8

Es wurde still, ganz still über dem riesigen felsigen Spitzzahn. Ritor machte mit der linken Hand gleichmäßige Bewegungen vor sich in der Luft, als wollte er einen unsichtbaren Vorhang zur Seite schieben.

Zärtliche Luftströme berührten ihre Schläfen, streiften spielerisch über ihre Wangen. Am Himmel über den Köpfen der sieben Magier entfaltete etwas langsam seine Flügel. War es ein Vogel, eine Libelle oder ein Schmetterling? Weiße Fäden fügten sich zu einem Paar gewaltiger Flügel zusammen, welche die ganze Welt zu umfassen schienen, vom Warmen Ufer bis zur unbekannten nördlichen Tundra; noch ein Faden rankte sich, und noch einer; schwer ist es, Spitzen zu klöppeln, besonders, wenn es noch nicht die Stunde der größten Kraft ist.

Ritor gab den Ton und das Tempo vor. Als Ältester war er verpflichtet, alle zu spüren und zu erkennen, wann sie an Tempo zunehmen, wann sie abnehmen und wann sie den Alten die Bürde erleichtern mussten. Wenn er sich hier irrte und die Kraft vergeudete, würde der Wind alles zu Staub zerwehen. Gaj und sein Bruder Roj flochten virtuos. Sie vermochten viel, sehr viel, aber das Alter forderte seinen Tribut. So großartig sie hier auf dem Gipfel des Spitzzahns

Sie mussten beide finden. Den Drachen und auch - ach, wie wunderbar wäre das! - den Drachentöter. Wenn Torn nicht geblufft hatte - und zu bluffen war nicht seine Art -, dann musste der Drachentöter schon hier sein. Und der Drache? Wer wusste das schon ... Auch Ritor konnte sich nicht vollständig auf seine Gefühle verlassen. Die Ankunft des Herrschers fand nicht in einer feierlichen Parade statt, denn auch der Geflügelte hatte noch nicht alle Weihen durchlaufen. Sogar Ritor musste sich der Zauberei bedienen, um jenen, der sich als ewiger Herr der Mittelwelt erwiesen hatte, ausfindig zu machen.

Beide zu finden war eine fast unerfüllbare Aufgabe. Aber verdammt, nun waren sie verpflichtet durchzuhalten. Oder zumindest den Drachentöter zu finden - was schwerer wäre, da er die Magie schwächer reflektieren würde als der Drache.

Gaj dehnte sich. Die weißen Flügel am Himmel waren der Erfolg seiner Arbeit. Genau wie der Wind, der straff und straffer gezogen wurde, der kämpfend und zürnend in einen allerfeinsten, unsichtbaren Windkanal gedehnt wurde und dann grimmig nach außen brach, ebenso wob und zog und dehnte Gaj den endlosen, lebendigen Faden, den Sandra und Solli am Himmel zu einem wundersamen Muster kräuselten. Nur wenige vermochten aus dem chaotisch geflochtenen Muster die Linien der Großen Runen zu lesen, die die Vertriebenen vom Heißen Meer mitgebracht hatten.

Asmunds Handfläche war nass vor Schweiß. Der Junge strengte sich bis zum Äußersten an, denn jetzt floss die Große Kraft durch ihn, und er musste fast die gesamte,

Boletus hustete zur Warnung. Die Windflügel, die über ihnen dahinglitten, zogen jetzt dank der durch Magie freigesetzten Kräfte Myriaden kleinster Windstrudel zu sich heran - aus allen Winkeln des großen Reiches.

Über der grenzenlosen, kaum hügeligen Ebene, die sich vom Warmen Ufer Hunderte von Kilometern in Richtung Norden erstreckte, beschleunigten die erzürnten Windströme ihre Geschwindigkeit ins Unermessliche und rasten geradewegs auf den Spitzzahn zu. Dort in der Höhe wuchs mit jedem Moment das wahnsinnige Tosen, denn der Wind hasste die Fragen und ordnete sich niemandem unter; nur mit Gewalt konnte man ihm Auskünfte entreißen, und wehe dem, der den Schlag seiner Antwort nicht ertrug.

Ritor sah, wie Gaj blass wurde und dessen älterer Bruder zu schwanken begann. Entschuldige, Asmund, dachte er, gleich werden die Schmerzen noch größer. Es ist gemein, aber du bist unser lebendiges Schild, und daran ist nun nichts mehr zu ändern. Die Jahre der Widerstandsfähigkeit vergehen im Flug, Asmund. Ich habe meine damit vergeudet,

Asmund zuckte plötzlich zusammen. Seine Hand zitterte, es schien, als würde sie sich jeden Augenblick aus Ritors Griff losreißen. Der Junge biss sich auf die Lippen, seine Augäpfel rollten nach hinten.

»Sandra!« Mit scharfem Ton gab das Oberhaupt der Luft seine Anweisungen. Aber die Zauberin hatte bereits von sich aus erkannt, was nötig war. Ohne den Kreis der Hände aufzubrechen, machte sie einen Schritt in die Mitte hin, beugte sich mit jugendlicher Geschmeidigkeit nach vorne und drückte ihre Stirn gegen die schweißbedeckte Stirn des Jungen. Sie verzog schmerzlich das Gesicht, aber ihre Aufgabe hatte sie erfüllt: Der Schraubstock des Schmerzes lockerte seinen eisernen Griff, Asmund richtete sich auf, und sein Blick wurde wieder verständig.

»Halte durch, Junge«, knurrte Ritor durch die Zähne. Die Welle des Schmerzes, die für kurze Zeit abgeflaut war, erreichte auch ihn. »Halte durch. Wenn du es nicht schaffst, wird es mit unseren Alten ein schlimmes Ende nehmen.«

Nur gut, dass weder Roj noch Gaj diese Worte gehört hatten.

Die Flügel waren inzwischen größer und größer geworden. Es sah aus, als würden sie den ganzen Himmel bedecken. Das blaue Himmelsgewölbe war verschwunden, schwarze Wolken ballten sich wie ein dichter Schleier vom Zenit bis zum Horizont, das Tageslicht war verloschen, nur die weißen Federstriche der Flügel hoben sich noch vor dem schwarzen Samt des Himmels ab.

Ritor sammelte sich. Nun begann das Wichtigste. Die Ströme, die den Raum durchquert hatten, trugen Nachrichten

Neuankömmlinge von der Anderen Seite. Neuankömmlinge von den Angeborenen. Neu ... neu ... neu ... neue Kinder bei den Einheimischen dieser Länder, der Mittelwelt. Die Flügel schüttelten jetzt ganze Ozeane von Informationen - wie die Leute von der Anderen Seite das nannten - aus sich heraus. Für die richtige Antwort war Ritor bereit, seine Magierkollegen in den Tod zu treiben.

Wenn der Drachentöter schon hier war, musste die Luft es wissen. Das kochende Blut wirkte schon, auch wenn der feuerrote Streifen noch nicht in der Aura zu erkennen war. Der ewige Zorn der vier Elemente musste diesen vom Schicksal auserkorenen Menschen bereits berührt haben, veränderte ihn schon - vielleicht sogar, ohne dass der Drachentöter selbst es bislang bemerkt hatte. Die kleinsten Teilchen des Windes erinnerten sich daran. Der hochfahrende Zorn und die Gier zu töten, die Fähigkeit, andere zu unterwerfen und geradewegs und unerschütterlich auf das ersehnte Ziel zuzugehen. In der Regel hatte der Auserwählte nicht über diese Eigenschaften verfügt, ehe er zum Drachentöter geworden war. Das wusste Ritor aus eigener Erfahrung. Weit war sein Weg gewesen, vom bescheidenen, verschämten Jungen, vom Bücherwurm und keuschen Jüngling zum jetzigen Ritor, dem bis heute - trotz Asmunds großem Talent - besten Zauberer des Clans der Luft.

Das rasende Heulen in der Höhe wurde immer unerträglicher. Die riesigen Flügel versuchten sich zu lösen, freizubrechen. Versuchten zu schlagen, mit aller ihnen zur Verfügung stehenden, unaussprechlich großen Kraft, und sich von der Schöpfung Erde loszureißen, mit einer einzigen vernichtenden Bewegung diese verhasste steinerne Scholle

Die zum Äußersten gespannte Leine hielt jedoch die Flügel im Zaum. Die Stunde der größten Kraft hatte geschlagen.

Das Muster der Flügel begann zu verblassen. Die Runen zitterten und veränderten ihre Gestalt. Sandra und Solli sperrten die Münder auf. In ihrer Erinnerung geschah dies zum ersten Mal. Aber Roj hatte so etwas schon einmal gesehen. Ebenso Ritor. Und er wusste genau, was als Nächstes folgte.

Die Flügel hatten das Gesuchte gefunden. Aber sie stießen dabei auf fast unüberwindlichen Widerstand. Die straff im Kreisbogen eingespannten, tobenden Windströme begannen auszubrechen. Nur noch wenige Minuten, ehe die bindende Formel schwächer und sich ein rasender Sturm in die Freiheit losreißen würde; wehe dem, der sich ihm in den Weg stellte!

»Öffne die Schleuse, Sandra«, bellte Ritor. Jetzt durften sie nicht an sich denken, sondern mussten das Unglück von ihrer Stadt abwenden. Natürlich hatte Ritor einen derartigen Ausgang vorhergesehen. Ein Weg war vorbereitet, auf dem der Wirbelsturm in die leere, leblose Steppe abgeleitet werden würde.

»Ich öffne sie!«, schrie die Zauberin und versuchte das Heulen des Hurrikans zu übertönen. Ihr Gesicht war gerötet vor Anspannung.

Asmund stöhnte wieder auf. Er hatte seine Lippe aufgebissen, auch aus seiner Nase schoss Blut, aber er hielt sich tapfer.

Noch nie war Ritor auf einen so starken Widerstand getroffen. Die Magier des Clans hatten alle ihre Kräfte aufgeboten, Flügel über den ganzen Himmel gespannt, und ... und ... nichts. Genauer gesagt, etwas. Etwas so Starkes, dass ...

»Da ist er!«, heulte Gaj auf einmal auf.

Auch Ritor hatte ihn bereits erspäht.

Augenblicklich erkannte er das kleine Städtchen. Im fernen Norden, gleich bei der Grenze - wohl das Territorium des Clans der Erde. Ein staubiger, kleiner Bahnhof. Entlang des hölzernen Bahnsteigs zog sich ein in den Farben der Barbaren angemalter Zug. Ritor erfasste eine Welle der Angst, es war die Angst jener Leute, die in den Eingeweiden des Zuges eingepfercht waren. Und dann sah er einen nicht mehr ganz jungen Mann, etwa um die dreißig, der hager und dunkelhaarig war, eine schwarze Jacke und ein Elfenschwert in einer albernen, unpassenden Scheide trug.

Die Macht des ungehemmt rasenden Windes war so gewaltig, dass Ritor sogar - o Glück! - Wortfetzen hören konnte, die sich im Inneren des Fliehenden verbargen.

Der Raum schmolz, löste sich in Weiß auf. Er lief nicht, sondern er flog. Eilte durch eine helle, weiße Nacht - wie in Sankt Petersburg. Nur ein Blick nach hinten, und die Furcht überwältigt den Verstand. Durch die schaumigen Wolken gleitet ein geflügelter Schatten. Riesenhaft. Bedrohlich. Todbringend. Entweder spiegeln sich die Sterne in der schneeweißen Schuppe, oder sie leuchten ganz von selbst. Gleichmäßig schlagen die Flügel in der dünnen Luft, in den großen, flimmernden Augen liegt Zorn. Er hat es gewagt, den Geflügelten herauszufordern, er hat es gewagt, obgleich er noch nicht die Kräfte hat, mit ihm fertig zu werden. Und jetzt holt jener ihn ein, der Gebieter des Himmels und der Meerestiefen, der Herr über die Erdscholle und das Feuer.

Ritor schrie auf. Es war der rasende Schrei eines Spielers, der nicht nur sein eigenes Leben auf ein Pferd gesetzt hatte, sondern das Leben der ganzen Welt.

»Er ist es! Er ist es!«

Er spürte den Drachentöter - so hell und deutlich, wie es nur ein Bruder vermag.

In diesem Augenblick riss sich der Wind endlich los.

Asmund stöhnte dumpf auf und verlor das Bewusstsein. Ritor konnte seinen taumelnden Körper im letzten Augenblick vom Rand des Abgrunds fortziehen.

»Hinab! Alle hinab!«, schrie Ritor, während er den Strom des Schmerzes auf sich lenkte. »Sandra ...«

Aber weder sie noch Solli hörten ihn noch. Sie benötigten keine Anweisungen. Mit ausgebreiteten Armen standen sie da, versuchten sich auf dem Gipfel des Spitzzahns zu halten und lenkten den zerstörerischen Wirbelsturm hinter den Fluss in die Steppe, so weit wie möglich weg von ihrer Stadt. Die unsichtbare Faust des aufgewühlten Elements traf beide auf die Brust. Ritor sah, wie Sandras Kopf zuckte, wie dampfendes Blut in die Luft spritzte; die Zauberin schwankte, wedelte krampfhaft mit den Armen - ihre weit aufgerissenen Augen waren starr vor Entsetzen -, und mit rasendem Geheul stürzte sie in die Tiefe. Solli hielt sich, er stand - sein Gesicht war entstellt, die Haut auf den Wangenknochen geplatzt, die Augen waren fest zusammengekniffen; Ritor durchfuhr es heiß, denn so schnell hatte der Magier die Formel verändert. Der unsichtbare Hammer raste hinaus über die Stadt ... und Ritor stand immer noch, wie versteinert, und hielt Asmunds Körper umklammert. Dem Hurrikan den Weg zu öffnen war Sandras und Sollis Aufgabe gewesen. Boletus hatte sie sichern sollen ... wo war der eigentlich?

Die Plattform auf dem Gipfel war leer. Weder die Alten, Roj und Gaj, noch der hakennasige Zauberer waren zu sehen. Nur der bewusstlose Asmund, Solli und er selbst. Ritor hielt bis zum Schluss die Flügel zusammen, die bereit waren, jede Sekunde aufzureißen. Denn dann würde die Stadt keine Magie mehr retten können.

Über ihnen braute sich etwas Unvorstellbares zusammen. Das elegante Muster der Flügel verwandelte sich in ein fahlweißes Chaos, Flecken lebendiger Fäulnis auf dem dunklen Körper des Äthers. Ritor erahnte darin ein von unmenschlichem Zorn verzerrtes Gesicht. Der Wirbelsturm knetete und zerrte den weißen Nebel, spann ihn zu gigantischen Windstrudeln über dem steilen Spitzzahn; die heulenden Windströme rasten in Richtung Nordwesten, den von Solli geöffneten Weg entlang, aber ihre Ränder brodelten und wurden auseinandergedrückt, so wie bei Hochwasser die Seiten hölzerner Ablaufrinnen auseinandergedrückt werden; unten am Fuße des Felsens herrschte tödliche Stille - der Vorbote eines vernichtenden Sturms oder ... eines glücklichen Ausgangs.

»Nimm Asmund, und dann nichts wie weg von hier!«, sagte Ritor in scharfem Ton. Aber Solli schüttelte nur den Kopf. Wie er sich hielt, war Ritor ein Rätsel. Gleich einer Rasierklinge hatte der Wind dem Magier das Gesicht zerschnitten. An seinen Schläfen waren schon die Knochen freigelegt. Rinnsale aus Blut zogen sich über seinen Rücken, dennoch stand der Magier noch immer.

Jetzt erreichte der Wind Ritor, krallte sich an seinen Schultern fest, zerrte ihn mit unüberwindlicher Stärke zum Abgrund hin. Asmund wurde über die Steine hinterhergeschleift. Der Junge stöhnte und öffnete die Augen.

»Hinunter mit dir!«, befahl ihm Ritor. Der Junge konnte hier nichts mehr ausrichten. »Linse!«

Asmund nickte gehetzt. Offenbar hatte er begriffen, was er zu tun hatte.

Ritor schleuderte ihn wie einen Sack Mehl über den Rand der Plattform.

Es ist an der Zeit, dass du auslernst, Asmund.

Als Nächstes eilte Ritor Solli zu Hilfe. Zu zweit mussten sie ausharren, bis die am Steilfelsen versammelte Kraft sich erschöpft hatte.

Aber jetzt konnte Solli sich nicht mehr halten. Er hatte alles verloren. Sein Gesicht hatte sich in eine einzige blutige Maske verwandelt. Mit äußerster Grausamkeit hatte der Wind ihm den Skalp vom Kopf gerissen. Einen flüchtigen Augenblick lange wunderte sich Ritor, dass Solli noch am Leben war, dann brachte er den Magier mit einem genau berechneten Stoß in die Kniekehlen zu Fall.

Alles barst auseinander, niemand dirigierte mehr den wirbelnden, reißenden Windstrom, der nun in wilder Freude über seine Freiheit zu tanzen begann, hin und her raste wie ein junger, launischer Stier, von einer Seite zur anderen, und dabei alles zermalmte, was auf seinem Weg lag. Und vermutlich hätte er keinen geringen Schaden angerichtet, hätte der Clan der Luft beim Bau seiner Stadt nicht die Möglichkeit solch willkürlich gewalttätigen Wirkens in Betracht gezogen. Den Höhepunkt seiner Kraft hatte der Hurrikan überschritten; umgerissene Zäune, eingedrückte Fensterscheiben und hier und da entwurzelte Bäume nicht mitgerechnet.

Als das Heulen und Rasen sich gelegt hatte, sah Ritor von oben, wie die Menschen scharenweise aus ihren Häusern auf die Straßen der Stadt strömten. Sie liefen zum Felsen,

Vor Ritors Augen stand das Gesicht des jungen Mannes in seiner schwarzen Jacke und mit dem absurden Elfenschwert in den Händen. Das Gesicht des Drachentöters.


Viktor hatte nicht einen trockenen Faden mehr am Leib. Er zog sich aus, wrang seine Kleider aus und hängte sie an den Wänden des Abteils auf. Dann wickelte er sich in eine dicke kratzige Wolldecke ein und setzte sich ans Fenster.

Wahrscheinlich war seine Platzwahl mit eigenem Abteil ein wenig übertrieben gewesen. Das hier war ein ganzes Zimmer auf Rädern. Die Wände waren mit rosafarbener Seide bespannt, an der Decke hingen zwei Lampen mit Schirmen aus farbigem Glas. Ein großes schweres Bett, das eher in ein Museum als in einen Zug gepasst hätte, ein runder Tisch mit zwei Sesseln und eine mit Flaschen und Krügen gefüllte Bar aus geschnitztem Mahagoni standen darin. So war es richtig, nach dem Wahnsinn auf dem Bahnsteig war nun ein Augenblick der Behaglichkeit gekommen.

Jaroslaw sah ebenfalls zum Fenster hinaus. Viktor fühlte sich nicht ganz wohl neben dem schweigsamen und beherrschten Jungen - nein, das war natürlich keine Gleichgültigkeit und auch kein Zynismus ... Und doch hätte er von einem Jungen, der gerade drei Brüder und den Vater verloren hatte, eine andere Reaktion erwartet.

»Kennst du dieses Medaillon?« Viktor deutete zu dem Miniaturporträt auf dem Tisch.

»Ja.«

»Woher?«

»Es hing bei uns zu Hause an der Wand. Manchmal hat Vater es mit sich genommen ... wenn er für längere Zeit fortging.«

Was für eine erschöpfende Auskunft ...

»Jaroslaw, ich verstehe noch nicht viel von eurer Welt.«

Der Junge rückte ein wenig hin und her auf seinem Platz, blickte aber immer noch zum Fenster hinaus. Dort zogen Hügel und kleine Wäldchen vorbei - eine friedlich-bukolische Landschaft. Je weiter man in die Ferne blickte, umso dichter wurde der Wald, der am Horizont zu einem undurchdringlichen Dickicht verschmolz.

»Vater hat gesagt, dass Sie sich nicht gleich über sich selbst im Klaren sein würden«, antwortete er. »Ich ... ich verstehe schon. Das Medaillon ist das Zeichen der Wächter der Grauen Grenze.«

»Dein Vater war Wächter. Das heißt, er passte auf, dass die Toten nicht ...«

Der Junge wandte Viktor das Gesicht zu und blickte ihn überrascht an. Jetzt begriff Viktor, warum er so stur zum Fenster hinaus gestarrt hatte: In den geröteten Augen des Jungen glänzten Tränen.

»Auf die Toten aufpassen? Aber wieso sollte jemand auf sie aufpassen? Die Wächter sorgen dafür, dass die Lebenden die Toten nicht kränken.«

Viktor wusste nicht, was er sagen sollte - die ganze Situation kam ihm so absurd vor.

»Sie haben doch keine Schuld«, sagte der Junge ein bisschen trotzig. »Sie wurden in die Welt zurückgerufen, gezwungen zu denken und sich zu bewegen, nachdem sie schon gestorben waren. Sie haben schon keinen ewigen Frieden bekommen, da sollte man sie doch wenigstens ungestört in ihrem Reich leben lassen. Die Graue Grenze hindert

Aus seiner Stimme klang Empörung.

»Dabei gehören sie doch zu uns! Das sind unsere Leute! Menschen und Elfen und Gnome. Sie waren nicht schuld an dieser Schlacht und daran, dass man sie danach von den Toten erweckte. Mein Urgroßvater gehört dazu ... und der letzte Herrscher der Elfen und der Rat der Gnome. Die Wächter halten die lebenden Menschen, so gut es geht, von der Grenze fern, indem sie sie erschrecken. Wir ...« - dieses wir klang, als wäre der Junge bereits dreihundert Jahre alt -, »wir sind damals absichtlich dort geblieben. Wir haben einen Schwur geleistet, dass wir unsere Brüder beschützen werden, nachdem wir sie verraten haben und sie schon nicht sterben ließen. Und das tun wir, wir beschützen sie.«

»Deshalb hat dein Vater die Leute überfallen?« Viktor konnte sich nicht zurückhalten. »Um sie von der Grenze fernzuhalten?«

Der Junge senkte den Kopf und sagte leise: »Nein, nicht nur. Aber deshalb auch ... und ... das Leben bei uns ist hart. Es gibt dort fast keine Tiere, die Erde ist unfruchtbar - denn die Grenze liegt direkt daneben. Von irgendwas müssen wir leben ...«

»Ich verstehe«, sagte Viktor. Aber es klang angestrengt, denn er konnte einfach keine Rechtfertigung für Räuberei akzeptieren. Seine Güte hatte auch nie ausgereicht, um Verständnis für die kleinen Straßengauner und die korrupten Staatsdiener zu haben, die das Land zugrunde gerichtet hatten. Und auch das Verhalten dieser Räuber hier konnte er nicht rechtfertigen - ganz gleich, was dafür sprach.

»Sie sind sowieso wütend auf uns«, sagte der Junge. »Ich weiß schon. Sie sind wütend, aber verzeihen Sie meinem Vater.«

»Ich habe ihm verziehen. Ganz ehrlich.« Diese Worte kamen ihm leichter über die Lippen, und Jaroslaw nickte dankbar.

Viktor stand auf, ging zur Bar hinüber, öffnete sie und betrachtete die Flaschen. Schließlich wählte er einen schlichten Krug - am Ende musste er dafür noch extra bezahlen -, nahm ein Kelchglas und kehrte zu seinem Platz am Tisch zurück.

Das Getränk war göttlich. Kein Brandy, wie er zuerst dachte, sondern ein starker, süßlicher Likör, der Dutzende von Kräutern auf der Zunge erahnen ließ. Auf dem Krug waren irgendwelche Runen eingraviert. War das vielleicht ein Elfengetränk?

»An der nächsten Station steigst du aus«, befahl Viktor.

Der Junge nickte schweigend.

»Sieh zu, dass der Grenzer in Würde beerdigt wird. Dann kehrst du nach Hause zurück. Wer wartet dort auf dich?«

»Niemand.«

»Gehst du auch nicht verloren?«, fragte Viktor nach kurzem Schweigen. Er durfte nicht zulassen, dass der Junge sich an ihn hängte. Auch nicht aus Mitleid.

»Ich gehe nicht verloren.«

»Gut. Ich schlafe jetzt. Weck mich, kurz bevor wir die Station erreichen.«

Der Junge nickte.

»Das dauert noch. Wir müssen die Grenze umfahren.«

Viktor blickte aus dem Fenster, als könnte man in dem Meer aus Wald die Grenze zwischen der Welt der Toten und der Welt der Lebenden erkennen.

Und genau das war der Fall!

Da waren fast unmerkliche, ganz vage und doch unzweifelhafte Kräfte anwesend. Als wäre ein stürmischer Wind durch den Wald gejagt, wichen die Bäume zur Seite, krümmten sich; als wirbelte eine Bö hindurch, brachen Äste ab; als hätte ein stürmisches, in der Höhe verlaufendes Feuer eine Schneise durch den Wald geschlagen, die Baumkronen in Brand gesetzt und verkohlt; als wäre eine Wolke aus Staub aufgewirbelt worden und hätte sich für immer auf dem Laub abgesetzt. Das Band, das sich durch den Wald zog, war fein, fast nicht wahrnehmbar - aber es war auch nach all den Jahrhunderten noch lebendig. Die Absperrung, die Grenze. Die Graue Grenze.

»Im Namen der vier Elemente ...«, flüsterte Viktor.

Wieder rollte es heran, ergriff ihn wie eine Welle - er war schon nicht mehr er selbst oder nicht mehr nur er selbst.

»Mit der Luft und dem Feuer, mit dem Wasser und der Erde - mit den ewigen Kräften trenne ich euch von den Lebenden ...«

Der Zug rüttelte heftig. Die Lampen gingen an und aus. Der Junge saß nicht mehr im Sessel, sondern drückte sich in eine Ecke und starrte Viktor entsetzt an.

»Und ich ziehe die Graue Grenze zwischen euch und jenen, denen es noch bevorsteht zu sterben ...«

Und dann kam es schlagartig über ihn. Wie ein Kontrapunkt. Sein Bewusstsein vernebelte sich. Erdbruch, Wirbel, Wasserstrudel, Flamme ...

Die Letzten. Die zwei Letzten. Die schon seine Kraft spüren, die schon ahnen, dass auch sie nicht standhalten werden. Lodernder Wald, Wasserfluten stürzen vom Himmel, aber sie zischen und verdampfen, haben nicht die Kraft, die aufgequollene Erde zu erreichen. Und er geht durchs Feuer - ihm ist diese Macht gegeben, er hat die Kräfte, um sich allen Elementen entgegenzustemmen.

Und die beiden Letzten erkennen das.

Der Himmel trägt sie nicht länger, die Luft unter ihren Flügeln gibt nach, eine Sintflut drückt sie nieder, und die Erde tut sich auf unter dem ungeheuerlichen Gewicht ihrer schuppigen Körper, und ihre todbringende Flamme, die alle Feinde stets so gehorsam zu Asche versengte, droht nun in den Abgrund zu stürzen.

Das heißt, sie werden ihm mit menschlichem Antlitz begegnen.

Das heißt, auch er wird sie als Mensch einholen.

Die Abrechnung. Für die tausendjährige Herrschaft, für den Grimm und die Unbeugsamkeit, für die Weigerung, auch nur einen Funken der Macht zu teilen, für maßlosen Dünkel und Stolz.

Er ist auserwählt - und er wird zum Banner der neuen Ära. Zum Boten der Freiheit.

Der Wald wird lichter, in der Ferne glitzert das Band eines Flusses, und an dessen Ufer sieht er die Letzten stehen. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt einen schwarzen Harnisch, die Frau eine zerrissene Tunika. Sie hat bei dem flüchtigen Kampf im Himmel mehr abbekommen.

Der Mann im schwarzen Harnisch geht voran, ihm entgegen. Sein Gesicht ist vom vergitterten Visier des Helms völlig verdeckt. In der Hand hält er den Griff eines Schwertes. In seiner Stimme erklingt Müdigkeit - nicht Angst und auch kein Hass. Wenigstens verstehen sie es, mit Würde zu verlieren.

»Warum verfolgst du uns? Wir gehen fort. Wir sind schon auf dem Pfad. Ihr wollt Freiheit? So nehmt sie euch ...«

In seinen Worten liegt Wahrheit, aber die Zeit der Mildtätigkeit ist vorbei.

»Ihr geht nirgendwo hin. Denn ich bin der Drachentöter.«

Der Mann hebt sein Schwert. Vielleicht glaubt er immer noch an seinen Sieg. Vielleicht sucht er einen schönen Tod ...

Es war vorbei. So schnell, wie es gekommen war, und zurückgeblieben waren nur eine brausende Schwere im Kopf und schwache Hände. Der Zug schaukelte über die Gleise, vor dem Fenster zog sich, tief versunken im Wald, die unsichtbare Grenze entlang.

»Was ist mit mir, hm?« Viktor war sich nicht im Klaren darüber, ob er seine Frage an den Jungen oder an sich selbst gerichtet hatte.

Aber der Sohn des Grenzers wusste die Antwort nicht, und Viktor erst recht nicht.

Doch der Junge gab sich alle Mühe. Er schien seine Worte sehr sorgfältig zu wählen. Er versuchte, eine Sache so einfach wie möglich auszudrücken, die noch nie einer Erklärung bedurft hatte. »Die Magier leben in Clans am Ufer des Ozeans. Die Städte der Menschen sind für sie unwichtig. Es gibt die Elementaren Clans. Vier an der Zahl. Sie stehen an der Spitze unserer Welt.«

»Ich verstehe. Davon hab ich schon gehört.«

»Dann gibt es die Tierclans.« Jaroslaw zuckte mit den Schultern. »Das sind Werwölfe. Sie sind fähig, etwas vorzuspiegeln ... sich in Tiere zu verwandeln. Sie sind schwächer, aber auch ihre Kraft ist groß ...«

Er wollte fortfahren mit seiner Erklärung. Aber ganz gleich, ob der Sohn des glücklosen Grenzers sich gut auskannte oder weniger gut, für den Augenblick war es ganz offenbar zu viel für Viktor. Aus der Tiefe tauchten wieder zerstörerische Visionen auf - Feuer und Wasser, einstürzende Berge und reißende Wirbelstürme. Schmerz zerrte an Viktors Schläfen, und er hatte das Gefühl, sein Kopf sei von einem Pfeil durchbohrt worden.

Mit einer Handbewegung brachte Viktor den Jungen zum Verstummen.

Weiter durfte er nicht gehen. Alles, was er aufsaugte, spiegelte sich in seinem Gedächtnis, wie sich in einem gebogenen Spiegel die sengende Hitze der Sonne sammelt. Er konnte nicht zu viel auf einmal davon verkraften. Zu groß war die Versuchung, gleich vom ersten angeblichen Fachmann alles Notwendige in Erfahrung zu bringen, alles fix und fertig präsentiert zu bekommen. Irgendetwas bewahrte Viktor davor ...

»Herrscher.« Der Junge machte sich offenbar Sorgen, als Viktors Schweigen sich in die Länge zog.

»Alles in Ordnung.« Viktor schluckte den Kloß in der Kehle herunter. »Ihr habt mir wirklich geholfen. Ich bin deiner Familie dankbar.«

Vielleicht spürte Jaroslaw die Lüge in diesen Worten. Aber seine Ehrfurcht für den Herrscher war zu groß.

»Kommt die Station bald?«, fragte Viktor.

Der Junge blickte lange zum Fenster hinaus.

»Ja, bald. Noch eine halbe Stunde oder eine Stunde ...«

»Du steigst aus«, wiederholte Viktor. »Hier, nimm.«

Und bei diesen Worten zog er das Säckchen mit den Edelsteinen aus seinen trocknenden Jeans und suchte schweigend drei blutrote Rubine heraus.

»Wir dienen euch nicht für Geld, Herrscher!«

»Ich weiß. Aber ich belohne Treue.«


Unmittelbar nach Loj Iwers Zusammenstoß mit Torn bekamen ihre Kundschafter Aufgaben, die ihnen den Schweiß ins Gesicht trieben.

Denn ... wo war der Clan des Feuers?

Und warum war außer Ritor kein einziger Vertreter vom Clan der Luft zum Ball erschienen?

Und wie hatte es, bitte schön, zu diesem Schlagabtausch zwischen zwei mächtigen Magiern kommen können? Wie konnte Torn es wagen, alle geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze zu brechen und den Zwist geradewegs hier auf Loj Iwers Ball auszutragen?

Was bedeutete das alles?

Wenn eine Angelegenheit nach »angebranntem Schwanz« roch, wie die Katzen zu sagen pflegten, dann bevorzugte Loj die groben Waffen der Schmeichelei und Verschlagenheit. Schmeichelei, Verschlagenheit und natürlich gute Ratschläge. Dabei war es allerdings vonnöten, dass die Ratgeber nicht bemerkten, dass sie ihr in irgendeiner Weise halfen.

Ein enger Kreis vertrauenswürdiger Freundinnen (wenn man diesen Begriff überhaupt für Katzen verwenden will) hatte sich um sie versammelt, nur drei an der Zahl, aber mehr war auch nicht nötig. »Die Wahrscheinlichkeit einer undichten Stelle wächst proportional zur Anzahl derjenigen, die in ein Geheimnis eingeweiht sind« - diese Regel

Die Großmutter hatte damals auch ihre Gefährtinnen ausgesucht. Das verstand Loj natürlich erst jetzt; es war kein Zufall, dass ausgerechnet die bis zur Selbstaufgabe ergebene Kari, die nie etwas anderes als Bewunderung für Loj hegte, deren beste Freundin geworden war. Die alte Iwer hatte die Fähigkeit, geradewegs in die Menschen hineinzusehen; daher waren von jüngster Kindheit an nur solche Leute in Lojs Umgebung anzutreffen, die vor allem die vorteilhaften Züge des Mädchens zur Geltung brachten. Auf diese Weise wurde auch die kluge, aber freudig im Schatten zurückstehende Kari zu ihrer Vertrauten. Das Gleiche galt für die Jungen, die zu gegebener Zeit anfingen, Loj zu hofieren. Unter ihnen waren keine Schwächlinge und Einfaltspinsel, sondern nur zukünftige Kämpfer und Führer des Clans (wenn man denn dieses Wort überhaupt für die Kater des Clans der Katzen verwenden will). Und die Erzählungen über die Tollheiten der jungen Kater verbreiteten sich in der ganzen Mittelwelt und trugen einiges zu Lojs eigenem Ruhm bei. Klug war ihre Großmutter gewesen; und wenn Loj gelegentlich in den Sonnenuntergang blickte, wohin die Alten des Clans, der Tradition folgend, zum Sterben gingen, dann erinnerte sich die Enkelin mit Wärme an ihre Ahnin ...

»Ich habe Eilboten zum Clan des Feuers geschickt«, sagte Loj. Hinter den Wänden heulte düster der Wind - verdächtig stark heulte er. Hatte der stolze Ritor am Ende befunden, dass man die Katzen nicht aus den Augen lassen durfte? Dann stand es schlecht. Sich mit dem mächtigsten Zauberer der Mittelwelt anzulegen, dazu verspürte Loj nicht die geringste Lust. »Eine Antwort müssten wir übermorgen erhalten ...«

»Und mit welcher Antwort rechnest du?«, fragte Kari.

Loj zuckte mit den Schultern. Dies war einer der seltenen Fälle, in denen man nicht die geringste Ahnung hatte. Für gewöhnlich bestätigten die Nachrichten ihrer Kundschafter bloß ihre eigenen Vermutungen, aber diesmal blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, und das ärgerte die ungeduldige Katze maßlos.

In Lojs Boudoir war es überraschend eng. Im Vergleich zu dem weitläufigen Ballsaal wirkte das befremdlich. Aber daran war nichts zu ändern, denn es entsprach ganz der Natur des Clanoberhaupts: Wahre Behaglichkeit fanden die Frauen des Clans nämlich nur in solchen heimeligen, halbdunklen, mit weichen Kissen ausgelegten Räumlichkeiten. Die Freundinnen lehnten bequem in den Polstern, und jede hatte auf einem Tischchen vor sich einen kleinen Krug mit ihrem Lieblingswein. Aber sie rührten ihre Getränke fast nicht an, sondern schwiegen in dem Bewusstsein, dass die Situation für einen ganz normalen fröhlichen Mädchenabend einfach zu ernst war.

»Es ist irgendwie ungewöhnlich, so über die Ereignisse im Dunkeln zu tappen«, bemerkte die affektierte Lola, die Einzige aus Lojs Umfeld, die von der Anderen Seite stammte. Ihren eigenen Erzählungen zufolge war sie dort eine große Gelehrte gewesen - vergleichbar einem Magier in der Mittelwelt. Aber Loj war schon vor langer Zeit zu der Überzeugung gekommen, dass die Geschichten derer, die aus anderen Welten kamen, nicht allzu viel Wahres enthielten. Sie waren eher Träume ...

»Wie konnte uns Torn nur entwischen?«, seufzte Ota. Sie war eine starke Persönlichkeit, eine blendende Schönheit und eine gute Magierin. Frauen ihrer Sorte band Loj mit einem einzigen Ziel an sich: um sie immer im Auge zu

»Was ist los mit euch, Mädchen?«, sagte Loj mit gerunzelter Stirn. Sie durfte Ota auf keinen Fall zustimmen. »Wollen wir hier vor Bedauern zerfließen? Wollen wir uns etwa mit Selbstvorwürfen zermartern, weil uns einer entwischt ist? Wir, die Katzen? Wollen wir in Panik verfallen? Wir werden Torn und diesen stolzen Ritor schon noch dazu bringen, nach unserer Pfeife zu tanzen! Sagt mir lieber, was es war, was die beiden nicht teilen konnten.«

»Sicher nicht die Macht«, bemerkte die dunkelhaarige Kari bedächtig. »Ritor hängt nicht daran.«

»Das ist richtig«, stimmte Ota ihr zu. »Er hat noch nie versucht, die Oberherrschaft ...«

»Ritor hat nur eine, dafür aber durch und durch glühende Leidenschaft«, erklärte Lola, »und das sind die Angeborenen.«

»Genau«, pflichtete Loj ihr bei. »Aber was hat das für einen Zusammenhang mit Torn? Das Wasser hat nie viel für die anderen Clans an diesem Ufer übriggehabt ... Ich würde sogar sagen, das Gegenteil war der Fall.«

»Also doch die Macht?« Kari verschränkte ihre schmalen Arme.

»Was Torn angeht, ist das immerhin denkbar.« Lola zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. »Er ist stark ... und ehrgeizig. Reich. Er presst die Abgaben mit allen Mitteln aus seinen Leuten heraus. Und das Strafkommando des Wassers kennt keine Erschöpfung. Könnte es sein, dass sie sich wegen des Clans der Erde in die Haare geraten sind?«

»So heftig, dass sie ihren Streit auf meinem Ball austragen?« Loj schüttelte erregt den Kopf. »So gierig ist nicht einmal Torn.«

»Er hat unsere Gepflogenheiten bislang immer geachtet«, sagte Ota nachdenklich. »Es muss etwas ganz und gar Außerordentliches geschehen sein.«

»Allgemeine Phrasen helfen uns nicht weiter«, unterbrach Loj die Freundin. »Etwas Außerordentliches ... so was darf es bei uns einfach nicht geben. Wir haben sieben Spione beim Clan des Wassers. Ich möchte wissen, warum sie nichts unternommen haben. Fia schläft mit Roman, und der ist doch wenn nicht Torns rechte, so doch wohl zumindest seine linke Hand. Und warum, frage ich mich, hat sie nicht ein einziges Wort verlauten lassen?«

»Es wird doch kein Unglück geschehen sein?«, bemerkte die vorsichtige Lola.

»Ein Unglück? Mit allen sieben gleichzeitig?«

»Warum nicht? Wir sind in letzter Zeit zu selbstsicher gewesen. Größere Misserfolge gehören schon lange der Vergangenheit an. Wir können es sogar - oho! - mit den vier Elementen aufnehmen. Aber was ist, wenn Torn die ganze Zeit Bescheid wusste und sich insgeheim ins Fäustchen lachte? Und als die Zeit kam, zu handeln, hat er mit allen, die für uns arbeiteten, kurzen Prozess gemacht. Wir sollten ihn nicht unterschätzen.« Lola redete sich in Rage.

Iwer versank eine Weile in Gedanken.

»Also machen wir es so: Acht Mann gehen zu Torn, ebenso viele zu Ritor; und jeweils vier zu den beiden anderen Elementen. Und wir warten vorerst ab.«

»Vielleicht sollte ich auch ... ein wenig herumstreunen?«, schnurrte Ota. »Alle unsere Spione haben einen grundsätzlichen Nachteil, sie verfügen nicht über die strategische Information.

Loj freute sich einmal mehr darüber, dass ihr Ota rechtzeitig aufgefallen war und sie die junge Frau an sich gebunden hatte.

»Nein, meine Liebe«, antwortete sie süßlich. »Nein. Herumstreunen werde ich schon selbst müssen.«

»Warum das?«

»Aus dem einen Grund, weil nur ich ...«, Loj schenkte der Freundin und Konkurrentin ein bezauberndes Lächeln, »über die ganze strategische Information verfüge.«

Sollte sich Ota doch den Kopf darüber zerbrechen, worin der Wissensvorsprung der großen Loj Iwer bestand.

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