Als der Morgen dämmerte und das rosafarbene und goldene Licht sich über das Land verbreitete, erwachten die Bewohner von Kalaman vom Klang der Glocken. Kinder sprangen aus den Betten und stürzten in die Schlafkammern ihrer Eltern, drängten Mütter und Väter aufzustehen, damit dieser besondere Tag begonnen werden konnte. Obwohl einige murrten und die Decken über ihre Köpfe zogen, stiegen die meisten Eltern lachend aus dem Bett, nicht weniger ungeduldig und gespannt als ihre Kinder.
Denn der heutige Tag war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte Kalamans. Heute fand nicht nur das alljährliche Frühlingsfest statt, sondern auch der Siegeseinzug der Armee der Ritter von Solamnia. Die Armee, angeführt von ihrem inzwischen legendären General, einer Elfe, hatte ihre Lager in den Ebenen außerhalb der befestigten Stadt aufgeschlagen und würde am Mittag triumphierend in die Stadt einziehen. Als die Sonne über die Mauern lugte, füllte sich der Himmel über Kalaman mit dem Rauch der Lagerfeuer, und bald erhob sich selbst der Müdeste bei den Gerüchen von brutzelndem Fleisch und warmem Gebäck, gebratenem Speck und wohlriechendem Kaffee aus seinem Bett. Sie wären sowieso früh genug aufgestanden, denn schon füllten sich die Straßen mit Kindern. Beim Frühlingsfest wurde nicht auf Disziplin geachtet. Nach einem langen Winter, eingesperrt in die Häuser, durften sich die Kinder einen Tag lang austoben. Bis zur Abenddämmerung würde es viele blaue Flecken, aufgeschlagene Knie und Magenschmerzen von zuviel Süßigkeiten geben. Aber alle würden diesen Tag als einen glorreichen in Erinnerung behalten.
Am Vormittag war das Fest bereits in vollem Gange.
Verkäufer boten ihre Waren in farbenfrohen Buden an. Der Einfältige verlor sein Geld beim Glücksspiel. Tanzbären tollten auf den Straßen, und Zauberkünstler riefen erstauntes Ächzen bei alt und jung hervor.
Um Punkt zwölf Uhr läuteten wieder die Glocken. Die Straßen leerten sich. Die Leute sammelten sich an ihren Rändern. Die Stadttore wurden aufgestoßen, und die Ritter von Solamnia rüsteten sich für ihren Einzug in Kalaman.
Ein erwartungsvolles Schweigen fiel über die Menge. Ungeduldig starrten sie nach vorn, schubsten sich, um einen guten Ausblick auf die Ritter zu haben, insbesondere auf die Elfe, von der sie schon so viele Geschichten gehört hatten. Sie ritt als erste, allein, auf einem schneeweißen Pferd. Der Menge, die eigentlich jubeln wollte, verschlug es den Atem angesichts der Schönheit und Erhabenheit dieser Frau. Laurana, in eine glänzende, mit Blattgold verzierte Silberrüstung gekleidet, lenkte ihren Schimmel durch die Tore und in die Straßen. Eine Abordnung von Kindern war sorgfältig vorbereitet worden, Blumen in Lauranas Weg zu streuen, aber die Kinder waren vom Anblick der wunderschönen Frau in der glitzernden Rüstung derart überwältigt, daß sie ihre Blumen krampfhaft festhielten und keine einzige streuten.
Hinter dem goldhaarigen Elfenmädchen ritten zwei, die nicht wenige in der Menge zum Staunen brachten – ein Kender und ein Zwerg, zusammen auf einem schäbigen Pony, dessen Rücken so breit wie eine Tonne war. Der Kender schien eine wundervolle Zeit zu haben und schrie und winkte der Menge zu. Aber der Zwerg, der hinter ihm saß, hatte sich um die Taille des Kenders in einem todesähnlichen Griff festgeklammert, und er nieste so heftig, als ob er sich selbst vom Rücken des Tieres wegniesen würde.
Dem Zwerg und dem Kender folgte ein Elfenlord, der dem Elfenmädchen so glich, daß niemand in der Menge seinem Nachbarn erklären mußte, daß es Bruder und Schwester waren. Neben dem Elfenlord ritt ein anderes Elfenmädchen mit seltsamen silbernen Haaren und tiefblauen Augen, das angesichts der Menge schüchtern und nervös wirkte. Dann kamen die Ritter von Solamnia, vielleicht fünfundsiebzig insgesamt, herrlich anzusehen in ihren glänzenden Rüstungen. Die Menge begann zu jubeln, Flaggen wurden geschwenkt. Einige der Ritter wechselten bittere Blicke, alle dachten das gleiche: Wären sie nur einen Monat zuvor in Kalaman eingezogen, hätte man ihnen einen ganz anderen Empfang bereitet. Aber jetzt waren sie Helden. Dreihundert Jahre des Hasses und der Bitterkeit und der ungerechten Anschuldigungen waren aus der Erinnerung der Bevölkerung wie ausgelöscht, als sie jene bejubelten, die sie vor der Drachenarmee gerettet hatten.
Hinter den Rittern marschierten mehrere tausend Fußsoldaten. Und dann füllte sich zur Freude der Menge der Himmel über der Stadt mit Drachen – nicht mit den schrecklichen roten und blauen Scharen, vor denen sich die Leute den ganzen Winter über gefürchtet hatten. Statt dessen blitzten silberne, bronzene und goldene Flügel in der Sonne auf, als die ehrfurchterregenden Kreaturen in ihren gutorganisierten Scharen am Himmel kreisten, eintauchten und sich drehten. Ritter saßen in den Drachensatteln, die Klingen der Drachenlanzen funkelten im Morgenlicht. Nach der Parade versammelten sich die Stadtbewohner, um die Ansprache ihres Fürsten zu Ehren der Helden zu hören. Laurana errötete, als sie hörte, daß sie allein für die Entdeckung der Drachenlanzen, die Rückkehr der guten Drachen und die ungeheuren Siege der Armee verantwortlich wäre. Stammelnd versuchte sie, dem zu widersprechen, und wies auf ihren Bruder und die Ritter. Aber die Jubelschreie der Menge übertönten sie. Hilflos sah Laurana zu Fürst Michael, Großmeister Gunther Uth Wistans Vertreter, der kurz vorher aus Sankrist eingetroffen war. Michael grinste nur.
»Laß sie ihren Helden haben«, sagte er ihr. »Oder Heldin, sollte ich lieber sagen. Sie verdienen es. Den ganzen langen Winter über haben sie in Angst gelebt und auf den Tag gewartet, an dem die Drachen am Himmel erscheinen würden. Jetzt haben sie eine wunderschöne Heldin, den Märchen der Kinder entstiegen, um sie zu retten.«
»Aber das stimmt nicht!« protestierte Laurana, die näher zu Michael trat. Ihre Arme waren mit Winterrosen geschmückt. Der Duft war unangenehm, aber sie nahm sie aus Angst nicht ab, jemanden zu beleidigen. »Ich bin nicht aus einem Kindermärchen erschienen. Ich habe Feuer, Finsternis und Blut überlebt. Mir das Kommando zu übertragen, war eine politische List von Fürst Gunther gewesen – das wissen wir beide. Und wenn mein Bruder und Silvara nicht ihr Leben riskiert hätten, um die guten Drachen zu überzeugen, würden wir in diesen Straßen eine Parade in Ketten hinter der Finsteren Herrin abhalten.«
»Pah! Es tut ihnen gut. Und uns auch«, fügte Michael hinzu, der Laurana aus den Augenwinkeln betrachtete, während er der Menge zuwinkte. »Vor wenigen Wochen hätten wir den Fürsten nicht einmal um altbackenes Brot anbetteln können. Jetzt ist er wegen des Goldenen Generals einverstanden, die Armee in der Stadt zu stationieren, uns mit Vorräten, Pferden und allem, was wir wollen, zu versorgen. Junge Männer kommen in Scharen, um Soldaten zu werden. Unsere Armee wird um tausend oder mehr Männer anwachsen, bevor wir nach Dargaard aufbrechen. Und du hast die Moral unserer eigenen Soldaten gehoben. Du hast damals die Ritter im Turm des Oberklerikers erlebt – sieh sie jetzt an.«
Ja, dachte Laurana bitter. Ich habe sie erlebt. Zersplittert durch Meinungsverschiedenheiten in den eigenen Reihen, in Unehre gefallen, streitend und Intrigen schmiedend. Erst der Tod eines guten, ehrenhaften Mannes brachte sie wieder zur Vernunft. Laurana schloß die Augen. Der Lärm, der Duft der Rosen – der sie immer an Sturm erinnerte -, die Erschöpfung von der Schlacht, die Hitze der Mittagssonne, alles stürzte auf sie ein wie eine erdrückende Woge. Ihr wurde schwindlig, und sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Der Gedanke amüsierte sie leicht. Wie würde das aussehen – der Goldene General kippt wie eine verwelkte Blume um…
Dann spürte sie einen starken Arm.
»Ruhig Blut, Laurana!« sagte Gilthanas, der sie festhielt. Silvara stand neben ihr und nahm die Rosen von ihren Armen. Seufzend öffnete Laurana ihre Augen und lächelte schwach dem Fürsten zu, der gerade seine zweite Ansprache unter einem Beifallssturm beendete.
Ich sitze in der Falle, wurde Laurana klar. Sie würde hier den restlichen Nachmittag sitzen und die Ansprachen ertragen müssen, die ihre Heldentaten priesen. Sie wünschte sich nichts mehr, als an einem dunklen, kühlen Ort zu liegen und zu schlafen. Und es waren alles Lügen, alles nur Heuchelei. Wenn sie nun die Wahrheit erfahren würden. Was wäre, wenn sie aufstehen und ihnen erzählen würde, daß sie während der Schlachten so viel Angst hatte, daß sie sich an Einzelheiten nur in ihren Alpträumen erinnern würde? Wenn sie ihnen sagte, daß sie für die Ritter nichts anderes war als eine Spielkarte? Daß sie nur hier war, weil sie aus ihrem Elternhaus weggelaufen war – ein verwöhntes kleines Mädchen, daß einem Halb-Elfen nachgerannt war, der sie nicht einmal liebte? Was würden sie dann sagen?
»Und jetzt«, die Stimme des Fürsten von Kalaman übertönte den Lärm der Menge, »ist es mir eine Ehre, euch die Frau vorzustellen, die die entscheidende Wende des Krieges herbeigeführt hat, die Frau, die die Drachenarmee in die Ebenen geschickt hat, sie um ihr Leben rennen ließ, die Frau, die die bösen Drachen vom Himmel vertrieben hat, die Frau, deren Armee den verruchten Bakaris, Kommandant der Armee des Drachenfürsten, gefangengenommen hat, die Frau, deren Name schon jetzt mit dem des legendären Huma verbunden ist, des mutigsten Kriegers auf Krynn. In einer Woche wird sie nach Burg Dargaard reiten, um die Kapitulation der Drachenfürstin, bekannt als die Finstere Herrin, zu fordern…«
Die Stimme des Fürsten erstarb im Jubel. Er hielt inne, dann griff er hinter sich und zerrte Laurana fast nach vorn.
»Lauralanthalasa aus dem Königlichen Haus der Qualinesti!«
Der Beifall war ohrenbetäubend. Er hallte von den hohen Steingebäuden wider. Laurana sah auf das Meer geöffneter Münder und die heftig wedelnden Flaggen. Sie wollen nichts von meiner Furcht wissen, begriff Laurana müde. Sie haben selbst genug Furcht. Sie wollen nichts über Finsternis und Tod wissen. Sie wollen Kindermärchen über Liebe und Wiedergeburt und Silberdrachen.
Wollen wir das nicht alle?
Mit einem Seufzer wandte sich Laurana zu Silvara. Sie nahm die Rosen zurück, hielt sie hoch in die Luft und winkte der jubelnden Menge zu. Dann begann sie ihre Ansprache. Tolpan Barfuß verbrachte eine herrliche Zeit. Es war einfach gewesen, Flints wachsamem Blick zu entgehen und von der Plattform zu schlüpfen, wo er mit den anderen Würdenträgern stand. Er verschmolz mit der Menge und war nun frei, diese interessante Stadt aufs neue zu erforschen. Vor langer Zeit war er mit seinen Eltern in Kalaman gewesen, und er hegte liebevolle Erinnerungen an den Basar, den Hafen, wo die weißgeflügelten Schiffe vor Anker lagen, und an Hunderte andere wundervolle Dinge. Mit Muße wanderte er durch die fröhliche Menge, seine scharfen Augen sahen alles, seine Hände stopften geschäftig Dinge in seine Beutel. Wirklich, dachte Tolpan, die Leute von Kalaman sind äußerst sorglos! Geldbörsen hatten die unheimliche Angewohnheit, aus den Gürteln der Leute in Tolpans Hände zu fallen. Die Straßen hätten mit Juwelen gepflastert sein können, so wie er Ringe und andere faszinierende Schmuckstücke entdeckte.
Dann wurde der Kender in das Reich des Entzückens befördert, als er zufällig auf die Bude eines Kartographen stieß. Und wie das Schicksal es wollte, war der Kartograph weggegangen, um die Parade zu beobachten. Die Bude war verriegelt, an einem Haken hing ein großes Schild.
GESCHLOSSEN.
Wie schade, dachte Tolpan. Aber ich bin mir sicher, es wird ihn nicht stören, wenn ich einen Blick auf seine Karten werfe. Fachmännisch ruckte er an dem Schloß, dann lächelte er glücklich. Noch ein paar Rucke, und es würde sich mühelos öffnen. Bei solch einem primitiven Schloß ist es bestimmt nicht seine Absicht, Leute fernzuhalten. Ich gehe nur schnell hinein und kopiere einige seiner Karten, um meine Sammlung auf den neusten Stand zu bringen…
Plötzlich spürte Tolpan eine Hand auf seiner Schulter. Wütend, daß jemand ihn gerade jetzt stören wollte, blickte sich der Kender um und sah auf eine seltsame Gestalt, die aber vertraut wirkte. Sie war trotz des warmen Frühlingstages in schwere Umhänge und Gewänder gekleidet. Sogar die Hände waren in Bandagen gewickelt. Ein Kleriker, dachte der Kender verärgert und besorgt.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Tolpan zu dem Kleriker, der ihn fest im Griff hatte. »Ich will ja nicht grob sein, aber ich war gerade…«
»Barfuß?« unterbrach der Kleriker mit kalter, lispelnder Stimme. »Der Kender, der mit dem Goldenen General reitet?«
»Nun ja«, sagte Tolpan, geschmeichelt, daß ihn jemand erkannt hatte. »Das bin ich. Ich reite mit Laurana – dem Goldenen General – seit langer Zeit. Laß mich nachdenken, ich glaube, seit dem letzten Herbst. Ja, wir lernten uns in Qualinesti kennen, direkt nachdem wir aus den Gefängniswagen der Hobgoblins entkommen waren, und das war kurz bevor wir einen schwarzen Drachen in Xak Tsaroth getötet hatten. Das ist die wunderbarste Geschichte…« Tolpan vergaß die Karten.
»Weißt du, wir waren in dieser alten, alten Stadt, die zu einer Höhle verfallen und von Gossenzwergen bewohnt war. Wir lernten eine Zwergin kennen, Bupu, die von Raistlin verzaubert wurde…«
»Halt den Mund!« Die bandagierte Hand des Klerikers fuhr von Tolpans Schulter zu seinem Hemdkragen. Der Kleriker packte ihn fachmännisch, drehte ihn mit einem plötzlichen Ruck und hob den Kender in die Luft. Obwohl Kender im allgemeinen keine Angst haben, empfand Tolpan es als äußerst unangenehm, kaum atmen zu können.
»Hör mir gut zu«, zischte der Kleriker und schüttelte den sich sträubenden Kender heftig, so wie ein Wolf einen Vogel durchschüttelt, um ihm den Hals zu brechen. »So ist es gut. Halt still, dann schmerzt es weniger. Ich habe eine Nachricht für den Goldenen General.« Seine Stimme klang tödlich sanft. »Hier ist sie.« Tolpan spürte, wie eine grobe Hand etwas in seine Westentasche steckte. »Sieh zu, daß du ihr die Botschaft heute Abend zuspielen kannst, wenn sie alleine ist. Verstanden?«
Tolpan, der unter dem Würgegriff des Klerikers weder sprechen noch nicken konnte, blinzelte zweimal mit den Lidern. Der vermummte Kopf nickte, dann ließ der Kleriker den Kender auf den Boden fallen und verschwand eilig in der Menge. Der benommene Kender rang nach Atem und starrte der Gestalt nach, deren lange Robe im Wind flatterte. Tolpan griff geistesabwesend nach der Schriftrolle, die in seiner Westentasche steckte. Der Klang dieser Stimme brachte sehr unangenehme Erinnerungen zurück: der Überfall auf der Straße von Solace, schwervermummte Gestalten… wie Kleriker… nur, daß es keine Kleriker waren! Tolpan schauderte. Ein Drakonier! Hier! In Kalaman!
Der Kender wandte sich kopfschüttelnd wieder der Bude des Kartographen zu. Aber das Vergnügen des Tages war ihm vergangen. Er konnte nicht einmal Aufregung empfinden, als sich das Schloß in seinen kleinen Händen öffnete.
»He, du!« kreischte eine Stimme. »Kender! Verschwinde von hier!«
Ein Mann rannte auf ihn zu, keuchend und rot im Gesicht. Vermutlich der Kartograph.
»Du brauchst nicht so zu rennen«, sagte Tolpan teilnahmslos.
»Wegen mir brauchst du nicht extra zu öffnen.«
»Öffnen!« Der Kiefer des Mannes sackte runter. »Nun, du kleiner Dieb! Ich komme gerade rechtzeitig…«
»Trotzdem vielen Dank.« Tolpan ließ das Schloß in die Hand des Mannes fallen und ging davon. Geistesabwesend wich er dem aufgebrachten Kartographen aus, der versuchte, ihn festzuhalten. »Ich gehe jetzt. Ich fühle mich nicht wohl. Oh, nebenbei bemerkt, wußtest du, daß das Schloß kaputt ist? Nutzlos. Du solltest vorsichtiger sein. Man weiß nie, wer sich einschleichen könnte. Nein, danke mir nicht. Ich habe keine Zeit. Auf Wiedersehen.«
Tolpan zog davon. »Dieb! Dieb!« tönte es hinter ihm. Ein Wachmann erschien, und Tolpan war gezwungen, sich in einem Metzgerladen zu verstecken, um nicht überrannt zu werden. Über die Schlechtigkeit der Welt den Kopf schüttelnd, blickte sich der Kender in der Hoffnung um, den Missetäter zu entdecken. Da nichts Interessantes zu sehen war, setzte er seinen Weg fort und fragte sich plötzlich gereizt, wie Flint es schon wieder geschafft hatte, ihn zu verlieren.
Laurana schloß die Tür, drehte den Schlüssel im Schloß um und lehnte sich dankbar dagegen, genoss den Frieden und die Ruhe und die Einsamkeit ihrer Kammer. Nachdem sie den Schlüssel auf einen Tisch geworfen hatte, ging sie müde zu ihrem Bett, zündete nicht einmal eine Kerze an. Die Strahlen des silbernen Mondes flossen durch die verbleiten Scheiben ihres langen, schmalen Fensters. Von den untersten Räumen des Schlosses konnte sie noch die Geräusche des Festes hören, das sie gerade verlassen hatte. Es war fast Mitternacht. Sie hatte zwei Stunden lang versucht zu entkommen. Fürst Michaels Eingreifen in ihrem Namen – daß sie von den Schlachten erschöpft sei – hatte schließlich die Herrschaften der Stadt Kalaman bewogen, sie gehen zu lassen. Ihr Kopf schmerzte von der stickigen Luft, dem Duft starken Parfüms und dem vielen Wein. Sie wußte, sie hätte nicht soviel trinken dürfen. Sie konnte Wein nicht gut vertragen, und außerdem schmeckte er ihr nicht. Aber der Schmerz in ihrem Kopf war einfacher zu ertragen als der Schmerz in ihrem Herzen.
Sie warf sich aufs Bett und dachte kurz, aufzustehen und die Fensterläden zu schließen, aber das Mondlicht war beruhigend. Laurana haßte es, im Dunkeln zu liegen. Wesen lauerten in den Schatten, bereit, sie anzuspringen. Ich sollte mich ausziehen, dachte sie, ich zerknittere das Kleid… und es ist nur geliehen…
Es klopfte an der Tür.
Laurana erwachte erschrocken. Dann erinnerte sie sich, wo sie war. Seufzend lag sie ruhig da und schloß wieder die Augen. Sicherlich würden sie bemerken, daß sie schlief, und weggehen. Wieder klopfte es, diesmal hartnäckiger als beim ersten Mal.
»Laurana…«
»Sag es mir morgen, Tolpan«, entgegnete Laurana, versuchte, den Ärger aus ihrer Stimme zu halten.
»Es ist wichtig, Laurana«, rief Tolpan. »Flint ist bei mir.«
Laurana hörte ein schlurfendes Geräusch vor der Tür.
»Komm schon, erzähl es ihr…«
»Das werde ich nicht! Es ist deine Sache!«
»Aber er hat gesagt, es wäre wichtig, und ich…«
»In Ordnung, ich komme!« seufzte Laurana. Sie taumelte aus dem Bett, tastete nach dem Schlüssel auf dem Tisch und schloß die Tür auf.
»Hallo, Laurana!« grüßte Tolpan fröhlich, während er hereinspazierte. »War das nicht ein wundervolles Fest? Ich habe noch nie soviel gebratenen Pfau gegessen…«
»Was ist los, Tolpan?« fragte Laurana und schloß die Tür. Als Flint ihr blasses, abgespanntes Gesicht sah, stieß er den Kender in den Rücken. Tolpan warf dem Zwerg einen vorwurfsvollen Blick zu, dann griff er in seine Westentasche und holte die mit einem blauen Band verschnürte Schriftrolle hervor.
»Ein Kleriker, oder so etwas Ähnliches, sagte mir, ich soll dir das geben, Laurana«, erklärte Tolpan.
»Ist das alles?« fragte Laurana ungeduldig und riß die Rolle dem Kender aus der Hand. »Wahrscheinlich ein Heiratsantrag. In der letzten Woche habe ich zwanzig davon bekommen. Ganz zu schweigen von den eindeutigen Angeboten.«
»O nein«, sagte Tolpan plötzlich ganz ernst. »So etwas ist es nicht, Laurana. Es ist von…« Er verstummte.
»Woher weißt du, von wem es ist?« Laurana musterte den Kender eindringlich.
»Ich… uh… vermute… irgendwie… sah ich darauf…«, gab Tolpan zu. Dann strahlte er auf. »Aber es ist nur, daß ich dich nicht gestört hätte, wenn es unwichtig gewesen wäre.«
Flint schnaubte verächtlich.
»Danke«, sagte Laurana. Sie öffnete die Schriftrolle und ging zum Fenster.
»Wir lassen dich jetzt allein«, sagte Flint schroff und drängte den protestierenden Kender zur Tür.
»Nein! Wartet!« würgte Laurana. Flint drehte sich um und starrte sie besorgt an.
»Ist alles in Ordnung?« fragte er und eilte zu ihr, als sie sich auf einen Stuhl neben dem Fenster sinken ließ. »Tolpan – hol Silvara!«
»Nein, nein. Holt niemanden. Es ist… alles in Ordnung. Wißt ihr, was hier steht?« fragte sie flüsternd.
»Ich habe versucht, es ihm zu sagen«, antwortete Tolpan mit verletzter Stimme, »aber er wollte mich nicht lassen.«
Mit zitternder Hand reichte Laurana Flint die Schriftrolle. Der Zwerg öffnete sie und las laut vor.
»Tanis, der Halb-Elf, wurde in der Schlacht an der Burg Vingaard verletzt. Obwohl es anfangs nur eine geringfügige Wunde zu sein schien, hat sie sich verschlimmert, so daß ihm nicht einmal die dunklen Kleriker helfen können. Ich ordnete an, ihn zur Burg Dargaard zu bringen, wo ich mich um ihn kümmern kann. Tanis weiß um den Ernst seiner Verletzung. Er bittet um die Erlaubnis, bei dir zu sein, wenn er stirbt, so daß er dir die Dinge erklären und mit leichterem Herzen sterben kann. Ich unterbreite dir folgendes Angebot. Du hältst meinen Offizier Bakaris gefangen. Ich bin bereit, Tanis, den Halb-Elfen, gegen Bakaris auszutauschen. Der Austausch kann morgen früh in einem Wald vor den Stadtmauern stattfinden. Bring Bakaris mit. Wenn du mir nicht traust, dürfen Tanis’ Freunde Flint Feuerschmied und Tolpan Barfuß dich begleiten. Aber sonst niemand! Der Überbringer dieser Nachricht wartet vor dem Stadttor. Treffe ihn morgen bei Sonnenaufgang. Wenn er sich überzeugt hat, daß alles in Ordnung ist, wird er dich zu dem Halb-Elfen führen. Wenn nicht, wirst du Tanis lebend nicht mehr sehen.
Ich mache dir diesen Vorschlag, weil wir zwei Frauen sind, die sich verstehen. Kitiara.«
Ein unbehagliches Schweigen entstand, dann schnaufte Flint verächtlich und rollte den Brief ein.
»Wie kannst du so ruhig und gelassen sein!« keuchte Laurana, die die Rolle aus der Hand des Zwerges riß. »Und du«, ihr Blick glitt wütend zu Tolpan, »warum hast du mir nicht früher davon erzählt? Wie lange weißt du schon davon? Ihr habt gelesen, daß er im Sterben liegt, und ihr seid so… so…«
Laurana stützte ihren Kopf in die Hände.
Tolpan starrte sie mit offenem Mund an. »Laurana«, sagte er nach einem Moment, »du glaubst doch nicht im Ernst, daß Tanis…«
Laurana hob ihren Kopf. Ihre dunklen, verzweifelten Augen gingen zu Flint, dann zu Tolpan. »Ihr glaubt nicht, daß diese Nachricht wahr ist, oder?« fragte sie ungläubig.
»Natürlich nicht!« sagte Flint.
»Nein«, spottete Tolpan. »Es ist ein Trick! Ein Drakonier gab sie mir! Außerdem ist Kitiara jetzt eine Drachenfürstin. Was sollte Tanis mit ihr zu tun haben…«
Laurana drehte abrupt ihr Gesicht weg. Tolpan stockte und blickte zu Flint, dessen Gesicht plötzlich zu altern schien.
»So ist das also«, sagte der Zwerg leise. »Wir haben dich gesehen, als du mit Kitiara auf der Mauer des Turms des Oberklerikers geredet hast. Ihr habt über mehr als über Sturms Tod geredet, nicht wahr?«
Laurana nickte stumm und starrte auf ihre Hände.
»Ich habe es euch nie erzählt«, murmelte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Ich konnte nicht… ich habe gehofft… Kitiara hat gesagt… sie hätte Tanis in… irgendeiner Stadt namens Treibgut zurückgelassen… weil sie nach dem Rechten sehen mußte.«
»Lügnerin!« sagte Tolpan prompt.
»Nein.« Laurana schüttelte den Kopf. »Wenn sie sagt, daß wir zwei Frauen sind, die sich verstehen, hat sie recht. Sie hat nicht gelogen. Sie hat die Wahrheit gesagt, das weiß ich. Und am Turm erwähnte sie den Traum.« Laurana hob ihren Kopf. »Ihr erinnert euch doch an den Traum?«
Flint nickte unbehaglich. Tolpan scharrte mit den Füßen.
»Nur Tanis hätte ihr über den Traum erzählen können, den wir alle teilten«, fuhr Laurana fort. »Ich habe ihn mit ihr in dem Traum gesehen, so wie ich Sturms Tod gesehen habe. Der Traum ist wahr geworden…«
»Nun halt mal ein«, unterbrach Flint grob, klammerte sich an die Wirklichkeit wie ein Ertrinkender an ein Holzstück. »Du hast selbst gesagt, daß du deinen eigenen Tod im Traum gesehen hast, direkt nach Sturms Tod. Und du bist nicht gestorben. Und Sturms Körper wurde auch nicht zerhackt.«
»Ich bin auch noch nicht gestorben, so wie in dem Traum«, fügte Tolpan hilfsbereit hinzu. »Und ich habe schon Unmengen von Schlössern geknackt, nun, nicht Unmengen, aber hin und wieder ein paar, und keins war vergiftet. Außerdem, Laurana, Tanis würde nicht…«
Flint warf Tolpan einen warnenden Blick zu. Der Kender verstummte sofort. Aber Laurana hatte den Blick bemerkt und verstand. Ihre Lippen zogen sich zusammen.
»Doch, er würde. Und das wißt ihr auch. Er liebt sie.«
Laurana schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ich mache es. Ich werde Bakaris austauschen.«
Flint seufzte tief. Er hatte das kommen sehen. »Laurana…«
»Warte eine Minute, Flint«, unterbrach sie ihn. »Wenn Tanis eine Nachricht erhalten würde, daß du im Sterben liegst, was würde er tun?«
»Darum geht es nicht«, murmelte Flint.
»Selbst wenn er in die Hölle gehen müßte, an tausend Drachen vorbei, er würde zu dir kommen…«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Flint mürrisch.
»Nicht, wenn er Anführer einer Armee wäre. Nicht, wenn er Verantwortung tragen müßte, wenn Leute von ihm abhängen würden. Er würde wissen, daß ich verstehen…«
Lauranas Gesicht hätte aus Marmor gemeißelt sein können, so unbeweglich und rein und kalt war ihr Ausdruck. »Ich habe um diese Verantwortung nie gebeten. Ich wollte sie nie. Wir könnten es so aussehen lassen, als wäre Bakaris geflohen…«
»Mach das nicht, Laurana!« bettelte Tolpan. »Er ist der Offizier, der Derek und Fürst Alfred zum Turm des Oberklerikers zurückgebracht hat, der Offizier, dem du einen Pfeil in den Arm geschossen hast. Er haßt dich, Laurana! Ich… ich habe gesehen, wie er dich angesehen hat, als wir ihn gefangengenommen haben!«
Flints Augenbrauen zogen sich zusammen. »Die Herrschaften und dein Bruder sind noch unten. Wir sollten mit ihnen besprechen, wie wir diese Angelegenheit am besten handhaben…«
»Ich bespreche nichts«, stellte Laurana klar und hob ihr Kinn in der alten gebieterischen Weise, die der Zwerg nur zu gut kannte. »Ich bin der General. Ich werde entscheiden.«
»Vielleicht solltest du jemanden um Rat fragen…«
Laurana musterte den Zwerg mit bitterer Belustigung. »Wen denn?« fragte sie. »Gilthanas? Was sollte ich ihm sagen? Daß Kitiara und ich Liebhaber austauschen? Nein, wir werden es niemandem sagen. Was würden die Ritter mit Bakaris anstellen? Ihn nach ritterlichem Ritual hinrichten. Sie schulden mir etwas für das, was ich für sie getan habe. Ich nehme Bakaris als Lohn.«
»Laurana«, Flint suchte verzweifelt nach einem Weg, ihre eisige Maske zu durchdringen, »es gibt ein Protokoll, das bei einem Austausch von Gefangenen befolgt werden muß. Du hast recht. Du bist der General, und darum solltest du wissen, wie wichtig das ist! Du hast lang genug am Hof deines Vaters gelebt…« Das war ein Fehler. Der Zwerg brach sofort ab, als es ihm klar wurde, und verfluchte sich.
»Ich bin nicht mehr am Hof meines Vaters!« fuhr Laurana ihn an. »Zur Hölle mit dem Protokoll!« Sie erhob sich und musterte Flint kühl, als ob sie ihn gerade erst kennengelernt hätte.
»Ich danke euch, mir die Nachricht überbracht zu haben. Ich muß vor Morgenanbruch noch eine Menge erledigen. Wenn ihr irgend etwas für Tanis übrig habt, dann geht bitte in eure Zimmer zurück und sagt niemandem etwas davon.«
Tolpan warf Flint einen alarmierten Blick zu. Der Zwerg errötete und versuchte eilig, seinen Fehler wiedergutzumachen.
»Nun, Laurana«, sagte er schroff, »nimm dir meine Worte nicht zu Herzen. Wenn du diesen Entschluß getroffen hast, werde ich dich unterstützen. Ich bin nur ein alter, brummiger Großvater, das ist alles. Ich mache mir Sorgen um dich, auch wenn du ein General bist. Und du solltest mich mitnehmen wie es im Brief steht…«
»Und mich auch!« schrie Tolpan entrüstet.
Flint funkelte ihn wütend an, aber Laurana bemerkte es nicht. Ihre Miene wurde weicher. »Ich danke dir, Flint. Dir auch, Tolpan«, sagte sie müde. »Es tut mir leid, daß ich euch angefahren habe. Aber ich glaube wirklich, ich sollte allein gehen.«
»Nein«, entgegnete Flint starrköpfig. »Ich sorge mich um Tanis genauso wie du. Wenn es wirklich stimmt, daß er im…«, der Zwerg schluckte und wischte mit einer Hand über seine Augen. Dann würgte er den Klumpen in seiner Kehle hinunter.
»Ich will bei ihm sein.«
»Ich auch«, murmelte Tolpan gedämpft.
»Nun gut.« Laurana lächelte traurig. »Ich kann es verstehen. Und ich bin sicher, auch er will euch dabeihaben.«
Sie klang so sicher, so überzeugt, daß sie Tanis sehen würde. Der Zwerg erkannte es in ihren Augen. Er machte einen letzten Versuch. »Laurana, was ist, wenn es eine Falle ist? Ein Hinterhalt…«
Lauranas Miene gefror wieder. Ihre Augen verengten sich wütend, und Flint schwieg. Er blickte zu Tolpan. Der Kender schüttelte den Kopf.
Der alte Zwerg seufzte.