Astinus von Palanthas saß in seinem Arbeitszimmer. Seine Hand führte den Federkiel ruhig und gleichmäßig. Die ausgeprägte, klare Schrift war selbst aus der Entfernung deutlich zu lesen. Astinus füllte schnell einen Pergamentbogen und machte selten eine Pause zum Nachdenken. Wenn man ihn beobachtete, hatte man den Eindruck, daß die Gedanken aus seinem Kopf direkt in die Feder und auf das Papier flossen, so schnell schrieb er. Der Fluß wurde nur unterbrochen, wenn er den Federkiel in Tinte tauchte, aber auch das war für Astinus eine automatische Bewegung geworden.
Die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete sich knarrend. Astinus sah nicht auf, obwohl sich die Tür nicht häufig öffnete, wenn er mit seiner Arbeit beschäftigt war. Der Chronist konnte solche Störungen an seinen Fingern abzählen. Einmal war es während der Umwälzung geschehen. Das hatte ihn in der Tat beim Schreiben gestört, rief er sich ins Gedächtnis, als er sich mit Abscheu an die verschüttete Tinte erinnerte, die eine Seite ruiniert hatte.
Die Tür öffnete sich, und ein Schatten fiel auf seinen Schreibtisch. Aber es blieb still. Nur der Körper, der zu dem Schatten gehörte, holte Luft, als ob er etwas sagen wollte. Es ist Bertram, bemerkte Astinus, so wie er alles bemerkte, und legte diese Information zur späteren Verwendung in einer der vielen Schubladen seines Gedächtnisses ab.
Der Federkiel fuhr stetig über das Papier. Als Astinus das Ende der Seite erreicht hatte, nahm er sie und legte sie auf ähnliche Pergamentbögen, die sich am Rande seines Schreibtisches ordentlich stapelten. Später in der Nacht, wenn der Historiker seine Arbeit beendet haben und sich zur Ruhe begeben würde, würden die Ästheten ehrfürchtig das Arbeitszimmer betreten, so wie Kleriker ein Heiligtum betreten, und den Papierstapel aufheben. Sorgfältig würden sie ihn in die große Bibliothek bringen. Dort würden die mit der kühnen, gleichmäßigen Schrift gefüllten Pergamentbögen in die riesigen Einbände mit der Aufschrift Chroniken, Eine Geschichte über Krynn, von Astinus von Palanthas kategorisiert, einsortiert und abgelegt werden.
»Meister…«, sprach Bertram mit bebender Stimme. »Ich bedaure sehr, Euch zu stören, Meister«, fuhr Bertram zaghaft fort, »aber ein junger Mann liegt sterbend auf Eurer Türschwelle.«
»Kümmere dich um seinen Namen«, sagte Astinus, ohne hochzusehen oder mit dem Schreiben aufzuhören, »damit ich den Vorfall aufzeichnen kann. Und vergewissere dich, wie man ihn schreibt. Und finde heraus, woher der Mann kommt und wie alt er ist.«
»Ich weiß seinen Namen, Meister«, erwiderte Bertram. »Er heißt Raistlin. Er kommt aus der Stadt Solace im Land Abanasinia.«
Astinus hielt beim Schreiben inne. Er sah hoch.
»Raistlin… aus Solace?«
»Ja, Meister«, erwidert Bertram und verbeugte sich geehrt. Es war das erste Mal, daß Astinus ihn direkt ansah, obwohl Bertram seit mehr als einem Jahrzehnt dem Orden der Ästheten angehörte, die in der großen Bibliothek lebten. »Kennt Ihr ihn, Meister? Das war der Grund, warum ich mir die Freiheit herausnahm, Euch bei der Arbeit zu stören. Er bat darum, Euch zu sehen.«
»Raistlin…«
Ein Tintentropfen fiel aus Astinus’ Feder auf das Papier.
»Wo ist er?«
»Auf der Treppe, Meister, wo wir ihn gefunden haben. Wir dachten, daß vielleicht einer dieser neuen Heiler, die die Göttin Mishakal verehren, ihm helfen könnte…«
Der Geschichtsschreiber sah verärgert auf den Tintenklecks. Er nahm eine Prise feinen weißen Sandes und verteilte ihn vorsichtig über die Tinte, um sie zu trocknen. Dann senkte er seinen Blick und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
»Kein Heiler kann diesem jungen Mann helfen«, bemerkte der Chronist mit einer Stimme, die aus den Tiefen der Zeit zu kommen schien. »Aber bring ihn herein. Und besorg ihm ein Zimmer.«
»In die Bibliothek bringen?« wiederholte Bertram mit tiefem Erstaunen. »Meister, niemand wurde jemals hereingelassen, außer Leute unseres Ordens…«
»Ich werde zu ihm gehen, wenn ich am Tagesende Zeit habe«, fuhr Astinus fort, als hätte er die Worte des Ästheten nicht gehört. »Das heißt, wenn er noch lebt.«
Der Federkiel bewegte sich schnell über das Papier.
»Ja, Meister«, murmelte Bertram und verließ das Zimmer. Der Ästhet schloß die Tür hinter sich und eilte durch die kühlen, stillen Marmorhallen der uralten Bibliothek, seine Augen vor Staunen über dieses Ereignis weit geöffnet. Seine schwere Robe fegte hinter ihm über den Boden, sein rasierter Kopf glitzerte vom Schweiß, als er rannte, nicht an diese Anstrengung gewöhnt. Die anderen des Ordens sahen ihn erstaunt an, als er in die Eingangshalle der Bibliothek sauste. Er blickte schnell durch die Glasscheibe in der Tür und konnte den jungen Mann auf den Stufen erkennen.
»Uns wurde befohlen, ihn hereinzubringen«, sagte Bertram den anderen. »Astinus wird heute Abend den jungen Mann sehen, vorausgesetzt, der Magier ist dann noch am Leben.«
Die Ästheten sahen sich in stummer Bestürzung an, sich fragend, welche Vorbedeutung wohl in dieser Entscheidung lag. Ich sterbe.
Dieses Wissen war für den Magier schmerzlich. Raistlin lag in einem Bett in einer kalten, weißen Zelle, wohin ihn die Ästheten gebracht hatten, und verfluchte seinen zerbrechlichen Körper, verfluchte die Prüfungen, die ihn zerstört hatten, verfluchte die Götter, die ihm dieses Los aufgebürdet hatten. Er fluchte, bis er keine Worte mehr fand, bis er selbst zum Denken zu erschöpft war. Und dann lag er unter den weißen Leinentüchern und spürte sein Herz wie einen gefangenen Vogel in seiner Brust flattern.
Zum zweiten Mal in seinem Leben fühlte sich Raistlin allein und verängstigt. Er war nur einmal zuvor allein gewesen, und das war während jener drei qualvollen Prüfungstage im Turm der Erzmagier gewesen. Selbst dort, war er da wirklich allein gewesen? Er glaubte es nicht, obwohl er sich nicht deutlich erinnern konnte. Die Stimme… die Stimme, die manchmal zu ihm sprach, die Stimme, die er nicht erkennen konnte, jedoch zu kennen schien… Er verband die Stimme immer mit dem Türm. Sie hatte ihm dort geholfen, so wie sie ihm seitdem geholfen hatte. Mit Hilfe dieser Stimme hatte er die schwere Prüfung überlebt.
Aber jetzt würde er nicht überleben, das wußte er. Die magische Transformation, der er sich unterzogen hatte, war eine zu große Anstrengung für seinen schwachen Körper gewesen. Die Ästheten hatten ihn zusammengekauert und blutspuckend auf ihren Stufen vorgefunden. Auf ihre Fragen hatte er es noch fertiggebracht, den Namen von Astinus und seinen eigenen auszustoßen. Dann hatte er das Bewußtsein verloren. Als er erwachte, fand er sich in dieser kalten kleinen Mönchszelle wieder. Und mit dem Erwachen kam das Wissen, daß er im Sterben lag. Er hatte mehr von seinem Körper gefordert, als zu geben er in der Lage gewesen war. Die Kugel der Drachen könnte ihn retten, aber er hatte nicht mehr die Kraft, seine Magie anzuwenden. Die Zauberworte waren aus seinem Gedächtnis entschwunden.
Ich bin sowieso zu schwach, um ihre gewaltige Macht zu kontrollieren, wurde ihm klar. Wenn sie erst einmal weiß, daß ich meine Kraft verloren habe, wird sie mich vernichten. Nein, es blieb ihm nur noch eine Chance – die Bücher in der großen Bibliothek. Die Kugel der Drachen hatte ihm versichert, daß diese Bücher die Geheimnisse der uralten Magier enthielten, großer, mächtiger Magier, wie man sie auf Krynn nie wieder gesehen hatte. Vielleicht konnte er in ihnen das Mittel finden, um sein Leben zu verlängern. Er mußte mit Astinus sprechen! Er mußte Zutritt zur großen Bibliothek erhalten, hatte er die hochmütigen Ästheten angeschrien. Aber sie hatten nur genickt.
»Astinus wird dich besuchen«, sagten sie, »heute Abend, wenn er Zeit hat.«
Wenn er Zeit hat, fluchte Raistlin böse. Wenn ich noch so lange Zeit habe! Er spürte den Sand seines Lebens durch seine Finger rinnen, aber er konnte ihn nicht aufhalten.
Die Ästheten, die ihn mitleidig betrachteten, da sie nicht wußten, was sie für ihn tun konnten, brachten Raistlin Essen, aber er konnte nichts essen. Er konnte nicht einmal die bittere Kräutermedizin schlucken, die seinen Husten linderte. Wütend schickte er diese Narren weg. Dann sank er auf sein hartes Kissen zurück und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen in seine Zelle krochen. Raistlin brachte seine ganze Kraft auf, um am Leben zu bleiben, zwang sich zu entspannen, denn diese fieberhafte Wut würde ihn verzehren. Seine Gedanken gingen zu seinem Bruder.
Raistlin schloß erschöpft die Augen und stellte sich vor, daß Caramon neben ihm saß. Er konnte fast Caramons Arme spüren, die ihn hochhoben, damit er besser atmen konnte. Er konnte Caramons typischen Geruch von Schweiß, Leder und Stahl riechen. Caramon würde sich um ihn kümmern. Caramon würde ihn nicht sterben lassen…
Nein, dachte Raistlin verträumt. Caramon ist jetzt tot. Sie sind alle tot, diese Narren. Ich muß jetzt auf mich aufpassen. Plötzlich spürte er, daß er wieder das Bewußtsein verlor. Verzweifelt kämpfte er dagegen an, aber es war eine verlorene Schlacht. Mit einer letzten Anstrengung schob er seine zitternde Hand in eine Tasche seiner Robe. Seine Finger schlossen sich um die Kugel der Drachen, die zur Größe einer Murmel geschrumpft war. Aber er war schon in die Dunkelheit gesunken.
Er erwachte durch Stimmengeräusche und durch das Wissen, daß jemand in der Zelle stand. Raistlin kämpfte sich durch Schichten der Schwärze, bis er an die Oberfläche des Bewußtseins gelangte und die Augen öffnen konnte.
Es war abends. Lunitaris rotes Licht leuchtete wie ein schimmernder Blutfleck durch das Fenster. Eine Kerze brannte, und er sah zwei Männer neben seinem Bett stehen. Einen erkannte er als den Ästheten wieder, der ihn gefunden hatte. Der andere? Er kam ihm vertraut vor…
»Er wird wach, Meister«, bemerkte der Ästhet.
»Das tut er«, bemerkte der Mann gelassen. Er beugte sich hinunter und musterte das Gesicht des jungen Magiers, dann lächelte er und nickte, als ob endlich jemand angekommen wäre, den er lange Zeit erwartet hätte. Es war ein merkwürdiger Blick, und er wurde von Raistlin und dem Ästheten bemerkt.
»Ich bin Astinus«, sagte er, »und du bist Raistlin aus Solace.«
»Ja, das stimmt.« Raistlins Mund formte die Worte, seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Als er zu Astinus hochblickte, kehrte seine Wut zurück bei der Erinnerung an die gefühllose Bemerkung des Mannes, daß er ihn besuchen wolle, wenn er Zeit habe. Während er den Mann anstarrte, überfiel ihn ein Kälteschauer. Noch nie hatte er solch ein Gesicht gesehen, so kalt und gefühllos, bar jeden Gefühls und menschlicher Leidenschaft. Ein Gesicht, unberührt von der Zeit…
Raistlin keuchte. Mit Hilfe des Ästheten versuchte er sich aufzurichten und starrte Astinus weiter an.
Als Astinus Raistlins Reaktion bemerkte, sagte er: »Du siehst mich so seltsam an, junger Magier. Was siehst du mit diesen Stundenglasaugen?«
»Ich sehe… einen Mann… der nicht stirbt…« Raistlin konnte während seiner schmerzvollen Versuche, Atem zu holen, kaum sprechen.
»Natürlich, was hast du denn erwartet?« tadelte der Ästhet, während er den sterbenden Mann sanft mit Kissen stützte. »Der Meister war hier, um die Geburt des ersten auf Krynn niederzuschreiben, und er wird auch hier sein, um den Tod des letzten niederzuschreiben. So lehrte es uns Gilean, der Gott der Schriften.«
»Ist das wahr?« flüsterte Raistlin.
Astinus zuckte die Achseln. »Meine persönliche Geschichte ist ohne Bedeutung im Vergleich zur Geschichte der Welt. Jetzt sprich, Raistlin aus Solace. Was willst du von mir? Ich kann meine Zeit nicht im müßigen Gespräch mit dir verschwenden.«
»Ich frage… ich bitte… um einen Gefallen!« Die Worte wurden aus Raistlins Brust gerissen und kamen blutbefleckt hervor. »Mein Leben… ist auf wenige Stunden… begrenzt. Laß sie mich… mit Studien… in der… großen Bibliothek verbringen!«
Bertram biß sich vor Bestürzung über die Frechheit des jungen Magiers auf die Zunge. Er blickte ängstlich zu Astinus und erwartete eine vernichtende Antwort, die mit Sicherheit diesen jungen, unbesonnenen Mann zur Vernunft bringen würde. Lange Augenblicke des Schweigens verstrichen, die nur von Raistlins mühsamen Atemzügen unterbrochen wurden. Astinus’
Miene veränderte sich nicht. Schließlich antwortete er kühl: »Tu, was du willst.«
Bertrams schockierten Blick ignorierend, drehte sich Astinus um und ging zur Tür.
»Warte!« krächzte Raistlin. Der Magier streckte eine zitternde Hand aus, als Astinus langsam stehenblieb. »Du hast mich gefragt, was ich sehe, wenn ich dich anschaue. Jetzt frage ich dich das gleiche. Ich habe deinen Blick bemerkt, als du dich über mich gebeugt hast. Du hast mich wiedererkannt! Du kennst mich! Wer bin ich? Was hast du gesehen?«
Astinus sah zurück, sein Gesicht war undurchdringlich, ausdruckslos und kalt wie Marmor.
»Du hast gesagt, du würdest einen Mann sehen, der nicht stirbt«, antwortete der Geschichtsschreiber sanft. Er zögerte einen Moment, dann zuckte er die Schultern und drehte sich wieder um. »Ich sehe einen Mann, der tot ist.«
Und damit verließ er die Zelle.
Es wird angenommen, daß Du, der dieses Buch in den Händen hält, die Prüfungen in einem der Türme der Erzmagier erfolgreich bestanden hast und daß Du Deine Fähigkeit demonstriert hast, Kontrolle über eine Kugel der Drachen oder einen anderen anerkannten Magischen Artefakt (siehe Anhang C) auszuüben, und daß Du weiterhin Fähigkeit im Werfen von Zaubersprüchen demonstriert hast…
»Ja, ja«, murmelte Raistlin und überflog hastig die Runen, die wie Spinnen über die Seite krochen. Ungeduldig ging er die Liste der Zaubersprüche durch, bis er schließlich zur Zusammenfassung kam.
Da Du den Ansprüchen Deiner Meister Genüge getan hast, legen wir in Deine Hände dieses Zauberbuch. Folglich wirst Du mit dem Schlüssel Unsere Mysterien aufschließen.
Mit einem wütenden Kreischen schob Raistlin das nachtblau eingebundene Zauberbuch beiseite. Mit zitternder Hand griff er nach dem nächsten Buch mit nachtblauem Einband von dem hohen Stapel, den er an seiner Seite aufgetürmt hatte. Ein Hustenanfall zwang ihn zu einer Pause. Er rang nach Atem und fürchtete den Augenblick, daß er es nicht mehr schaffen würde. Der Schmerz war unerträglich. Manchmal sehnte er sich danach, in Vergessenheit zu sinken, diese Qualen zu beenden, mit denen er täglich leben mußte. Schwach und benommen ließ er seinen Kopf auf den Schreibtisch sinken und vergrub ihn in seinen Armen. Ruhe, süße, schmerzlose Ruhe. Ein Bild seines Bruders tauchte vor ihm auf. Da war Caramon im Leben nach dem Tod, auf seinen kleinen Bruder wartend. Raistlin konnte die traurigen Hundeaugen seines Zwillingsbruders sehen, er konnte sein Mitleid fühlen…
Raistlin holte keuchend Luft, dann zwang er sich, aufrecht zu sitzen. Caramon treffen! Ich werde leichtsinnig, verspottete er sich. Was für ein Unsinn!
Er befeuchtete seine blutverklebten Lippen mit Wasser, ergriff das nächste nachtblaue Zauberbuch und zog es zu sich. Seine silbernen Runen blitzten im Kerzenlicht auf, sein Einband, der sich eiskalt anfühlte, war genauso wie der aller anderen Bücher, die sich vor ihm stapelten. Den gleichen Einband hatte auch das Zauberbuch, das bereits in seinem Besitz war – das Zauberbuch, das er auswendig kannte, das Zauberbuch des größten Magiers, der je gelebt hatte – Fistandantilus.
Mit zitternden Händen öffnete Raistlin das Buch. Seine fiebrigen Augen verschlangen die Seite, lasen die gleichen Anforderungen: Nur hochgestellte Magier des Ordens verfügten über das Geschick und die Kontrolle, die für das Studium der aufgezeichneten Zaubersprüche notwendig waren. Jene, die den Anforderungen nicht gerecht wurden und versuchten, die Sprüche zu lesen, sahen auf den Seiten nur unsinniges Zeug. Raistlin erfüllte alle Anforderungen. Er war wahrscheinlich der einzige weiß- oder rotgekleidete Magier auf Krynn, mit Ausnahme des großen Par-Salian, der das möglicherweise von sich sagen konnte. Trotzdem sah Raistlin nichts als bedeutungsloses Gekritzel.
Folglich wirst Du mit dem Schlüssel Unsere Mysterien aufschließen…
Raistlin schrie auf; ein dünner winselnder Ton, der von einem erstickten Schluchzen abgeschnitten wurde. In bitterer Wut und Enttäuschung warf er sich über den Tisch, die Bücher fielen auf den Boden. Hektisch griffen seine Hände in die Luft, und er schrie weiter. Die Magie, die er wegen seiner Erschöpfung nicht hatte anwenden können, kam nun mit seiner Wut.
Die Ästheten, die draußen an der Tür der großen Bibliothek vorbeigingen, tauschten ängstliche Blicke, als sie die entsetzlichen Schreie hörten. Dann vernahmen sie noch etwas anderes. Ein knisterndes Geräusch, gefolgt von einer dröhnenden Explosion. Sie starrten beunruhigt zur Tür. Einer legte seine Hand an den Griff, aber die Tür war fest verschlossen. Dann machte einer eine Handbewegung, und sie wichen zurück, als sie ein geisterhaftes Licht durch einen Spalt unter der verschlossenen Tür aufflackern sahen. Der Geruch von Schwefel drang aus der Bibliothek, der von einer starken Windböe weggeblasen wurde, die mit solcher Kraft gegen die Tür schlug, daß sie fast zerbarst. Noch einmal hörten die Ästheten das Wutgeheul, dann flohen sie in den marmornen Flur.
Der Chronist fand die Tür zur Bibliothek mit einem Zauberbann versehen vor. Er war nicht besonders überrascht. Mit einem resignierenden Seufzer nahm er ein kleines Buch aus der Tasche seines Gewandes, setzte sich auf einen Stuhl und begann in seiner schnellen, fließenden Schrift zu schreiben. Die Ästheten kauerten sich um ihn, beunruhigt über die seltsamen Geräusche, die aus dem verschlossenen Raum drangen. Donner dröhnte und rollte und ließ die Grundmauern der Bibliothek erzittern. Durch den Türspalt war ein ständig flackerndes Licht zu erkennen, als ob es in dem Raum Tag wäre und nicht die dunkelste Stunde der Nacht. Das Heulen und Kreischen eines Windsturms vermischte sich mit den schrillen Schreien des Magiers; dumpfe Aufschläge mit dem Rascheln umherwirbelnder Blätter. Flammen züngelten unter der Tür hervor.
»Meister!« schrie einer der Ästheten entsetzt auf und zeigte auf die Flammen. »Er zerstört die Bücher!«
Astinus schüttelte nur den Kopf und schrieb unentwegt weiter. Dann plötzlich trat Ruhe ein. Das Licht, das unter der Bibliothekstür hervorgekommen war, erstarb, als wäre es von der Dunkelheit verschluckt worden. Zögernd näherten sich die Ästheten der Tür und lauschten. Nur ein schwaches Rascheln war noch zu vernehmen. Bertram legte seine Hand auf die Tür. Sie gab seinem sanften Druck nach.
»Die Tür ist offen, Meister«, sagte er.
Astinus erhob sich. »Wendet euch wieder euren Studien zu«, befahl er den Ästheten. »Hier könnt ihr nichts tun.«
Die Mönche verbeugten sich stumm, warfen der Tür einen letzten eingeschüchterten Blick zu, dann eilten sie in den Flur und ließen Astinus allein zurück. Er wartete einen Moment, bis sie verschwunden waren, dann öffnete er langsam die Tür. Silbernes und rotes Mondlicht strömte durch die kleinen Fenster. Die mit Tausenden von Buchbänden gefüllten Regale erstreckten sich in der Dunkelheit. Ausgesparte Löcher an den Wänden enthielten viele tausend Schriftrollen. Das Mondlicht fiel auf einen Tisch, auf dem sich ein Papierstapel häufte. Mitten auf dem Tisch stand eine tropfende Kerze, daneben lag ein geöffnetes nachtblaues Zauberbuch. Andere Zauberbücher waren auf dem Boden verstreut.
Als Astinus sich umsah, runzelte er die Stirn. Die Wände waren mit schwarzen Streifen überzogen. Ein starker Geruch von Schwefel und Feuer hing in der Luft. Papierbögen wirbelten hoch und fielen wie Laub nach einem Herbststurm auf einen Körper, der auf dem Boden lag.
Astinus schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Dann näherte er sich dem Körper. Er sagte nichts, noch bückte er sich, um dem jungen Magier zu helfen. Er stellte sich neben Raistlin und musterte ihn nachdenklich.
Aber als er näher trat, berührte Astinus’ Robe die metallfarbene ausgestreckte Hand. Bei der Berührung hob der Magier seinen Kopf. Raistlin starrte Astinus mit Augen an, die sich bereits von den Schatten des Todes verdunkelt hatten.
»Du hast nicht gefunden, was du gesucht hast?« fragte Astinus, während er den jungen Mann mit kalten Augen musterte.
»Der Schlüssel!« keuchte Raistlin durch weiße, blutbefleckte Lippen. »Verloren… mit der Zeit!… Dummköpfe!« Seine Hand verkrampfte sich. Die Wut war das einzige Feuer, das noch in ihm brannte. »So einfach! Alle wußten es… niemand hat es aufgezeichnet! Der Schlüssel… alles, was ich brauche… verloren!«
»So endet also deine Reise, mein alter Freund«, sagt Astinus ohne jedes Mitgefühl.
Raistlin hob seinen Kopf, seine goldenen Augen glänzten fiebrig. »Du kennst mich! Wer bin ich?« fragte er.
»Es ist nicht mehr wichtig«, sagte Astinus. Er drehte sich um und schickte sich an, den Raum zu verlassen.
Hinter ihm ertönte ein durchdringendes Kreischen, eine Hand griff nach seinem Gewand und brachte ihn zum Stehen.
»Dreh mir nicht deinen Rücken zu, so wie du ihn der Welt zugedreht hast!« knurrte Raistlin.
»Meinen Rücken der Welt zugedreht…«, wiederholte der Chronist leise, sein Gesicht drehte sich dem Magier zu.
»Meinen Rücken der Welt zugedreht!« Aus Astinus’ kalter Stimme war selten eine Emotion herauszuhören, aber jetzt drang seine Wut in seine friedliche, gelassene Seele ein wie ein Stein, den man in stilles Wasser geschleudert hat.
»Ich? Meinen Rücken der Welt zugedreht?« Astinus’ Stimme rollte wie der Donner, den er zuvor gehört hatte. »Ich bin die Welt, was du ganz genau weißt, alter Freund! Unzählige Male wurde ich geboren! Unzählige Male bin ich gestorben! Jede Qual, jede Freude, die jemals empfunden wurde, war meine. Mit einem Bein stehe ich in der Zeitsphäre, der Sphäre, die du für mich geschaffen hast, alter Freund, und ich reise kreuz und quer durch diese Welt, um ihre Geschichte aufzuzeichnen. Ich habe die bösesten Dinge getan. Ich habe die ehrenwertesten Opfer gebracht. Ich bin Mensch, Elf und Oger. Ich bin Mann und Frau. Ich habe Kinder zur Welt gebracht. Ich habe Kinder getötet. Ich habe dich gesehen, so wie du warst. Ich sehe dich, wie du bist. Wenn ich kalt und gefühllos wirke, dann darum, weil ich überleben will, ohne den Verstand zu verlieren! Meine Leidenschaft fließt in meine Worte. Jene, die meine Bücher lesen, wissen, was es heißt, in jeder Zeit gelebt zu haben, in jedem Körper, der je diese Welt betreten hat!«
Raistlins Hand löste sich vom Gewand des Chronisten. Seine Kraft schwand schnell. Aber der Magier hängte sich an die Worte von Astinus, obwohl er schon die Kälte des Todes um sein Herz spürte. Ich muß leben, nur noch einen Augenblick. Lunitari, gib mir nur noch einen Augenblick, betete er, den Geist des Mondes anrufend, aus dem die Roten Magier ihre Magie zogen. Ein Wort würde kommen, das wußte er. Ein Wort, das ihn retten würde. Wenn er nur durchhalten könnte! Astinus’ Augen flackerten, als er auf den sterbenden Mann blickte. Die Worte, die er ihm entgegengeschleudert hatte, hatten sich während unzähliger Jahrhunderte in ihm angestaut.
»Am letzten vollendeten Tag«, fuhr Astinus mit bebender Stimme fort, »werden die drei Götter zusammenkommen: Paladin in seinem Glanz, Königin Takisis in ihrer Dunkelheit und schließlich Gilean, Herr des Ausgleichs. In seinen Händen wird jeder den Schlüssel der Erkenntnis tragen. Sie werden diese Schlüssel auf den großen Altar legen, und auf dem Altar werden auch meine Bücher liegen – die Geschichte eines jeden Lebewesens, das auf Krynn gelebt hat! Und dann schließlich wird die Welt vollendet sein…«
Astinus hielt entsetzt inne, als ihm bewußt wurde, was er gesagt hatte, was er getan hatte.
Aber Raistlins Augen sahen ihn nicht mehr. Die Stundenglaspupillen waren aufgerissen, die sie umgebende goldene Farbe strahlte wie eine Flamme.
»Der Schlüssel…«, flüsterte Raistlin jubelnd. »Der Schlüssel! Ich weiß… ich weiß!«
Obwohl er so schwach war, daß er sich kaum bewegen konnte, griff Raistlin in den kleinen unscheinbaren Beutel, der an seinem Gürtel hing, und nahm die murmelgroße Kugel der Drachen in seine zitternde Hand.
»Ich weiß, wer du bist«, murmelte Raistlin mit letzter Kraft.
»Ich kenne dich jetzt, und ich flehe dich an – komm mir zur Hilfe, so wie du mir im Turm und in Silvanesti zur Hilfe gekommen bist! Unser Handel gilt! Rette mich, und du rettest dich selbst!«
Der Magier brach zusammen. Sein Kopf mit den spärlichen weißen Haaren fiel schlaff auf den Boden, seine verfluchten Augen schlossen sich. Die Hand, die die Kugel hielt, wurde schlaff, aber seine Finger entspannten sich nicht. Sie hielten die Kugel in einem stärkeren Griff als der Tod.
Nicht mehr als ein Bündel von Knochen, in eine blutrote Robe gehüllt, lag Raistlin bewegungslos inmitten der Papiere. Astinus starrte lange Zeit auf den Körper, der von den zwei Monden in ein abstoßendes purpurrotes Licht getaucht war. Dann senkte er den Kopf und verließ die totenstille Bibliothek und verschloß hinter sich die Tür mit zitternden Händen. Der Chronist ging in sein Arbeitszimmer zurück, wo er stundenlang dasaß und in die Dunkelheit starrte.