3 Die Dunkelheit nimmt zu

»Eine Drachenschar«, sagte Raistlin, der nun neben seinem Bruder stand. »Fünf, glaube ich.«

»Drachen!« keuchte Maquesta. Einen Moment lang klammerte sie sich mit zitternden Händen an die Reling, dann wirbelte sie herum. »Alle Segel setzen!« befahl sie.

Die Mannschaft starrte nach Westen, ihre Augen und ihr Denken waren von dem nahenden Entsetzen gebannt. Maquesta hob ihre Stimme und schrie nochmals ihren Befehl; ihr einziger Gedanke galt ihrem geliebten Schiff. Die Kraft und Ruhe in ihrer Stimme durchbrach die ersten schwachen Anzeichen der Drachenangst, die über die Mannschaft kroch. Einige sprangen automatisch auf, um ihren Befehl auszuführen, dann folgten die anderen. Koraf half mit seiner Peitsche nach und schlug jeden Mann, der sich nicht schnell genug bewegte. Innerhalb von Sekunden blähten sich die Segel auf.

»Halte das Schiff nahe am Rand des Sturms!« gellte Maque zu Berem. Der Mann nickte langsam, aber seinem ausdruckslosen Gesicht war nicht zu entnehmen, ob er sie überhaupt gehört hatte.

Offenbar hatte er aber gehört, denn die Perechon schwebte am Rand des Sturms, der über dem Blutmeer hing, glitt über die Wellen, angetrieben vom nebelgrauen, heftigen Wind. Es war blanker Leichtsinn, und Maque war sich dessen bewußt. Wenn nur ein Rundholz weggeblasen würde, ein Segel platzte, ein Tau riß – sie wären verloren. Aber sie mußte das Risiko eingehen.

»Sinnlos«, bemerkte Raistlin kühl. »Du kannst Drachen nicht entkommen. Sieh doch, wie schnell sie aufholen. Man verfolgt dich, Halb-Elf. Du wurdest schon verfolgt, als du das Lager verlassen hast… entweder das«, die Stimme des Magiers zischte, »oder du hast sie zu uns geführt!«

»Nein! Ich schwöre…«, Tanis hielt inne.

Der betrunkene Drakonier! – Tanis schloß die Augen und verfluchte sich. Natürlich hatte Kit ihn bewachen lassen! Sie vertraute ihm nicht mehr als den anderen Männern, mit denen sie ihr Bett teilte. Was für ein Narr er doch war! Zu glauben, daß er für sie etwas Besonderes war, zu glauben, sie würde ihn lieben! Sie liebte niemanden. Sie war unfähig zu lieben…

»Ich muß verfolgt worden sein!« sagte Tanis mit zusammengebissenen Zähnen. »Dir müßt mir glauben. Ich habe nicht damit gerechnet, daß man mich in diesem Sturm verfolgen würde. Aber ich habe euch auch nicht verraten! Ich schwöre es!«

»Wir glauben dir, Tanis«, sagte Goldmond, stellte sich zu ihm und warf Raistlin einen wütenden Blick zu.

Raistlin sagte nichts mehr, aber seine Lippen kräuselten sich verächtlich. Tanis mied seinen Blick und beobachtete die Drachen. Jetzt konnten sie die Kreaturen deutlich erkennen: die enormen Flügelspannen, die langen, sich schlängelnden Schwänze, die grausamen Krallenklauen, die unter den riesigen blauen Körpern hervorragten.

»Einer trägt einen Reiter«, berichtete Maquesta grimmig, die die Drachenschar mit ihrem Fernglas beobachtete. »Einen Reiter mit einer gehörnten Maske.«

»Ein Drachenfürst«, bemerkte Caramon unnötigerweise, denn alle wußten nur zu gut, was diese Beschreibung bedeutete. Er wandte sich mit einem nachdenklichen Blick an Tanis. »Du erzählst uns lieber, was los ist, Tanis. Wenn dieser Fürst dachte, du wärst einer seiner Soldaten, warum nimmt er dann die Mühe auf sich, dir nachspionieren zu lassen und dich persönlich zu verfolgen?«

Tanis wollte antworten, aber seine stammelnden Worte gingen in einem verzweifelten, unverständlichen Aufschrei unter; ein Aufschrei, in dem sich Angst und Entsetzen und Wut vermischten, so tierähnlich, daß die Gedanken eines jeden von den Drachen abgelenkt wurden. Er kam vom Schiffsteuer. Mit ihren Händen an den Waffen drehten sich die Gefährten um. Die Mannschaft hielt in ihrer hektischen Arbeit inne, selbst Koraf hörte auf, mit seiner Peitsche zu hantieren, sein Tiergesicht verzerrte sich vor Verblüffung, als das Geschrei immer lauter und furchtsamer wurde.

Nur Maquesta verlor nicht die Nerven. »Berem«, rief sie und begann, zu ihm zu laufen, ihre Angst gab ihr plötzlich ein graueneinflößendes Verstehen seines Gemüts. Sie sprang über das Deck, aber es war zu spät.

Mit einem Ausdruck wahnsinniger Angst fiel Berem in Schweigen und starrte auf die näher kommenden Drachen. Dann brüllte er wieder auf, ein Aufheulen der Angst, das selbst dem Minotaurus das Blut gefrieren ließ. Das mit vollen Segeln fahrende Schiff schien über die Wellen zu hüpfen, aber trotzdem holten die Drachen weiter auf.

Maquesta hatte ihn fast erreicht, als er seinen Kopf wie ein verwundetes Tier schüttelte und das Steuerrad herumriß.

»Nein! Berem!« kreischte Maquesta.

Berems plötzliche Bewegung drehte das kleine Schiff so schnell um die eigene Achse, daß es fast kenterte. Das Besansegel zerbrach von der Belastung, als das Schiff sich auf die Seite legte. Takelwerk, Wanten, Segel und Männer stürzten in das Blutmeer.

Koraf bekam Maquesta zu fassen und riß sie vom fallenden Mast weg. Caramon fing Raistlin in seinen Armen auf, ließ sich auf den Boden fallen und bedeckte den zerbrechlichen Körper seines Bruders mit seinem eigenen, als das Gewirr von Seilen und gesplittertem Holz auf sie niederstürzte. Matrosen überschlugen sich auf dem Deck oder knallten gegen das Schott. Die Gefährten klammerten sich verzweifelt an Seile oder was auch immer sie greifen konnten. Die Segel flatterten beängstigend wie die Flügel toter Vögel, das Takelwerk löste sich, das Schiff quälte sich hilflos in den Wellen.

Aber der erfahrene Steuermann, zwar fast wahnsinnig vor Panik, war immer noch ein Matrose. Instinktiv hielt er das Steuer fest. Langsam führte er das Schiff in den Wind zurück. Langsam kam die Perechon wieder in die richtige Lage. Segel, die schlaff und leblos herunterhingen, wurden vom Wind erfaßt und blähten sich wieder auf. Die Perechon nahm wieder Kurs auf. Erst als ein grauer Schleier des vom Wind getragenen Nebels das Schiff einschloß, wurde allen an Bord klar, daß ein Versinken im Meer einen schnelleren und einfacheren Tod bedeutet hätte.

»Er ist verrückt! Er lenkt uns direkt in den Sturm«, sagte Maquesta mit gebrochener, kaum hörbarer Stimme, während sie sich auf die Füße zog. Koraf wollte auf Berem zugehen, sein Gesicht verzerrte sich zu einem Knurren, in seiner Hand hielt er einen Enterhaken.

»Nein! Koraf!« keuchte Maquesta und hielt ihn zurück. »Vielleicht hat Berem recht! Das könnte unsere einzige Chance sein! Die Drachen werden nicht wagen, uns in den Sturm zu folgen. Berem hat uns hierhergebracht, er ist der einzige Steuermann, der uns hier überhaupt wieder herausholen kann! Wenn wir nur am Rand bleiben können…«

Ein gezackter Blitz riß durch den grauen Vorhang. Der Nebel teilte sich und enthüllte ein grauenhaftes Bild. Schwarze Wolken wirbelten im tosenden Wind, grüne Blitze krachten, die die Luft mit dem beißenden Geruch von Schwefel erfüllten. Das rote Wasser hob und senkte sich. Weiße Schaumkronen sprudelten auf der Oberfläche wie der Schaum auf dem Mund eines sterbenden Menschen. Einen Augenblick lang konnte sich niemand bewegen. Sie konnten einfach nur starren und sich klein und nichtig fühlen unter den furchteinflößenden Naturgewalten. Dann schlug der Wind auf sie ein. Das Schiff wurde hin und her geworfen und auf die Seite gedrückt. Plötzlicher Regen peitschte herab, Hagel prasselte auf das Holzdeck, der graue Vorhang schloß sich wieder um sie.

Unter Maquestas Befehlen krochen einige Männer nach oben, um die übriggebliebenen Segel zu reffen. Eine andere Gruppe versuchte verzweifelt, den zerbrochenen Mast, der wild umherschwang, wegzuschaffen. Die Matrosen gingen mit Äxten auf ihn los, schlugen die Taue ab und ließen den Mast in das blutrote Wasser fallen. Das Schiff, nun vom Gewicht des Mastes befreit, kam wieder in die richtige Lage. Obwohl immer noch vom Wind hin und her gerissen und mit nur einem Teil der Segel, schien die Perechon auch ohne Hauptmast aus dem Sturm zu kommen.

Die unmittelbare Gefahr hatte sie fast die Drachen vergessen lassen. Da es nun schien, daß sie wohl doch etwas länger leben würden, starrten die Gefährten wieder durch den stürmischen bleigrauen Regen.

»Glaubt ihr, daß wir ihnen entkommen sind?« fragte Caramon. Der Krieger blutete aus einer tiefen Wunde am Kopf. In seinen Augen konnte man den Schmerz erkennen. Aber seine ganze Sorge galt seinem Bruder. Raistlin schwankte an seiner Seite, unverletzt, aber er hustete so stark, daß er kaum stehen konnte. Tanis schüttelte grimmig den Kopf. Er blickte sich schnell um und gab der Gruppe Zeichen, näher zu kommen. Einer nach dem anderen stolperte durch den Regen, sich an die Taue klammernd, bis sie sich um den Halb-Elfen versammelt hatten. Alle starrten zurück auf das tosende Meer.

Zuerst sahen sie nichts; man konnte durch den Regen und das aufgewühlte Meer kaum das Schiffsheck erkennen. Einige Matrosen fingen sogar an zu jubeln, da sie meinten, den Drachen entkommen zu sein.

Aber Tanis, dessen Augen nach Westen starrten, wußte, daß nur der Tod die Drachenfürstin in ihrer Verfolgung aufhalten konnte. Das Jubelgeschrei der Matrosen schlug auch bald in Entsetzensschreie um, als der Kopf eines blauen Drachen plötzlich durch die grauen Wolken stieß, seine feurigen Augen glühten rot vor Haß, sein mit Fangzähnen versehenes Maul war weit geöffnet.

Der Drache kam immer näher, seine großen Flügel bewegten sich selbst bei den Windböen und Regen und Hagel gleichmäßig. Ein Drachenfürst thronte auf seinem Rücken. Die Fürstin trug keine Waffe, erkannte Tanis mit Bitterkeit. Sie brauchte auch keine. Sie würde Berem nehmen, dann würde ihr Drache den Rest erledigen, die anderen töten. Tanis senkte seinen Kopf, ihm war übel angesichts des Wissens, was passieren würde, ihm war übel angesichts des Wissens, daß er dafür verantwortlich war.

Dann sah er hoch. Es gibt eine Chance, dachte er hektisch. Vielleicht würde sie Berem nicht erkennen… und sie würde nicht wagen, sie zu vernichten, aus Furcht, ihn zu verletzen. Als Tanis sich zu dem Steuermann drehte, starb seine verzweifelte Hoffnung. Es schien, als ob sich die Götter gegen sie verschworen hätten. Der Wind hatte Berems Hemd aufgerissen. Selbst durch den grauen Regenvorhang konnte Tanis den Grünen Juwel in der Brust des Mannes erkennen, der heller glänzte als die grünen Blitze, wie ein fürchterliches Signalfeuer, das durch den Sturm leuchtete. Berem bemerkte es nicht. Er sah nicht einmal den Drachen. Seine Augen waren starr auf den Sturm gerichtet, während er das Schiff immer tiefer in das Blutmeer von Istar lenkte.

Nur zwei Menschen sahen den glitzernden Juwel. Alle anderen wurden von der Drachenangst in Bann gehalten, waren unfähig, den Blick von der riesigen blauen Kreatur, die über ihnen schwebte, abzuwenden. Tanis sah den Edelstein, so wie er ihn vor Monaten gesehen hatte. Und die Drachenfürstin sah ihn. Die Augen hinter der Metallmaske waren auf den funkelnden Juwel gerichtet, dann trafen die Augen der Fürstin Tanis’ Augen. Ein plötzlicher Windstoß erfaßte den blauen Drachen. Er schwankte leicht, aber der Blick der Fürstin blieb standhaft. Tanis sah die entsetzliche Zukunft in diesen braunen Augen. Der Drache würde herabsausen und Berem in seinen Klauen hochreißen. Die Fürstin würde einen langen, quälenden Moment über ihren Sieg jubeln, dann dem Drachen befehlen, sie alle zu vernichten…

Tanis sah dies in ihren Augen genauso deutlich, wie er einige Tage zuvor die Leidenschaft in ihnen gesehen hatte. Die Drachenfürstin wandte ihre Augen nicht von ihm ab, als sie eine behandschuhte Hand erhob. Es konnte ein Signal für den Drachen bedeuten, hinabzutauchen; es konnte ein Lebewohl für Tanis sein. Er sollte es nie erfahren, denn in diesem Moment übertönte eine brüchige Stimme mit unglaublicher Macht das Tosen des Sturms.

»Kitiara!« schrie Raistlin.

Der Magier schob Caramon beiseite und lief auf den Drachen zu. Er glitt auf dem nassen Deck aus, seine rote Robe schlug über ihn in dem immer stärker werdenden Wind. Eine Böe riß seine Kapuze vom Kopf. Regen glitzerte auf seiner metallfarbenen Haut, seine Stundenglasaugen strahlten golden durch die zunehmende Dunkelheit des Sturms.

Die Drachenfürstin packte ihr Reittier an seiner stacheligen Mähne und zog den Drachen so abrupt nach oben, daß Skie vor Protest aufbrüllte. Sie versteifte sich vor Entsetzen, ihre braunen Augen waren hinter ihrem Drachenhelm weit aufgerissen, als sie auf ihren zerbrechlichen Halbbruder starrte, den sie großgezogen hatte. Ihr Blick wanderte zu Caramon, der sich zu seinem Zwillingsbruder gestellt hatte.

»Kitiara?« wisperte Caramon, er erbleichte vor Abscheu, während er den Drachen beobachtete, der über ihnen schwebte. Die Fürstin wandte ihren Kopf noch einmal Tanis zu, dann gingen ihre Augen zu Berem. Tanis hielt den Atem an. Er sah den Aufruhr in ihrer Seele, sah ihn sich in ihren Augen widerspiegeln. Um Berem zu bekommen, mußte sie den kleinen Bruder töten, der alles über die Fechtkunst von ihr gelernt hatte. Sie würde seinen zerbrechlichen Zwillingsbruder töten müssen. Sie würde den Mann töten müssen, den sie – einst – geliebt hatte. Dann sah Tanis ihre Augen kalt werden, und er schüttelte vor Verzweiflung den Kopf. Es spielte keine Rolle. Sie würde ihre Brüder töten, sie würde ihn töten. Tanis erinnerte sich an ihre Worte: »Wenn wir Berem erwischen, liegt ganz Krynn uns zu Füßen. Die Dunkle Königin wird uns so reich belohnen, wie wir es uns nie erträumt haben.«

Kitiara zeigte auf Berem und lockerte ihren Griff. Mit einem grausamen Kreischen bereitete sich Skie auf den Sturzflug vor. Aber Kitiaras Zögern erwies sich als verhängnisvoll. Berem, der sie unentwegt ignorierte, hatte das Schiff tiefer in das Zentrum des Sturms gelenkt. Der Wind heulte und riß am Takelwerk. Wellen stürzten über den Bug. Der Regen peitschte herab wie Messer, und Hagelkörner häuften sich auf dem Deck und überzogen es mit einer Eisschicht. Plötzlich war der Drache in Schwierigkeiten. Er wurde von einer Windböe getroffen, dann wieder. Skies Flügel schlugen wild, als eine Böe nach der anderen auf ihn eintrommelte. Der Hagel trommelte auf seinen Kopf und drohte sich durch die ledernen Flügel zu reißen. Einzig der eiserne Wille seiner Herrin hielt Skie davon ab, diesem gefährlichen Sturm zu entfliehen und in die Sicherheit zu fliegen. Tanis sah, wie Kitiara wütend auf Berem zeigte. Er sah, wie Skie einen kühnen Versuch unternahm, sich dem Steuermann zu nähern.

Dann traf eine Windböe das Schiff. Eine Welle brandete über sie. Weißschäumendes Wasser stürzte auf sie nieder, drückte die Männer zu Boden, schleuderte sie über das Deck. Das Schiff bekam Schlagseite. Alle hielten sich an dem fest, was sie fassen konnten – Taue, Netze, alles, um nicht über Bord gespült zu werden.

Berem kämpfte mit dem Steuer, das wie lebendig in seinen Händen hüpfte. Segelstangen zerbrachen, Männer verschwanden angstvoll schreiend im Blutmeer. Dann richtete sich das Schiff langsam wieder auf, sein Holz ächzte. Tanis sah schnell hoch. Der Drache – und Kitiara – war verschwunden.

Maquesta, von der Drachenangst befreit, sprang tatkräftig auf, entschlossen, ihr untergehendes Schiff zu retten. Ihre Befehle schreiend, stürzte sie nach vorn und stolperte in Tika.

»Geht nach unten, ihr Landratten!« schrie Maquesta Tanis wütend zu. »Nimm deine Freunde und geh nach unten! Ihr steht uns im Weg! Geht in meine Kabine.«

Betäubt und abgestumpft konnte Tanis nur nicken. Instinktiv, als wäre er in einem Traum, führte er die anderen nach unten. Der gehetzte Blick in Caramons Augen bohrte sich in sein Herz, als der Krieger mit seinem Bruder im Arm an ihm vorbeistolperte. Raistlins goldene Augen überfluteten ihn wie eine Flamme, die seine Seele verbrannte. Dann waren sie an ihm vorbei, taumelten in die kleine Kabine, die bebte und zitterte, und in der sie herumwirbelten wie Stoffpuppen.

Tanis wartete, bis alle in der winzigen Kabine waren, dann ließ er sich gegen die Holztür fallen, unfähig, sich umzudrehen, unfähig, sie anzusehen. Er hatte den gehetzten Blick in Caramons Augen gesehen, als der Mann an ihm vorbeigetaumelt war, er hatte das frohlockende Aufblitzen in Raistlins Augen gesehen. Er hörte Goldmond leise weinen und wünschte, er könnte auf der Stelle sterben.

Aber es sollte nicht so sein. Langsam drehte er sich um. Flußwind stand neben Goldmond, sein Gesicht war düster und grüblerisch. Tika kaute auf ihren Lippen, Tränen flossen über ihre Wangen. Tanis blieb an der Tür stehen und starrte stumm auf seine Freunde. Lange Zeit sagte niemand ein Wort. Nur der Sturm war zu hören und die Wellen, die auf das Deck brachen. Wasser tröpfelte auf sie herab. Sie waren durchnäßt und froren und zitterten vor Angst und vor Jammer und Bestürzung.

»Es… es tut mir leid«, begann Tanis und leckte über seine salzigen Lippen. Seine Kehle schmerzte, er konnte kaum sprechen. »Ich… ich wollte es euch sagen…«

»Das also hast du in diesen vier Tagen gemacht«, sagte Caramon mit sanfter, leiser Stimme. »Mit unserer Schwester warst du zusammen. Unserer Schwester, der Drachenfürstin!«

Tanis ließ den Kopf hängen. Eine neue Welle ließ ihn in Maquestas Schreibtisch taumeln, der am Boden festgeschraubt war. Er fing sich wieder und schob sich langsam wieder zurück. Der Halb-Elf hatte in seinem Leben viele Schmerzen erlitten – den Schmerz des Vorurteils, den Schmerz des Verlustes, den Schmerz von Messern, Pfeilen, Schwertern. Aber diesen Schmerz glaubte er nicht ertragen zu können. Der Vorwurf des Verrats in ihren Augen führte direkt in seine Seele.

»Bitte, ihr müßt mir glauben…« Was für einen Unsinn sage ich da, dachte er wütend. Warum sollten sie mir glauben! Ich habe nichts anderes getan als sie angelogen, seitdem ich zurückgekehrt bin. »Nun gut«, fing er noch einmal an, »ich weiß, ihr habt keinen Grund, mir zu glauben, aber hört mir zumindest zu! Ich bin durch Treibgut gelaufen, als mich eine Elfe angriff. Sie hat mich in diesem Aufzug gesehen«, Tanis zeigte auf seine Drachenrüstung, »und dachte, ich wäre ein Drachenoffizier. Kitiara hat mir das Leben gerettet, dann erkannte sie mich. Sie dachte, ich wäre in die Drachenarmee eingetreten! Was sollte ich sagen? Sie…«, Tanis schluckte und wischte sich über sein Gesicht, »sie nahm mich mit in ihre Herberge und… und…« Er würgte, konnte nicht weitersprechen.

»Und du hast vier Tage und Nächte in liebevoller Umarmung mit einer Drachenfürstin verbracht!« sagte Caramon, seine Stimme wurde vor Wut lauter. Er taumelte auf die Füße und zeigte anschuldigend auf Tanis. »Dann hast du nach vier Tagen ein wenig Ruhe gebraucht! Du hast dich also an uns erinnert und bist zurückgekommen, um sicherzugehen, daß wir immer noch auf dich warten! Und das haben wir! Wie eine Herde gutgläubiger Lämmer…«

»Na gut, ich war mit Kitiara zusammen!« schrie Tanis plötzlich wütend. »Ja, ich habe sie geliebt! Ich erwarte nicht, daß einer von euch das versteht! Aber ich habe euch niemals verraten! Das schwöre ich bei den Göttern! Als sie nach Solamnia aufbrach, war das die erste Gelegenheit zu entkommen, und die habe ich genutzt. Ein Drakonier ist mir gefolgt, offensichtlich auf Kits Befehl hin. Ich bin vielleicht ein Narr. Aber ich bin kein Verräter!«

»Pah!« Raistlin spuckte aus.

»Hör mir zu, Magier!« knurrte Tanis. »Wenn ich euch verraten hätte, warum war sie so entsetzt, euch zu sehen – ihre Brüder! Wenn ich euch verraten hätte, warum habe ich dann nicht einfach ein paar Drakonier zum Gasthaus geschickt, um euch zu holen? Das hätte ich jederzeit tun können. Ich hätte sie auch zu Berem schicken können. Er ist es nämlich, den sie will. Er ist derjenige, den die Drakonier in Treibgut suchten! Ich wußte, daß er auf diesem Schiff war. Kitiara bot mir die Herrschaft über Krynn an, wenn ich es ihr sagen würde. So wichtig ist er für sie. Ich hätte Kit nur zu ihm zu führen brauchen, und die Königin der Finsternis hätte mich fürstlich belohnt!«

»Erzähl mir nicht, daß du das nicht in Erwägung gezogen hast!« zischte Raistlin.

Tanis öffnete den Mund, schwieg dann aber. Er wußte, daß seine Schuld in seinem Gesicht genauso sichtbar war wie der Bart, den kein Elf haben konnte. Er würgte, dann legte er eine Hand über die Augen, um ihre Gesichter nicht zu sehen. »Ich… ich habe sie geliebt«, sagte er mit gebrochener Stimme. »All die Jahre. Ich habe mich geweigert, zu sehen, was sie war. Und selbst als ich es erkannte, konnte ich nicht anders. Du liebst«, seine Augen richteten sich auf Flußwind, »und du«, er wandte sich an Caramon. Das Schiff schlenkerte wieder. Tanis hielt sich am Schreibtisch fest, als das Deck unter seinen Füßen zu kippen schien. »Was hättet ihr getan? Fünf Jahre lang war sie in meinen Träumen!« Er hielt inne. Sie waren still. Caramons Gesicht war ungewöhnlich nachdenklich. Flußwinds Augen waren auf Goldmond gerichtet.

»Als sie gegangen war«, fuhr Tanis fort, seine Stimme klang weich und schmerzerfüllt, »lag ich in ihrem Bett und haßte mich selbst. Ihr haßt mich vielleicht jetzt, aber ihr könnt mich nicht so hassen, wie ich mich verabscheut und gehaßt habe! Ich dachte an Laurana und…«

Tanis schwieg und hob seinen Kopf. Noch beim Sprechen war ihm die veränderte Bewegung des Schiffes aufgefallen. Die anderen blickten sich auch um. Man mußte kein erfahrener Seemann sein, um zu bemerken, daß sie nicht länger wild herumschlingerten. Jetzt bewegten sie sich in einer weichen, nach vorn gerichteten Bewegung, einer irgendwie unheilvollen Bewegung, weil sie so unnatürlich war. Bevor sich jemand fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, zersplitterte ein Klopfen fast die Kabinentür.

»Maquesta sagt, ihr sollt hochkommen!« schrie Koraf heiser. Tanis warf seinen Freunden schnell einen Blick zu. Flußwinds Gesicht war düster; seine Augen trafen die des Halb-Elfen und hielten stand, aber in ihnen war kein Licht mehr. Der Barbar hatte lange Zeit allen mißtraut, die nicht menschlich waren. Erst nach Wochen gemeinsam erlebter Gefahren hatte er allmählich gelernt, Tanis wie einen Bruder zu lieben und ihm zu vertrauen. War das jetzt alles zerstört? Tanis hielt seinem Blick stand. Flußwind senkte seinen Blick, und ohne ein Wort zu sagen, wollte er an Tanis vorbeigehen, hielt dann aber inne.

»Du hast recht, mein Freund«, sagte er und sah zu Goldmond, die sich erhob. »Ich habe geliebt.« Dann wandte er sich abrupt um und ging aufs Deck.

Goldmond blickte Tanis stumm an, als sie ihrem Gatten folgte, und in ihrem Blick sah er Mitgefühl und Verständnis. Caramon zögerte, dann ging er an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen oder etwas zu sagen. Raistlin folgte schweigend, aber seine goldenen Augen blieben auf Tanis haften. Lag in diesen goldenen Augen ein Funken Schadenfreude? War Raistlin, von den anderen seit langem beargwöhnt, glücklich, zu guter Letzt Gesellschaft bekommen zu haben? Der Halb-Elf hatte keine Vorstellung, was der Magier dachte. Dann ging Tika an ihm vorbei und streichelte ihn am Arm. Sie wußte, was es hieß zu lieben…

Tanis stand einen Moment lang allein in der Kabine, verloren in seiner eigenen Dunkelheit. Dann folgte er seufzend seinen Freunden.

Sobald er auf Deck war, wurde Tanis klar, was geschehen war. Die anderen starrten über die Reling, die Gesichter bleich und angespannt. Maquesta schritt auf dem Vorderdeck auf und ab, schüttelte den Kopf und fluchte in ihrer Sprache. Als sie Tanis kommen hörte, sah sie auf, in ihren schwarzen Augen funkelte der Haß.

»Du hast uns vernichtet«, sagte sie giftig. »Du und dieser gottverfluchte Steuermann!«

Maquestas Worte schienen überflüssig, eine reine Wiederholung von Worten, die bereits in seinen eigenen Gedanken waren. Tanis fragte sich, ob sie überhaupt gesprochen hatte oder ob er sich selbst gehört hatte.

»Wir sind im Mahlstrom gefangen.«

Загрузка...