18 Eine einzige Kerze

Die Stadt Kalaman war in der Nacht, nachdem die Finstere Herrin ihr Ultimatum verkündet hatte, totenstill. Fürst Calof hatte den Kriegszustand über die Stadt verhängt, was bedeutete, daß alle Tavernen geschlossen und die Stadttore verriegelt waren, so daß niemand die Stadt verlassen konnte. Nur Familien aus den kleinen Bauern- und Fischerdörfern um Kalaman durften die Stadt betreten. Diese Flüchtlinge kamen vor Sonnenuntergang an, erzählten schreckliche Geschichten über Drakonier, die über ihr Land schwärmten, plünderten und alles niederbrannten.

Obwohl einige der Honoratioren von Kalaman gegen diese drastische Maßnahme waren, hatten Tanis und Gilthanas, zum ersten Mal gleicher Meinung, den Fürsten zu dieser Entscheidung gedrängt. Beide hatten in lebhaften und beängstigenden Bildern über den Niedergang der Stadt Tarsis berichtet, was sich als äußerst überzeugend erwies. Fürst Calof verkündete den Kriegszustand, aber dann starrte er beide Männer hilflos an. Offensichtlich hatte er keine Vorstellung, wie er die Stadt verteidigen sollte. Der entsetzliche Schatten der über ihnen schwebenden Zitadelle hatte den Fürsten völlig entnervt, und die meisten seiner militärischen Führer waren in keinem besseren Zustand. Nachdem Tanis einigen ihrer wahnsinnigen Ideen gelauscht hatte, erhob er sich.

»Ich habe einen Vorschlag, mein Fürst«, sagte er respektvoll.

»Hier befindet sich eine Person, die fähig ist, die Verteidigung der Stadt zu organisieren…«

»Du, Halb-Elf?« unterbrach ihn Gilthanas mit einem bitteren Lächeln.

»Nein«, antwortete Tanis freundlich. »Du, Gilthanas.«

»Ein Elf?« fragte Fürst Calof erstaunt.

»Er war in Tarsis. Er hat Erfahrungen im Kampf gegen Drakonier und Drachen. Die guten Drachen vertrauen ihm und seinem Urteil.«

»Das stimmt!« gab Calof zu. Große Erleichterung breitete sich über sein Gesicht aus, als er sich an Gilthanas wandte. »Wir wissen, wie die Elfen über Menschen denken, mein Lord, und ich muß zugeben, daß die meisten Menschen über Elfen auch nicht besser denken. Aber wir wären dir ewig dankbar, wenn du uns in dieser Zeit der Not helfen könntest.«

Gilthanas starrte Tanis verwirrt an. Aber er konnte in dem bärtigen Gesicht des Halb-Elfen nichts erkennen. Es wirkt beinahe wie das Gesicht eines toten Mannes, dachte er. Fürst Calof wiederholte seine ›Ansprache‹, fügte etwas über Belohnung hinzu, da er Gilthanas’ deutliches Zögern als Widerstreben interpretierte, die Verantwortung zu übernehmen.

»Nein, mein Fürst!« Gilthanas schrak zusammen, als er aus seiner Träumerei erwachte. »Eine Belohnung ist nicht notwendig und auch nicht erwünscht. Wenn ich helfen kann, die Bewohner dieser Stadt zu retten, ist das Belohnung genug. In bezug auf die unterschiedlichen Rassen«, Gilthanas warf Tanis einen Blick zu, »habe ich vielleicht genug gelernt, um zu wissen, daß es da eigentlich kaum Unterschiede gibt, daß es sie nie gegeben hat.«

»Sag uns, was wir tun sollen«, sagte Calof ungeduldig.

»Zuerst möchte ich mit Tanis unter vier Augen reden«, antwortete Gilthanas, der bemerkte, daß der Halb-Elf gehen wollte.

»Gewiß. Dort durch die Tür zu deiner Rechten ist ein kleines Zimmer«, deutete der Fürst.

In dem kleinen, luxuriös eingerichteten Zimmer standen sich die beiden Männer in unbehaglichem Schweigen lange Zeit gegenüber. Keiner sah den anderen direkt an. Gilthanas brach schließlich das Schweigen.

»Ich habe die Menschen immer verachtet«, sagte der Elfenlord langsam, »und jetzt bin ich dabei, Verantwortung für ihren Schutz zu übernehmen.« Er lächelte. »Es ist ein gutes Gefühl«, fügte er leise hinzu und sah Tanis zum ersten Mal direkt an. Tanis’ Augen trafen Gilthanas’, und sein grimmiges Gesicht entspannte sich einen Moment lang, obwohl er das Lächeln des Elfenlords nicht erwiderte. Dann senkte sich sein Blick, seine Miene verdüsterte sich wieder.

»Du gehst nach Neraka, nicht wahr?« fragte Gilthanas. Tanis nickte wortlos.

»Deine Freunde? Gehen sie mit dir?«

»Einige von ihnen«, erwiderte Tanis. »Sie wollen alle mitgehen, aber…« Er konnte nicht weitersprechen, als er sich an ihre Treue erinnerte. Er schüttelte den Kopf.

Gilthanas starrte auf einen reichverzierten Tisch, fuhr mit seiner Hand geistesabwesend über das glänzende Holz.

»Ich muß gehen«, sagte Tanis mit schwerer Stimme und ging zur Tür. »Ich habe noch eine Menge zu erledigen. Wir wollen um Mitternacht aufbrechen…«

»Warte.« Gilthanas legte seine Hand auf den Arm des HalbElfen. »Ich… ich wollte dir sagen, daß es mir leid tut… was ich dir heute morgen gesagt habe. Nein, Tanis, geh nicht. Hör mir zu. Es fällt mir nicht leicht.« Gilthanas schwieg einen Moment.

»Ich habe eine Menge gelernt, Tanis – über mich. Die Lektionen waren nicht leicht gewesen. Ich vergaß sie wieder… als ich von Laurana erfuhr. Ich war wütend und verängstigt und wollte jemanden verletzen. Du warst das erstbeste Ziel. Was Laurana getan hat, tat sie aus Liebe zu dir. Ich habe auch eine Menge über Liebe gelernt, Tanis. Oder ich versuche zu lernen.« Seine Stimme war bitter. »Meistens lerne ich über den Schmerz. Aber das ist mein Problem.«

Tanis sah ihn nun voll an. Gilthanas’ Hand ruhte noch auf seiner Schulter.

»Ich weiß jetzt, nachdem ich Zeit zum Nachdenken hatte«, fuhr Gilthanas leise fort, »daß Laurana recht hatte mit dem, was sie tat. Sie mußte gehen, oder ihre Liebe wäre bedeutungslos gewesen. Sie hatte Vertrauen zu dir, glaubte so stark an dich, daß sie ging, als sie hörte, daß du im Sterben lägest, obwohl ihr klar war, daß das bedeuten könnte, zu einem bösen Ort zu gehen…«

Tanis senkte seinen Kopf. Gilthanas hielt ihn jetzt an beiden Schultern fest.

»Theros Eisenfeld sagte einmal, daß er in seinem ganzen Leben niemals gesehen hätte, daß etwas, was aus Liebe geschieht, zu etwas Bösem wird. Wir müssen daran glauben, Tanis. Was Laurana getan hat, hat sie aus Liebe getan. Was du jetzt tust, tust du auch aus Liebe. Die Götter werden sicher ihren Segen geben.«

»Haben sie Sturm gesegnet?« fragte Tanis barsch. »Er hat geliebt!«

»Haben sie nicht? Woher willst du es wissen?«

Tanis’ Hand legte sich über Gilthanas’. Er schüttelte den Kopf. Er wollte glauben. Es klang wunderschön, herrlich… wie die Geschichten über Drachen. Als Kind wollte er auch an Drachen glauben… Seufzend löste er sich vom Elfenlord. Seine Hand lag bereits auf der Türklinke, als Gilthanas wieder sprach.

»Leb wohl… Bruder.«

Die Gefährten trafen sich an der Stadtmauer, an der Geheimtür, die Tolpan gefunden hatte und durch die man zu den Ebenen gelangte. Gilthanas hätte ihnen natürlich die Erlaubnis geben können, die Haupttore zu passieren, aber je weniger Leute von dieser dunklen Reise wußten, desto besser, insbesondere was Tanis betraf.

Jetzt hatten sie sich in dem kleinen Raum oben am Ende der Stufen versammelt. Solinari versank gerade hinter den fernen Bergen. Tanis, der abseits von den anderen stand, beobachtete den Mond, dessen silberne Strahlen die Zinnen der entsetzlichen über ihnen schwebenden Zitadelle berührten. Er konnte in dem fliegenden Schloß Lichter erkennen. Dunkle Schatten bewegten sich. Wer lebte wohl in diesem fürchterlichen Ding? Drakonier? Die schwarzgekleideten Magier und dunklen Kleriker, die es mit ihrer Macht aus der Erde gerissen hatten und es nun in dicken grauen Wolken treiben ließen?

Hinter sich hörte er die anderen leise reden – alle außer Berem. Er stand – von Caramon scharf bewacht – mit aufgerissenen und ängstlichen Augen etwas abseits.

Lange Zeit betrachtete Tanis ihn, dann seufzte er. Wieder stand ein Abschied bevor, und dieser grämte ihn so sehr, daß er sich fragte, ob er überhaupt die Kraft dazu haben würde. Er schaute zur Seite. Die letzten Strahlen Solinaris berührten Goldmonds silbergoldenes Haar. Er sah ihr Gesicht – friedlich und gelassen, obwohl ihr eine Reise in Dunkelheit und Gefahren bevorstand. Und jetzt wußte er, daß er die Kraft haben würde.

Mit einem Seufzen trat er vom Fenster weg und zu seinen Freunden.

»Geht’s los?« fragte Tolpan ungeduldig.

Tanis lächelte, er streckte seine Hand aus und streichelte liebevoll den komischen Haarzopf des Kenders.

»Ja«, sagte Tanis, »es geht los.« Seine Augen wanderten zu Flußwind. »Für einige von uns.«

Als der Mann von den Ebenen dem festen Blick des Halb-Elfen begegnete, spiegelten sich für Tanis Flußwinds eigene Gedanken in seinem Gesicht so deutlich wider wie die über den Nachthimmel ziehenden Wolken. Anfangs verstand Flußwind nicht, vielleicht hatte er nicht einmal Tanis’ Worte gehört. Dann begriff er, was gesagt worden war, und sein strenges, ernstes Gesicht errötete, seine braunen Augen flackerten auf. Tanis sagte nichts, sein Blick ging nur zu Goldmond.

Flußwind sah seine Frau an, die mitten im silbernen Mondschein stand, wartend, in ihre Gedanken versunken. Auf ihren Lippen lag ein süßes Lächeln. Ein Lächeln, das Tanis erst kürzlich gesehen hatte. Vielleicht sah sie ihr Kind in der Sonne spielen.

Tanis blickte wieder zu Flußwind. Er sah den inneren Kampf des Barbaren, und Tanis wußte, der Que-Shu-Krieger würde anbieten – nein, er würde darauf bestehen, sie zu begleiten, selbst wenn er Goldmond zurücklassen müßte.

Tanis ging zu ihm und legte seine Hände auf seine Schultern und sah in die dunklen Augen des Barbaren.

»Deine Aufgabe ist erfüllt, mein Freund«, sagte Tanis. »Dein Weg im Winter war weit und lang genug. Hier trennen sich unsere Wege. Unser führt in die öde und trostlose Wüste. Du begibst dich auf den Weg durch grüne und blühende Bäume. Du trägst die Verantwortung für euer Kind, das ihr in diese Welt bringen werdet.« Er legte jetzt seine Hand auf Goldmonds Schulter und zog sie näher, sah, daß sie protestieren wollte.

»Das Kind wird im Herbst zur Welt kommen«, sagte Tanis leise, »wenn die Vallenholzbäume rot und golden sind. Weine nicht, meine Liebe.« Er nahm Goldmond in seine Arme. »Die Vallenholzbäume werden wieder wachsen. Und du wirst den jungen Krieger oder das junge Mädchen nach Solace bringen, und du wirst ihnen die Geschichte von zwei Menschen erzählen, deren Liebe so stark war, daß sie Hoffnung in eine Welt der Drachen brachten.«

Er küßte ihr wunderschönes Haar. Dann nahm Tika leise weinend seinen Platz ein und verabschiedete sich von Goldmond. Tanis wandte sich an Flußwind. Die ernste Maske des Barbaren war verschwunden, sein Gesicht zeigte deutlich seinen Kummer. Tanis konnte selber kaum durch seine Tränen sehen.

»Gilthanas wird bei der Planung der Verteidigung der Stadt Hilfe brauchen.« Tanis räusperte sich. »Ich hatte gehofft, daß dies wirklich das Ende eures dunklen Winters wäre, aber leider wird er noch ein wenig andauern.«

»Die Götter sind mit uns, mein Freund, mein Bruder«, sagte Flußwind mit tonloser Stimme, während er den Halb-Elfen umarmte. »Mögen sie auch mit dir sein. Wir werden hier auf deine Rückkehr warten.«

Solinari verschwand hinter den Bergen. Die einzigen Lichter am Nachthimmel waren die kalten, glitzernden Sterne und das entsetzliche Strahlen aus den Fenstern der Zitadelle. Die Gefährten verabschiedeten sich einer nach dem anderen von den Barbaren. Dann folgten sie schweigend Tolpan, überquerten die Mauer, traten durch eine zweite Tür und schlichen eine weitere Treppe hinunter. Tolpan schob die Tür auf. Mit den Händen an den Waffen traten die Gefährten vorsichtig hinaus.

Einen Moment lang standen sie zusammengedrängt da, starrten über die Ebene. Selbst in der tiefen Dunkelheit schien es, daß sie für Tausende von Augen aus der Zitadelle sichtbar waren.

Tanis stand neben Berem. Er spürte den Mann vor Angst zittern und war froh, daß er Caramon beauftragt hatte, ihn zu bewachen. Seitdem Tanis erklärt hatte, daß sie nach Neraka gehen würden, lag ein verzweifelter, gehetzter Blick in den blauen Augen des Mannes – ähnlich dem Blick eines gefangenen Tieres. Tanis ertappte sich dabei, Mitleid mit dem Mann zu haben, aber dann verhärtete er sich. Zu viel stand auf dem Spiel. Berem war der Schlüssel, die Antwort lag bei ihm und in Neraka. Aber wie sie die Antwort herausfinden sollten, das wußte Tanis noch nicht genau, obwohl sein Plan schon die ersten groben Umrisse angenommen hatte.

Weit entfernt brach der grelle Lärm von Hörnern durch die Nachtluft. Ein orangefarbenes Licht flackerte am Horizont auf Drakonier, die ein Dorf verbrannten. Tanis hüllte sich enger in seinen Umhang. Obwohl es Frühling war, lag die Winterkälte immer noch in der Luft.

»Bewegt euch«, sagte er leise.

Er beobachtete, wie einer nach dem anderen über den Grasstreifen rannte, um in einem Wäldchen Deckung zu suchen. Dort warteten kleine, schnellfliegende bronzefarbene Drachen auf sie, um sie in das Gebirge zu tragen.

Dies könnte alles heute nacht vorbei sein, dachte Tanis nervös, während Tolpan in der Dunkelheit wie eine Maus davonhüpfte. Wenn die Drachen entdeckt würden, wenn die wachsamen Augen in der Zitadelle sie bemerken würden – alles wäre vorbei. Berem würde in die Hände der Königin fallen. Dunkelheit würde das ganze Land überziehen. Tika folgte Tolpan. Flint lief keuchend dicht hinter ihr. Der Zwerg sah aus, als wäre er noch mehr gealtert. Der Gedanke, daß er vielleicht krank war, kam ihm in den Sinn. Aber er wußte, Flint würde niemals zurückbleiben. Jetzt lief Caramon durch die Dunkelheit, seine Rüstung klirrte. Er zerrte Berem mit sich. Jetzt bin ich an der Reihe, dachte Tanis, als er sah, daß die anderen im Wald Deckung gefunden hatten. Zum Guten oder zum Bösen, die Geschichte neigte sich ihrem Ende zu. Er blickte zurück und sah Goldmond und Flußwind, die sie von dem kleinen Fenster im Turmzimmer aus beobachteten.

Zum Guten oder zum Bösen.

Was ist, wenn die Finsternis endet, fragte sich Tanis zum ersten Mal. Was wird aus der Welt werden? Was wird aus jenen werden, die ich zurücklasse?

Er sah zu den beiden Menschen hoch, die ihm so wichtig waren wie eine Familie – eine Familie, die er niemals hatte. Und während er sie betrachtete, sah er, wie Goldmond eine Kerze anzündete. Einen kurzen Moment leuchtete die Flamme in ihre Gesichter. Sie hoben ihre Hände zum Abschied, dann löschten sie die Flamme, damit unfreundliche Augen sie nicht entdeckten. Tanis holte tief Luft, drehte sich um und lief los. Die Dunkelheit könnte siegen, aber niemals würde sie die Hoffnung auslöschen können.

Und auch wenn eine Kerze – oder viele – flackert oder stirbt, neue Kerzen würden an den alten angezündet werden.

So brennt die Flamme der Hoffnung immer, leuchtet in der Dunkelheit bis zum Anbruch des Tages.

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