4 »Mein Bruder…«

Die Perechon flog so leicht wie ein Vogel über das Wasser. Aber es war ein Vogel mit gestutzten Flügeln, der auf den wirbelnden Wellen eines Wasserzyklons in eine blutrote Dunkelheit ritt.

Die entsetzliche Kraft zog das Wasser glatt, bis es wie bemaltes Glas aussah. Ein tiefes, ewiges Grollen erhob sich aus den schwarzen Tiefen. Sogar die Sturmwolken kreisten unaufhörlich über dem Mahlstrom, als ob die ganze Natur in ihm gefangen wäre und in ihre eigene Zerstörung geschleudert würde. Tanis klammerte sich mit Händen an die Reling, die von der Anspannung schmerzten. Er starrte in das dunkle Zentrum des Wirbels, er spürte keine Angst, kein Entsetzen – nur ein seltsam dumpfes Gefühl. Es spielte auch keine Rolle mehr. Der Tod würde schnell kommen, er war ihm willkommen.

Alle an Bord des dem Untergang geweihten Schiffes standen schweigend da, ihre Augen waren vor Angst aufgerissen bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Sie waren immer noch vom Zentrum entfernt; der Strudel hatte einen meilenweiten Durchmesser. Das Wasser floß ebenmäßig und schnell. Über ihnen und um sie herum heulte noch der Wind, peitschte der Regen noch auf ihre Gesichter. Aber es spielte keine Rolle. Sie merkten es nicht mehr. Sie nahmen nur wahr, daß sie unaufhaltsam in das Zentrum der Dunkelheit getrieben wurden.

Dieser furchterregende Anblick reichte aus, um Berem aus seiner Lethargie zu wecken. Nach dem ersten Schock schrie Maquesta verzweifelte Befehle. Benommen führten die Männer sie aus, aber ihre Bemühungen waren vergeblich. Segel und Taue wurden vom Wirbelwind zerrissen, Männer stürzten schreiend ins Wasser. Sosehr Berem sich auch abquälte, er konnte das Schiff nicht wenden oder es aus dem Schreckensgriff des Wassers befreien. Koraf half ihm, das Steuer zu halten, aber sie hätten genausogut versuchen können, die Welt aufzuhalten, sich zu drehen. Dann gab Berem auf. Seine Schultern sackten zusammen. Er starrte in die wirbelnden Tiefen, ignorierte Maquesta, ignorierte Koraf. Tanis bemerkte, daß sein Gesicht einen gelassenen Ausdruck angenommen hatte; dieselbe Gelassenheit, mit der er in Pax Tarkas Ebens Hand genommen und mit ihm in jene tödliche Mauer herunterstürzender Steinblöcke gerannt war. Der Grüne Juwel in seiner Brust glühte in einem gespenstischen Licht, das blutrote Wasser reflektierend.

Tanis spürte eine starke Hand an seiner Schulter, die ihn aus seinem entrückten Entsetzen riß.

»Tanis! Wo ist Raistlin?«

Tanis drehte sich um. Einen Moment lang starrte er Caramon an, ohne ihn zu erkennen, dann zuckte er die Schultern.

»Was macht das schon aus?« murmelte er bitter. »Laß ihn dort sterben, wo er es möchte…«

»Tanis!« Caramon schüttelte ihn. »Tanis! Die Kugel der Drachen! Ihre Magie! Vielleicht kann sie helfen…«

Tanis kam zu sich. »Bei allen Göttern! Du hast recht, Caramon!«

Der Halb-Elf blickte sich um, sah aber kein Anzeichen vom Magier. Ihn schauderte. Raistlin war in der Lage, ihnen zu helfen – oder nur sich selbst! Schwach erinnerte sich Tanis an die Elfenprinzessin Alhana, die erklärt hatte, daß die Kugeln der Drachen von ihren magischen Schöpfern mit einem starken Überlebenswillen versehen worden waren.

»Nach unten!« schrie Tanis. Als er zum Bodenluk sprang, hörte er Caramon hinterher stampfen.

»Was ist los?« rief Flußwind von der Reling.

Tanis schrie zurück: »Raistlin. Die Kugel der Drachen. Komm nicht mit. Überlaß das mir und Caramon. Bleib bei den anderen.«

»Caramon…«, schrie Tika und lief ihm nach, bis Flußwind sie faßte und zurückhielt. Sie warf dem Krieger einen gequälten Blick zu, schwieg aber und warf sich gegen die Reling. Caramon bemerkte nichts. Er holte Tanis ein, sein schwerer Körper bewegte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Tanis stolperte hinter ihm die Treppe hinunter und sah, daß die Tür zu Maquestas Kabine offenstand und mit der Bewegung des Schiffes hin- und herschwang. Der Halb-Elf stürzte hinein und hielt abrupt an der Türschwelle inne, als ob er kopfüber in eine Wand gerannt wäre.

Raistlin stand in der Mitte der kleinen Kabine. Er hatte eine Kerze in einer Lampe entzündet. Die Flamme ließ das Gesicht des Magiers wie eine Metallmaske glitzern, seine Augen funkelten im goldenen Feuer. In seinen Händen hielt Raistlin die Kugel der Drachen, ihre Beute aus Silvanesti. Sie war gewachsen und hatte nun die Größe eines Spielballs. Unzählige Farben wirbelten in ihr. Tanis wurde beim Zusehen schwindelig, und er zwang sich wegzusehen.

Vor Raistlin stand Caramon, das Gesicht des Kriegers war so weiß wie das der Leiche in dem Silvanesti-Traum, als der Krieger tot zu seinen Füßen lag.

Raistlin hustete und drückte eine Hand an seine Brust. Tanis wollte vorspringen, aber der Magier sah schnell auf.

»Komm nicht näher, Tanis!« keuchte Raistlin zwischen blutbefleckten Lippen.

»Was machst du da?«

»Ich fliehe vor dem sicheren Tod, Halb-Elf!« Der Magier lachte auf unangenehme Weise, das seltsame Lachen, das Tanis erst zweimal zuvor gehört hatte. »Was glaubst du denn?«

»Wie?« fragte Tanis. Eine seltsame Angst beschlich ihn, als er in die goldenen Augen des Magiers sah, in denen sich das wirbelnde Licht der Kugel widerspiegelte.

»Indem ich meine Magie anwende. Und die Magie der Kugel der Drachen. Es ist ganz einfach, obwohl es wahrscheinlich über deinen schwachen Verstand geht. Ich verfüge jetzt über die Macht, die Energie meines Körpers und die Energie meines Geistes zu verschmelzen. Ich werde reine Energie werden Licht, wenn du dir das so vorstellen kannst. Und indem ich Licht werde, kann ich durch den Himmel wie die Strahlen der Sonne reisen und in diese körperliche Welt zurückkehren, wann immer und wo immer ich will!«

Tanis schüttelte den Kopf, Raistlin hatte recht – der Gedanke ging über sein Verstehen. Er konnte ihn nicht fassen, aber er schöpfte Hoffnung.

»Kann die Kugel das für uns alle machen?« fragte er.

»Möglicherweise«, antwortete Raistlin hustend. »Aber ich bin mir nicht sicher. Und ich will es nicht ausprobieren. Ich weiß, daß ich entkommen kann. Die anderen interessieren mich nicht. Du hast sie zu diesem blutroten Tod geführt, Halb-Elf. Also hol sie auch wieder heraus!«

Wut wallte in Tanis auf und ersetzte seine Angst. »Wenigstens dein Bruder…«, begann er hitzig.

»Niemand«, sagte Raistlin, seine Augen verengten sich.

»Bleib zurück.«

Eine wahnsinnige, verzweifelte Wut tobte in Tanis. Irgendwie mußte er Raistlin zur Vernunft bringen! Irgendwie würden sie alle diese seltsame Magie zur Flucht verwenden! Tanis wußte genug über Magie, um sich im klaren zu sein, daß Raistlin jetzt keinen Zauber wagen würde. Er würde seine ganze Kraft nötig haben, um die Kugel der Drachen zu kontrollieren. Tanis ging nach vorn, als er in der Hand des Magiers etwas Silbernes aufblitzen sah. Anscheinend aus dem Nichts war ein kleiner silberner Dolch erschienen, am Gelenk des Magiers unter einem geschickt getarnten Lederriemen verborgen. Tanis hielt inne, seine Augen trafen Raistlins.

»Nun gut«, sagte Tanis schweratmend. »Mich würdest du, ohne einen zweiten Gedanken zu verlieren, töten. Aber du würdest deinen Bruder nicht verletzen. Caramon, halte ihn auf!«

Caramon trat einen Schritt zu seinem Bruder. Raistlin hob warnend den silbernen Dolch.

»Mach das nicht, mein Bruder«, sagte er sanft. »Komm nicht näher.«

Caramon zögerte.

»Geh weiter, Caramon!« sagte Tanis bestimmt. »Er wird dich nicht verletzen.«

»Erzähl es ihm, Caramon«, flüsterte Raistlin. Die Augen des Magiers starrten in die seines Bruders. Seine Stundenglasaugen weiteten sich, das goldene Licht flackerte gefährlich auf.

»Erzähl Tanis, wozu ich in der Lage bin. Erinnere dich. So wie ich mich erinnere. Diese Erinnerung kommt immer wieder, sobald wir uns ansehen, nicht wahr, mein lieber Bruder?«

»Was soll er mir erzählen?« fragte Tanis, der nur halb zuhörte. Wenn er Raistlin ablenken konnte… sich auf ihn stürzen…

Caramon wurde leichenblaß. »Die Türme der Erzmagier…« Er stammelte. »Aber uns wurde verboten, darüber zu sprechen! Par-Salian hat gesagt…«

»Das ist jetzt egal«, unterbrach ihn Raistlin. »Es gibt nichts, was Par-Salian mir anhaben könnte. Wenn ich erst einmal besitze, was mir versprochen wurde, dann wird nicht einmal der große Par-Salian die Macht haben, mir gegenüberzutreten! Aber das ist nicht euer Problem.«

Raistlin holte tief Luft, dann begann er zu sprechen, seine seltsamen Augen waren immer noch auf seinen Bruder gerichtet. Tanis, der nur halb zuhörte, schlich sich näher, sein Herz pochte in seiner Kehle. Eine schnelle Bewegung, und der zerbrechliche Magier würde stürzen… Dann wurde Tanis von Raistlins Stimme festgehalten, gezwungen, einen Moment stehenzubleiben und zuzuhören, fast als ob Raistlin einen Zauber geworfen hätte.

»Die letzte Prüfung im Turm der Erzmagier, Tanis, war gegen mich selbst gerichtet. Und ich habe versagt. Ich habe ihn getötet, Tanis. Ich habe meinen Bruder getötet«, Raistlins Stimme klang gelassen, »oder zumindest dachte ich, es wäre Caramon.« Der Magier zuckte die Schultern. »Wie sich herausstellte, hatten sie diese Illusion geschaffen, damit ich die Tiefen meines Hasses und meiner Eifersucht erkenne. Sie glaubten, auf diese Weise meine Seele von der Dunkelheit zu reinigen. Aber was ich in Wirklichkeit gelernt habe, war, daß mir jede Selbstbeherrschung fehlt. Da dies jedoch nicht Teil der wahren Prüfung war, wurde mein Versagen nicht angerechnet mit Ausnahme von einer Person.«

»Ich habe beobachtet, wie er mich getötet hat!« weinte Caramon jämmerlich. »Sie ließen mich beobachten, damit ich ihn verstehen würde!« Der Mann schlug die Hände vor sein Gesicht, sein Körper zuckte in einem Schauder. »Ich verstehe es!« schluchzte er. »Ich habe es dann verstanden! Es tut mir leid! Aber geh nicht ohne mich, Raist! Du bist so schwach! Du brauchst mich…«

»Nicht mehr, Caramon«, flüsterte Raistlin mit einem sanften Seufzen. »Ich brauche dich nicht mehr!«

Tanis starrte beide an, ihm war vor Entsetzen übel. Er konnte es nicht glauben! Nicht einmal von Raistlin! »Caramon, geh weiter!« befahl er heiser.

»Bring ihn nicht dazu, näher zu kommen, Tanis«, sagte Raistlin. Seine Stimme war liebenswürdig, als ob er Tanis’

Gedanken gelesen hätte. »Ich versichere dir – ich bin dazu fähig. Was ich mein ganzes Leben lang gesucht habe, ist jetzt in meiner Reichweite. Ich werde nicht zulassen, daß man mich aufhält. Sieh Caramon an, Tanis. Er weiß es! Ich habe ihn einst getötet. Ich kann es wieder tun. Leb wohl, mein Bruder.«

Der Magier legte beide Hände auf die Kugel der Drachen und hielt sie hoch zu der flackernden Kerze. Die Farben wirbelten wie irre in der Kugel. Eine mächtige, magische Aura legte sich um den Magier.

Tanis kämpfte gegen seine Angst, während er seinen Körper anspannte, um in einem letzten verzweifelten Versuch Raistlin aufzuhalten. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er hörte Raistlin seltsame Worte singen. Das funkelnde, wirbelnde Licht wurde so hell, daß es seinen Kopf durchdrang. Er bedeckte seine Augen mit den Händen, aber das Licht brannte sich durch sein Fleisch, versengte sein Gehirn. Der Schmerz war unerträglich. Er stolperte zurück gegen den Türrahmen, hörte Caramon neben sich qualvoll aufschreien und den Körper des Mannes mit einem dumpfen Aufschlag auf den Boden fallen. Dann war alles still, die Kabine war in Dunkelheit getaucht. Zitternd öffnete Tanis die Augen. Einen Moment lang konnte er außer dem Nachbild einer riesigen roten Kugel, die in sein Gehirn eingebrannt war, nichts sehen. Dann gewöhnten sich seine Augen an die eisige Dunkelheit. Die Kerze tropfte, heißes Wachs tröpfelte auf den Holzboden der Kabine und bildete eine weiße Pfütze neben Caramon, der bewegungslos dalag. Die Augen des Kriegers waren weit aufgerissen und starrten ausdruckslos in das Nichts. Raistlin war verschwunden. Tika Waylan stand am Deck der Perechon und starrte in das blutrote Meer und versuchte angestrengt, nicht zu weinen. Du mußt tapfer sein, sagte sie sich immer wieder. Du hast gelernt, tapfer in der Schlacht zu kämpfen. Caramon sagte das. Jetzt mußt du auch tapfer sein. Zumindest werden wir jetzt Zusammensein, zusammen sterben. Er darf mich nicht weinen sehen.

Aber die vergangenen vier Tage waren für alle nervenaufreibend gewesen. Vor Angst, von den Drakoniern in Treibgut entdeckt zu werden, hatten sich die Gefährten in der schmuddeligen Herberge versteckt gehalten. Tanis’ seltsames Verschwinden hatte sie verängstigt. Sie waren hilflos, wagten nichts, nicht einmal, nach ihm zu fragen. Lange Tage waren sie gezwungen gewesen, in ihren Räumen zu bleiben, und Tika mußte sich ständig in Caramons Nähe aufhalten. Die Anspannung, die starke Anziehung, die zwischen ihnen bestand, nicht ausdrücken zu können, war eine Qual gewesen. Sie wollte ihre Arme um Caramon legen, seine Arme um sich spüren, seinen starken, muskulösen Körper an ihren drücken. Caramon wollte das gleiche, dessen war sie sich sicher. Er sah sie manchmal mit solch einer Zärtlichkeit in seinen Augen an, daß sie sich danach sehnte, sich eng an ihn zu schmiegen und seine Liebe zu teilen, um die sie wußte.

Aber das würde nie der Fall sein, nicht, solange sich Raistlin in der Nähe seines Zwillingsbruders aufhielt und an Caramon wie ein zerbrechlicher Schatten klebte. Immer wieder wiederholte sie Caramons Worte, die er ihr gesagt hatte, bevor sie Treibgut erreicht hatten.

»Meine Verpflichtung liegt bei meinem Bruder. Im Turm der Erzmagier sagten sie mir, daß seine Kraft helfen würde, die Welt zu retten. Ich bin seine Stärke – seine körperliche Stärke. Er braucht mich. Meine erste Pflicht liegt bei ihm, und solange sich das nicht ändert, kann ich keine anderen Verpflichtungen eingehen. Du hast jemanden verdient, bei dem du an erster Stelle stehst, Tika. Und darum gebe ich dich frei, damit du so einen Mann findest.«

Aber ich will keinen anderen, dachte Tika traurig. Und dann liefen wieder die Tränen. Sie drehte sich schnell um, um sie vor Goldmond und Flußwind zu verbergen. Sie würden es falsch verstehen und denken, daß sie vor Angst weinte. Nein, die Angst vor dem Sterben war etwas, was sie vor langer Zeit besiegt hatte. Ihre größte Angst war, allein zu sterben. Was machen sie? fragte sie sich verzweifelt und wischte ihre Tränen weg. Das Schiff trieb immer näher auf das schreckliche dunkle Auge zu. Wo war Caramon? Ich muß sie finden, entschied sie. Tanis oder nicht. Dann sah sie Tanis langsam nach oben kommen, Caramon halb mit sich zerrend, halb tragend. Ein Blick auf das blasse Gesicht des Kriegers genügte, um Tikas Herz aussetzen zu lassen.

Sie versuchte zu rufen, brachte aber kein Wort heraus. Auf ihren unartikulierten Aufschrei hin drehten sich jedoch Goldmond und Flußwind um. Als Flußwind Tanis mit seiner Last stolpern sah, sprang er ihm zu Hilfe. Caramon torkelte wie ein volltrunkener Mann, seine Augen waren glasig und ausdruckslos. Flußwind konnte Caramon gerade noch in dem Moment festhalten, als Tanis’ Beine nachgaben.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, antwortete Tanis auf Flußwinds besorgten Blick. »Goldmond, Caramon braucht deine Hilfe.«

»Was ist los, Tanis?« Tikas Angst ließ sie wieder sprechen.

»Was ist los? Wo ist Raistlin? Hat er…«, sie hielt inne. Die Augen des Halb-Elfen waren düster in Erinnerung dessen, was er gesehen und gehört hatte.

»Raistlin ist verschwunden«, sagte Tanis knapp.

»Verschwunden? Wohin?« fragte Tika und blickte sich wild um, als ob sie erwartete, seinen Körper im wirbelnden, blutigen Wasser zu sehen.

»Er hat uns belogen«, antwortete Tanis und half Flußwind, Caramon auf den Boden zu legen. Der Krieger sagte nichts. Er schien sie nicht zu sehen, er starrte nur über das blutrote Meer.

»Erinnert ihr euch, daß er immer wieder darauf bestand, daß wir nach Palanthas müßten, um zu lernen, wie man die Kugel der Drachen anwendet? Er wußte bereits, wie man die Kugel anwendet. Und jetzt ist er verschwunden, nach Palanthas vielleicht. Es spielt wohl keine Rolle mehr.« Er sah auf Caramon und schüttelte traurig den Kopf, dann drehte er sich abrupt um und ging zur Reling.

Goldmond legte ihre sanften Hände auf den Mann, murmelte seinen Namen so leise, daß die anderen bei dem Heulen des Windes nichts hören konnten. Bei ihrer Bewegung jedoch rührte sich Caramon, begann heftig zu zittern. Tika kniete sich zu ihm und hielt seine Hand. Immer noch auf das Meer starrend, begann Caramon leise zu weinen, Tränen liefen über seine Wangen aus weit aufgerissenen, starrenden Augen. Goldmonds Augen glitzerten von ihren eigenen Tränen, aber sie streichelte seine Stirn und rief ihn weiter, wie eine Mutter nach einem verlorenen Kind ruft.

Flußwind, dessen Gesicht vor Zorn streng und düster war, gesellte sich zu Tanis.

»Was ist geschehen?« fragte der Barbar grimmig.

»Raistlin hat gesagt… ich kann nicht darüber sprechen. Nicht jetzt!« Tanis schüttelte den Kopf. Er lehnte über die Reling und starrte in das trübe Wasser, während er leise in der Elfensprache fluchte – eine Sprache, die der Halb-Elf selten benutzte. Betrübt über die Pein seines Freundes, legte Flußwind tröstend seine Hand auf die Schulter des Halb-Elfen.

»So ist es am Ende doch eingetreten«, sagte der Barbar. »So wie wir es in dem Traum gesehen haben, ist der Magier verschwunden und läßt seinen Bruder sterbend zurück.«

»Und wie wir es in dem Traum erlebt haben, habe ich euch enttäuscht«, murmelte Tanis mit zitternder Stimme. »Was habe ich nur getan? Es ist meine Schuld! Ich habe dieses Entsetzen über uns gebracht!«

»Mein Freund«, sagte Flußwind, von Tanis’ Leiden bewegt.

»Es steht uns nicht zu, die Wege der Götter in Frage zu stellen…«

»Verdammt seien die Götter!« schrie Tanis böse. Er hob seinen Kopf, um seinen Freund anzusehen. »Ich war es! Meine Entscheidung! Wie oft in jenen Nächten, wenn ich mit ihr zusammen war und sie in meinen Armen hielt, wie oft habe ich mir gesagt, es wäre so einfach, dort zu bleiben, bei ihr, für immer! Ich kann Raistlin nicht verurteilen! Wir sind uns sehr ähnlich, er und ich. Beide zerstört von einer verzehrenden Leidenschaft!«

»Du bist nicht zerstört, Tanis«, sagte Flußwind. Der streng aussehende Barbar packte den Halb-Elfen mit seinen starken Händen an den Schultern und zwang Tanis, ihn anzusehen. »Du bist deiner Leidenschaft nicht zum Opfer gefallen, so wie der Magier. Wenn das so wäre, dann wärst du bei Kitiara geblieben. Du hast sie verlassen, Tanis…«

»Ich habe sie verlassen«, sagte Tanis bitter. »Ich habe mich wie ein Dieb weggeschlichen! Ich hätte ihr gegenübertreten müssen. Ich hätte ihr die Wahrheit über mich sagen müssen! Sie hätte mich dann getötet, aber ihr wäret in Sicherheit gewesen. Du und die anderen hätten entkommen können. Wie einfacher wäre mein Tod doch gewesen… Aber ich hatte nicht den Mut. Jetzt habe ich dies über uns gebracht«, sagte der Halb-Elf und entzog sich Flußwinds Griff. »Ich habe nicht nur mich, sondern euch alle enttäuscht.«

Er sah sich um. Berem stand noch immer am Steuer und hielt das nutzlos gewordene Rad, einen seltsamen Ausdruck der Resignation in seinem Gesicht. Maquesta versuchte immer noch, ihr Schiff zu retten, und kreischte Befehle. Aber ihre Mannschaft, vor Entsetzen gelähmt, gehorchte nicht mehr. Einige weinten. Einige fluchten. Die meisten waren still und starrten nur mit entsetzter Faszination auf den riesigen Wirbel, der sie unerbittlich in die Dunkelheit der Tiefe zog. Tanis spürte wieder Flußwinds Hand an seiner Schulter. Fast wütend versuchte er, sich zu entziehen, aber der Barbar gab nicht nach.

»Tanis, mein Bruder, du hast deine Entscheidung, auf dieser Straße zu gehen, im Wirtshaus Zur letzten Bleibe gefällt, als du Goldmond zur Hilfe gekommen bist. In meinem Stolz wollte ich deine Hilfe ablehnen, und sie und ich wären gestorben. Weil du dich nicht von unserer Not abgewendet hast, brachten wir das Wissen über die alten Götter in die Welt zurück. Wir brachten die Heilkunst zurück. Wir brachten Hoffnung. Erinnerst du dich, was der Herr der Wälder uns gesagt hat? Wir trauern nicht um jene, die ihren Zweck im Leben erfüllt haben. Wir haben unseren Zweck erfüllt, mein Freund. Wer weiß, wie viele Leben wir berührt haben? Wer weiß auch, ob diese Hoffnung zu einem großen Sieg führen wird? Für uns hat offenbar die Schlacht geendet. So ist es. Wir legen unsere Schwerter nieder, damit andere sie aufheben und weiterkämpfen können.«

»Deine Worte sind nett, Barbar«, schnappte Tanis, »aber sag mir die Wahrheit. Kannst du in den Tod sehen und keine Bitterkeit empfinden? Du hast alles, wofür es sich lohnt zu leben -Goldmond, die Kinder, die noch nicht geboren sind…«

Ein Schmerz zuckte flüchtig in Flußwinds Gesicht auf. Er drehte seinen Kopf weg, aber Tanis, der ihn scharf beobachtete, sah den Schmerz und verstand plötzlich. Auch das hatte er also zerstört! Der Halb-Elf schloß voller Verzweiflung die Augen.

»Goldmond und ich wollten es dir nicht sagen. Du hattest genug Sorgen.« Flußwind seufzte. »Unser Kind wäre im Herbst zur Welt gekommen«, murmelte er, »in der Zeit, in der sich die Blätter der Vallenholzbäume goldrot färben, so wie Goldmond und ich sie gesehen haben, als wir mit dem blauen Kristallstab nach Solace kamen. An jenem Tag fand uns der Ritter Sturm Großklinge und führte uns zum Wirtshaus Zur letzten Bleibe…«

Tanis begann zu schluchzen, tiefe, gequälte, schluchzende Laute schnitten durch seinen Körper wie Messer. Flußwind legte seine Arme um seinen Freund.

»Die Vallenholzbäume, die wir kennen, sind jetzt tot, Tanis«, fuhr er mit besänftigender Stimme fort. »Wir hätten dem Kind nur verbrannte Stümpfe zeigen können. Aber jetzt wird das Kind die Vallenholzbäume so sehen, wie die Götter sie im Sinn hatten, in einem Land, wo solche Bäume ewig leben. Trauer nicht, mein Freund, mein Bruder. Du hast geholfen, das Wissen über die Götter den Völkern zurückzubringen. Du mußt zu diesen Göttern Vertrauen haben.«

Sanft schob Tanis Flußwind weg. Er konnte dem Barbaren nicht in die Augen sehen. Als er in seine eigene Seele schaute, sah Tanis sie so verzerrt und verkrümmt wie die entstellten Bäume in Silvanesti. Glaube? Er hatte keinen Glauben. Was bedeuteten ihm die Götter? Er hatte die Entscheidungen getroffen. Er hatte alles weggeworfen, was in seinem Leben wertvoll gewesen war – seine Elfenheimat, Lauranas Liebe. Und er war nahe daran gewesen, auch Freundschaften wegzuwerfen. Nur Flußwinds unwiderrufliche Treue – eine Treue, die völlig fehl am Platze war – hielt den Barbaren davon ab, ihn zu verurteilen. Selbstmord ist den Elfen verboten. Sie betrachten es als Gotteslästerung, denn das Geschenk des Lebens ist das wertvollste aller Geschenke. Aber Tanis starrte in das blutrote Meer mit Vorfreude und Sehnsucht. Laß den Tod schnell kommen, betete er. Laß dieses blutbefleckte Wasser über meinen Kopf spülen. Laß mich mich in den Tiefen verstecken. Und wenn es Götter gibt, wenn ihr mir zuhört, bitte ich nur um eins: Haltet das Wissen über meine Schande von Laurana fern. Ich habe Schmerzen gebracht über so viele…

Aber noch während er dieses Gebet stumm aufsagte, von dem er hoffte, es würde sein letztes auf Krynn sein, fiel ein Schatten, dunkler als die Sturmwolken, über sie. Tanis hörte Flußwind aufschreien und Goldmond kreischen, aber ihre Stimmen gingen im Toben des Wassers unter, als das Schiff im Zentrum des Mahlstroms zu sinken begann. Benommen sah Tanis nach oben und erblickte die feurigroten Augen eines blauen Drachen, der durch die schwarzen, wirbelnden Wolken leuchtete. Auf seinem Rücken saß Kitiara.

Nicht willens, die Beute aufzugeben, die sie zu einem glorreichen Sieg führen würde, hatten Kit und Skie sich durch den Sturm gekämpft, und jetzt flog der Drache mit ausgestreckten Klauen direkt auf Berem zu. Es war, als wären die Füße des Mannes auf dem Deck angenagelt. In traumähnlicher Hilflosigkeit starrte er auf den herabstürzenden Drachen.

Tanis riß sich hoch und warf sich auf Berem, als das blutrote Wasser um ihn wirbelte. Er traf ihn in den Magen und schlug ihn nach hinten, gerade als eine Welle über sie brach. Tanis hielt sich an etwas fest; er wußte nicht, was es war, und klammerte sich an das Deck, als es sich unter ihm neigte. Dann richtete sich das Schiff wieder auf. Als er hochsah, war Berem verschwunden. Über sich hörte er den Drachen vor Wut aufkreischen.

Und dann schrie Kitiara und zeigte auf Tanis. Skies feuriger Blick richtete sich auf ihn. Tanis hob seinen Arm, als könnte er den Drachen abwehren, und sah in die zornigen Augen des Tieres, das im peitschenden Wind wild kämpfte.

So ist das Leben, dachte der Halb-Elf, als er die Klauen des Drachen über sich sah. So ist das Leben! Zu leben, um aus diesem Entsetzen weggetragen zu werden! Einen Moment lang spürte Tanis, wie er in der Luft schwebte. Er wußte nur noch, daß er den Kopf schüttelte und irgend etwas schrie. Der Drache und das Wasser trafen ihn zur gleichen Zeit. Er sah nur noch Blut…

Tika kroch zu Caramon, ihre Angst vor dem Tod war mit der Sorge um ihn vergessen. Aber Caramon war sich ihrer Gegenwart nicht bewußt. Er starrte in die Dunkelheit, Tränen liefen über sein Gesicht, seine Hände waren zu Fäusten geballt, immer wieder wiederholte er in einer stummen Litanei zwei Worte.

Mit einer quälerischen, traumähnlichen Langsamkeit balancierte das Schiff am Rande des wirbelnden Wassers, als ob selbst das Holz des Schiffes vor Angst zögerte. Maquesta stand ihrem zerbrechlichen Schiff in seinem letzten verzweifelten Versuch zu überleben bei, indem sie ihm ihre eigene innere Stärke verlieh, versuchte, die Naturgesetze einzig und allein durch Willenskraft zu ändern. Aber es war sinnlos. Mit einem letzten herzzerreißenden Beben glitt die Perechon über den Rand der wirbelnden, tosenden Dunkelheit.

Holz krachte. Mäste stürzten herab. Männer wurden schreiend von dem sich neigenden Deck geschleudert, als die blutrote Dunkelheit die Perechon in ihren klaffenden Rachen zog. Nachdem alles verschwunden war, klangen noch zwei Worte wie ein Dankgebet nach.

»Mein Bruder…«

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