?« Tel hob ironisch eine Augenbraue in die Höhe, und mit einem Mal sah sie gar nicht mehr wie ein Mädchen aus, sondern wie eine weise Lehrerin, die viel erlebt und viel gesehen hatte und in deren Gegenwart sich die mit allen Wassern gewaschene Loj plötzlich wie eine Schülerin fühlte. Trotzdem gab die Katze ihr Spielchen nicht auf, ganz im Gegenteil.

»Natürlich. Der Drachentöter ist ein Segen für die Mittelwelt. Ich habe die Herrscher nie gemocht ... ganz im Gegensatz zu deinem Clan, meine Liebe.«

»Wir mochten sie auch nicht«, schoss Tell trocken zurück. »Es steht dir nicht zu, darüber zu urteilen.«

Loj bemühte sich verzweifelt darum, wenigstens irgendeinen Widerhall bei Viktor hervorzurufen. Zur Not einen ganz plumpen, rein sinnlichen. Dann könnte sie etwas daraus lesen ... Aber so, er war wie eine Wand! Eine dumpfe Wand! Gänzlich undurchdringlich! Nicht mal auf das Wort »Drachentöter« hatte er reagiert, dabei hatte sie große Hoffnungen darauf gesetzt.

»Na ja, ob ihr sie mochtet oder nicht ... das ist Vergangenheit: Aber jetzt haben wir einen Helden. Einen Drachentöter, der den Drachen niederwirft, sollte es ihm einfallen, wieder bei uns aufzutauchen. Aber warum führst du den Drachentöter, Tel? Welchen Nutzen habt ihr davon?«

»Das verstehst du ohnehin nicht, Loj Iwer«, sagte Tel zänkisch.

»Bist du sicher? Aber vielleicht lohnt es sich doch, es mit einer Erklärung zu versuchen.«

»Ist das ein Verhör, Loj Iwer, Magierin ersten Ranges?«

»Ach, meine Kleine, vergessen Sie nicht Ihre Selbstbeherrschung. Wenn Sie jetzt noch rot werden, dann stehen Sie ganz dumm da.«

»Loj ist zum Sie übergegangen - o weh, dann steht es schlimm.« Tel lachte auf einmal sorglos. »Die Katze hat beschlossen, sich zu prügeln. Pass auf, dass du dir die Krallen nicht abbrichst.«

»Was willst du ... Loj Iwer?« Unerwartet und ganz ruhig stellte der Mann seine Fragen. »Was willst du wissen? Ja, ich bin der Drachentöter ... wahrscheinlich. Wolltest du das wissen? Oder die Grenzen meiner Kraft kennenlernen? Aber wozu brauchst du dieses Wissen, Loj Iwer?«

Er sprach gut. Nicht laut. Sicher. Für einen, der gerade erst von der Anderen Seite gekommen war, hielt er sich geradezu hervorragend.

»Ich möchte wissen, was mein Clan tun soll«, sagte Loj mit aller Aufrichtigkeit, zu der sie fähig war, und blickte ihm dabei in die Augen. Tel, die sie bei diesen Worten angespannt beobachtete, ignorierte die Katze völlig. »Meine Pflicht ist es, die Meinigen zu schützen. Dafür zu sorgen, dass sie kein Kanonenfutter werden, keine Waffe im Intrigenkampf der Elementaren Clans. Weißt du schon, wovon ich spreche? Du weißt, Viktor, dass der Clan der Luft dich jagt und seine Magier zum Äußersten bereit sind, um dich zu töten, nicht wahr? Der Clan des Wassers dagegen verteidigt dich ...«

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Tels Lippen ein feines spöttisches Lächeln umspielte. Was sollte das? Warum?

»Also, was willst du wissen?«, fragte Viktor wieder.

Loj hielt inne. Ja, dieser Mann war der Drachentöter. Sie konnte es spüren. Er hatte schon zwei Weihen durchlaufen und war doch nicht trunken von der eben gewonnenen Kraft. Das war mehr als ungewöhnlich.

Sie verspürte eine wohlige Wärme in ihrem Schoß. Wollte sie ihn, diesen Viktor? Ach, bitte, ja, ja ...

»Ich möchte wissen«, sagte sie langsam, »gegen wen du kämpfen wirst.«

»Das kann er nicht wissen, Loj«, mischte sich Tel mit scharfem Ton ein, und ihre Augen waren dunkel vor Zorn. »Treib ihn nicht noch tiefer in seine Verwirrung, als es ohnehin schon der Fall ist!«

Loj drehte sich zu dem Mädchen. Sie sah die vor Zorn glühenden Augen, spürte die zum Schlag bereiten Zauberkräfte ...

Schon seit Jahrhunderten war der Geheime Clan in der Lage, Menschen von der Anderen Seite in die Mittelwelt zu bringen. Jeden, auf den seine Wahl fiel. Konnte dieses Mädchen hier den Drachentöter herbringen? Konnte sie ... was hatte Torn noch gesagt über diesen Erschaffenen Drachen?

Aber weshalb wollte Ritor ihn dann töten? Weshalb? Loj verstand es nicht.

Loj Iwer ließ sich in die Hocke nieder, entspannt, locker, um mit ihrer ganzen Körperhaltung zu zeigen, dass sie nicht die Absicht hatte, sich zu prügeln. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit diesem ach so stolzen Mädchen zu streiten. Sollte sie sich ihre Gedanken machen, ob Loj sich vor ihr fürchtete oder sie einfach nur ignorierte.

»Verschwinde!«, sagte Tel und ballte die Fäuste. »Kusch!«

Aber das war zu viel ... Loj fühlte, wie ihr Blut in Wallung geriet. Indem Tel sie wie eine gewöhnliche Straßenkatze

Aber sich beleidigen zu lassen ...

»Du vergisst dich, Mädchen«, zischte Loj.

»Verschwinde! Zurück mit dir ins Dickicht, du wilde Kreatur! Geh, fang deine Mäuse ...«

Das brachte das Fass zum Überlaufen.

Loj sprang auf, in einem einzigen Augenblick wechselte ihre Körperhaltung von friedlicher Entspanntheit zu von unvorstellbarer Energie strotzender Kampfbereitschaft. Sie würde ihr die Augen auskratzen, den Hals aufreißen, das Deck in Blut tränken!

Noch in der Luft führte sie ihren Schlag aus - den berühmten Schlag ihres Clans: die unsichtbare Kralle. Nicht einmal Torn war es gelungen, ihm auszuweichen, dabei hatte sie ihn gegen ihn nur mit halber Kraft geführt, ihn nur angedeutet.

Das Mädchen versuchte, sich zu verteidigen - aber irgendetwas störte sie dabei; die Beschwörungsformel, die bereits in ihren Fingerspitzen hing, löste sich nicht; und während Loj auf den zarten Körper ihrer Gegnerin stürzte, begriff sie voller Freude, dass ihr Angriff gelungen war.

Aber ... wo waren die Wunden? Wo waren die tödlichen Spuren vom Schlag der vier unsichtbaren magischen Krallen? Krallen, die sie tief in den Körper des Mädchens hineingestoßen

Auf Tel liegend, schlug Loj noch einmal zu. Aus nächster Nähe, und dieses Mal ließ sie alle Energiereserven in den Hieb, die ebenfalls unsichtbare Katzenpfote, fließen. Um das Herz der Gegnerin zusammenzupressen, damit es für immer stehen blieb ...

Aber Tel hatte offensichtlich nicht die Absicht zu sterben.

Stattdessen hob sie den Arm und drückte Loj ihre Handfläche ins Gesicht.

Der Raum um die flache Handfläche gellte vor Kraft. Das war ... das war doch jener Schlag des Geheimen Clans ... von dem ihre Großmutter erzählt hatte ...

Loj machte sich ihrerseits bereit zu sterben.

Aber nein. Auch Tels magische Formel blieb auf halbem Weg stecken. Als ob eine Kugel den Lauf verlassen hätte und nun in der Luft hinge. Als ob eine ungeheure Kraft, die Tels Kunstfertigkeit und Lojs Meisterschaft geradezu jämmerlich aussehen ließ, mit einem einzigen leichten Lufthauch alle Magie zum Stillstand gebracht hätte ...

Loj hatte früher schon einmal von so etwas gehört!

Aber sie hatte keine Zeit nachzudenken; das Gesicht dieser verhassten Kröte war ganz nah, und es war Loj egal, dass die Magie ihr nicht gehorchte, sie würde diese Schlampe jetzt ... ganz ohne Magie ... wie bei einer ganz gewöhnlichen Prügelei unter ihresgleichen ...

»Ahhh!«, kreischte Loj und krallte sich in die kurzen Haare des Mädchens.

Die andere blieb ihr nichts schuldig; sie schlug auf Lojs Gesicht ein, kratzte nicht schlechter als eine echte Katze und versuchte dabei, die Augen zu erwischen. Die Frau und das Mädchen waren ineinander verkeilt und wälzten sich

»Ich reiß dir deine Fransen raus!«, schrie Loj wie im Rausch.

»Verschlissene Katze!«, gellte Tel, während sie sich die Haare der anderen um die Hand wickelte. »Au, au, das tut weh ...«

Jetzt prügelte Loj auf das Gesicht des Mädchens ein, versuchte ihm die Nase blutig zu hauen. Vielleicht bist du eine mächtige Magierin, Kleine, aber wenn es um eine ganz normale Schlägerei geht ... Au!

Mit gellenden Schreien lösten sie sich voneinander und stürzten jede in eine andere Richtung, als ein Strahl kalten Flusswassers auf ihre Körper niederging.

»Es reicht!«

Der Länge nach auf dem Deck ausgestreckt und auf ihre zerschrammten Ellbogen gestützt, hielt Loj entsetzt den Blick auf Viktor gerichtet.

Der Mann stand jetzt zwischen ihnen. Er hatte die Arme nach oben geworfen, und die Kraft, eine unfassbare, zornige Kraft brodelte am Himmel. Er war jetzt die Spitze eines Speers, der Schacht einer Windhose - aus ihm schlug eine solche Energie, dass Loj, die niemals irgendetwas fürchtete, sich nichts mehr wünschte, als die Augen zusammenzukneifen. Nein, ihre eigene Magie war nicht erloschen, aber für so etwas würde niemals die Kraft eines Einzelnen ausreichen ... ganz gleich, um wen es sich handelte. Ihre Katzenmagie suchte schmählich das Weite, zog den Schwanz ein, versteckte sich im tiefsten Inneren ihrer Herrin. Das

»Ich verbiete euch ...«

Viktors Blick verbrannte Loj. Er warf einen kurzen Blick auf Tel, und das Mädchen, das schon drauf und dran gewesen war, sich wieder in den Kampf zu stürzen, fiel in sich zusammen.

»Die Erste, die wieder losfaucht, werfe ich über Bord«, sagte Viktor kalt. »Verstanden?«

Loj hatte nicht vor, über Bord zu gehen. Sie blickte Viktor mit weit geöffneten Augen an. In ihr brannte eine Mischung aus grenzenloser Begeisterung, Angst, Bewunderung und Lust. Sieh mal einer an! Nicht zu fassen!

Dummer Torn, dummer Ritor, dumme Tel ... Oder wusste Tel Bescheid?

Sie blickte Tel in die Augen, aber darin lag im Moment noch zu viel Zorn. Loj konnte nichts erkennen.

»Ich entschuldige mich ... Viktor.« Loj erhob sich langsam und beugte den Kopf. Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: »Ich verzeihe Tel ihr Benehmen. Sie ist noch ein Kind ...«

Tels Zorn flackerte auf, und Loj hoffte nichts mehr, als dass die andere die Beherrschung verlieren würde. Und dann ab ins kalte Nass!

»Ich verzeihe Loj Iwer ihr Benehmen«, sagte Tel mit höflicher Stimme. Sie schluchzte kurz auf und fuhr sich mit der Hand über die Kratzer im Gesicht.

»Tut es weh, Tel?« Viktor machte einen Schritt auf das Mädchen zu. In seiner Stimme war Sorge zu spüren. Der ungeheure Strudel der Kraft, der um sie herum tobte, begann sich zu beruhigen.

Sie war eine würdige Gegnerin. Was machten ihr schon die paar Kratzer aus? Aber sie verstand sie auszunutzen ... schon flennte sie an seine Schulter gelehnt ... und blickte Loj dabei wütend an.

»Armes Mädchen!« Loj musste bei dieser Begegnung wirklich alle Register ziehen. »Komm her, ich heile deine Wunden ...«

Viktor blickte die Zauberin wohlwollend an und klopfte Tel auf die Schulter. »Gut. Ich bin froh, dass ihr euch beruhigt habt. Also, was willst du von mir?«

»Ich will dir helfen ...« Loj seufzte, aber sie hatte keine Wahl. »Dir und Tel.«

»Wir brauchen keine Hilfe.«

Loj schüttelte den Kopf. »Lehn meine Hilfe nicht gleich ab, Viktor. Auf euch wartet eine Falle. Und dieses Mal wird Ritor dir keine Chance lassen.«

Sie sprach im Bewusstsein dessen, dass ihre Rettung, und nicht nur ihre, sondern das ganze Los ihres Clans, von ihrer Aufrichtigkeit abhing. Von ihrer absoluten, vorbehaltlosen Aufrichtigkeit. Wenn sie sich nicht täuschte ... Nein, sie durfte sich nicht täuschen.

Und auch wenn Tel vor Wut aus der Haut fahren würde, Loj Iwer würde das Wohl ihres Clans im Auge behalten ... und vielleicht auch ihr eigenes. Gut möglich, dass sich am Ende die Gelegenheit bieten würde, eine echte Heldin des Katzenclans zu werden ...

Würde sie etwas vollbringen, was seit der Zeit des Auszugs noch keine ihrer Vorgängerinnen vermocht hatte?

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