1 Flucht aus der Dunkelheit in die Dunkelheit

Der Offizier der Drachenarmee stieg langsam die Stufen von der zweiten Etage des Wirtshauses Zur salzigen Brise hinunter. Es war nach Mitternacht. Die meisten Gäste lagen schon längst in ihren Betten. Das einzige Geräusch, das der Offizier hört, war das Schlagen der Wellen gegen die Felsen. Der Offizier hielt einen Moment auf der Treppe inne und warf einen Blick in den Schankraum, der sich unter ihm erstreckte. Nur ein Drakonier lag auf einem Tisch und schnarchte laut. Die Flügel des Drachenmannes bebten bei jedem Schnarcher. Der Holztisch unter ihm knarrte und schwankte. Der Offizier lächelte bitter, dann ging er weiter. Er war in die stählerne Drachenschuppenrüstung gekleidet, eine Kopie der echten Drachenschuppenrüstung des Drachenfürsten. Der Helm bedeckte seinen Kopf und sein Gesicht, so daß seine Gesichtszüge kaum erkennbar waren. Nur sein rotbrauner Bart kam unter dem Helm hervor und ließ unter rassischen Gesichtspunkten sein Menschsein erkennen. Auf der letzten Stufe kam der Offizier plötzlich zum Halten, offensichtlich verblüfft über den Anblick des Wirts, der noch wach war und über seinen Büchern gähnte. Mit einem leichten Nicken wollte der Offizier das Wirtshaus ohne ein weiteres Wort verlassen, wurde jedoch vom Wirt mit einer Frage aufgehalten.

»Erwartet Ihr heute nacht die Drachenfürstin zurück?«

Der Offizier blieb stehen und drehte sich halb um. Er holte ein Paar Handschuhe hervor und zog sie über. Draußen war es eisig kalt. Die Hafenstadt Treibgut war in der Gewalt eines Wintersturms, so wie man ihn seit dreihundert Jahren an den Küsten der Blut-Bucht nicht mehr erlebt hatte.

»Bei diesem Wetter?« knurrte der Offizier. »Höchst unwahrscheinlich! Nicht einmal Drachen sind schneller als dieser Sturmwind!«

»Das ist wahr. Weder für Mensch noch für Tier ist es eine angenehme Nacht«, stimmte der Wirt zu. Er beäugte den Drachenoffizier scharf. »Welche Geschäfte treiben dann Euch bei diesem Sturm nach draußen?«

Der Offizier musterte den Wirt kühl. »Ich glaube nicht, daß das deine Angelegenheit ist, wohin ich gehe oder was ich tue.«

»Nichts für ungut!« beschwichtigte der Wirt eilig und hob seine Hände, als ob er einen Schlag abwehren wollte. »Es ist ja nur, falls die Drachenfürstin zurückkehrt und Euch vermissen sollte, könnte ich ihr sagen, wo sie Euch finden kann.«

»Das wird nicht notwendig sein«, brummte der Offizier.

»Ich… ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen, die meine Abwesenheit erklärt. Außerdem werde ich bald zurück sein. Ich will nur an die frische Luft. Das ist alles.«

»Das kann ich mir vorstellen!« Der Wirt kicherte. »Ihr habt ihr Zimmer drei Tage lang nicht verlassen! Oder sollte ich drei Nächte sagen? Nun – werdet nicht wütend«, wandte er ein, als er den Offizier unter seinem Helm vor Zorn erröten sah. »Ich bewundere den Mann, der sie so lange zufriedenstellen kann! Wohin mußte sie denn verreisen?«

»Die Fürstin mußte in den Osten, irgendwo in der Nähe von Solamnia, um ein Problem zu lösen«, erwiderte der Offizier knurrend. »An deiner Stelle würde ich nicht weiterfragen.«

»Nein, nein«, antwortete der Wirt hastig. »Gewiß nicht. Nun, ich wünsche Euch einen schönen Abend – wie war Euer Name? Sie hat uns zwar miteinander bekannt gemacht, aber ich habe ihn leider vergessen.«

»Tanis«, antwortete der Offizier mit gedämpfter Stimme.

»Tanis, der Halb-Elf. Und ich wünsche dir auch einen schönen Abend.«

Der Offizier nickte dem Wirt noch einmal kühl zu und zog noch einmal an seinen Handschuhen. Dann öffnete er die Tür und trat in den Sturm hinaus. Der eisige Wind fegte in den Raum, blies die Kerzen aus und wirbelte die Papiere des Wirts umher. Einen Moment lang kämpfte der Offizier mit der schweren Tür, während der Wirt fluchte und nach seinen umherwirbelnden Rechnungen griff. Schließlich gelang es dem Offizier, die Tür hinter sich zuzuschlagen.

Der Wirt starrte dem Offizier nach und sah ihn am vorderen Fenster vorbeigehen, den Kopf gegen den Sturm gebeugt, der Umhang bauschte sich hinter ihm auf.

Noch eine andere Gestalt beobachtete den Offizier. Als die Tür zugeschlagen wurde, hatte der Drakonier seinen Kopf gehoben, seine schwarzen Reptilienaugen funkelten. Er erhob sich verstohlen vom Tisch, seine Schritte waren schnell und sicher. Er schlich zum Fenster und spähte hinaus. Der Drakonier wartete einen Augenblick, dann riß er die Tür auf und verschwand in den Sturm.

Durch das Fenster sah der Wirt, daß der Drakonier die gleiche Richtung wie der Offizier einschlug. Man konnte bei dem Wetter nicht viel erkennen, aber der Wirt glaubte zu sehen, daß der Offizier in eine Straße eingebogen war, die zur Stadtmitte führte. Sich in den Schatten haltend, schlich der Drakonier hinterher. Der Wirt schüttelte den Kopf und weckte den Nachtdiener.

»Ich habe das Gefühl, daß die Fürstin heute nacht kommt, ob Unwetter oder nicht«, sagte der Wirt dem verschlafenen Mann.

»Weck mich, wenn sie kommt.«

Als er noch einmal in die Nacht starrte, erschauerte er, sah vor seinem geistigen Auge den Offizier durch die leeren Straßen von Treibgut laufen, von der schattenhaften Gestalt des Drakoniers gefolgt.

»Ich habe es mir anders überlegt«, murmelte der Wirt, »laß mich schlafen.«

Der Sturm brachte in dieser Nacht alles in Treibgut zum Erliegen. Die Tavernen, die normalerweise bis zum Morgengrauen geöffnet hatten, waren verriegelt und verschlossen, die Straßen waren verlassen. Niemand wagte sich nach draußen in den Wind, der einen Mann umwerfen konnte und selbst die wärmste Kleidung durchdrang.

Tanis ging schnell, mit gesenktem Kopf, und hielt sich in der Häusernähe. Sein Bart war bald von Eis umrahmt. Graupel stach in sein Gesicht. Der Halb-Elf schüttelte sich vor Kälte und verfluchte das kalte Metall der Drachenrüstung an seinem Körper. Gelegentlich blickte er sich um. Vielleicht hatte doch jemand ein besonderes Interesse an seinem Verlassen des Gasthauses gehabt. Aber er konnte so gut wie nichts erkennen. Graupel und Regen umwirbelten ihn, so daß er kaum die hohen Gebäude sehen konnte, die schemenhaft in der Dunkelheit aufragten. Nach einer Weile beschloß er, sich lieber auf seinen Weg durch die Stadt zu konzentrieren. Bald war er starr vor Kälte, und es wurde ihm gleichgültig, ob ihm jemand folgte oder nicht.

Er war noch nicht lange in Treibgut – genauer gesagt vier Tage. Und die meiste Zeit davon hatte er mit ihr verbracht. Tanis verdrängte diesen Gedanken, als er durch den Regen auf die Straßenschilder starrte. Er wußte nur vage, wohin er ging. Seine Freunde waren in einem Gasthaus am Rande der Stadt. Einen Moment lang fragte er sich verzweifelt, was er tun sollte, falls er sich verlaufen würde. Er konnte es nicht wagen, sich nach ihnen zu erkundigen…

Und dann fand er das Gasthaus. Er stolperte durch die verlassenen Straßen, glitt auf Eis aus und schluchzte fast vor Erleichterung, als er das Schild wild im Wind schaukeln sah. Er hatte sich nicht einmal an den Namen erinnern können, aber jetzt fiel er ihm wieder ein – Zum Wellenbrecher.

Dummer Name für ein Gasthaus, dachte er, während er, vor Kälte schlotternd, kaum den Türgriff fassen konnte. Als er die Tür öffnete, wurde er mit der Wucht des Windes hineingeblasen, und nur mit Mühe konnte er sie wieder hinter sich zudrücken.

Es gab keinen Nachtwächter – nicht in diesem schäbigen Gasthaus. Im Schein eines Kaminfeuers sah Tanis einen Kerzenstummel auf der Theke liegen. Seine Hände zitterten so sehr, daß er den Feuerstein kaum halten konnte. Er zwang seine steifgefrorenen Finger zu gehorchen, zündete die Kerze an und stieg die Treppe hoch.

Wenn er sich umgedreht und aus dem Fenster geschaut hätte, hätte er eine Gestalt im Türeingang auf der anderen Straßenseite erkennen können. Aber Tanis sah nicht aus dem Fenster, seine Augen waren auf die Stufen gerichtet.

»Caramon!«

Der kräftige Krieger saß sofort kerzengerade, seine Hand griff unwillkürlich nach seinem Schwert, noch bevor er sich umdrehte und seinen Bruder fragend ansah.

»Ich habe draußen ein Geräusch gehört«, flüsterte Raistlin.

»So wie wenn eine Schwertscheide gegen eine Rüstung schlägt.«

Caramon schüttelte den Kopf, um die Schläfrigkeit zu vertreiben, und kletterte mit dem Schwert in der Hand von seinem Lager. Er schlich zur Tür, bis auch er das Geräusch wahrnahm, das seinen Bruder aus seinem leichten Schlaf geweckt hatte. Ein Mann in Rüstung bewegte sich verstohlen im Korridor vor ihren Räumen. Dann konnte Caramon das schwache Licht einer Kerze durch einen Türspalt sehen. Das Geräusch der klappernden Rüstung hörte direkt vor ihrem Zimmer auf.

Caramon machte Raistlin ein Zeichen. Raistlin nickte und verschmolz mit den Schatten. Seine Augen wirkten abwesend. Er rief sich einen Zauberspruch ins Gedächtnis.

Das Kerzenlicht unter der Tür flackerte. Der Mann mußte die Kerze in die andere Hand genommen haben, um seinen Schwertarm frei zu haben. Caramon schob langsam und geräuschlos den Türriegel zurück. Der Mann zögerte, vielleicht war er sich nicht sicher. Er wird es schon noch schnell genug herausfinden, dachte Caramon.

Caramon riß plötzlich die Tür auf. Er sprang vor, packte die dunkle Gestalt und zerrte sie ins Zimmer. Mit seiner ganzen Kraft schlug der Krieger den Mann zu Boden. Die Kerze fiel runter, ihre Flamme erstickte im geschmolzenen Wachs. Raistlin begann einen Zauberspruch zu singen, der ihr Opfer in einer klebrigen, spinnenähnlichen Substanz festhalten würde.

»Halt! Raistlin, hör auf!« schrie der Mann. Caramon, der die Stimme erkannte, ergriff seinen Bruder und schüttelte ihn, um seine Trance zu unterbrechen.

»Raist! Es ist Tanis!«

Zitternd kam Raistlin aus seiner Trance. Dann begann er zu husten und griff sich an die Brust.

Caramon warf seinem Zwillingsbruder einen besorgten Blick zu, aber Raistlin wehrte ihn mit einer Handbewegung ab. Caramon drehte sich um und half dem Halb-Elfen auf die Füße.

»Tanis!« schrie er und zerquetschte den Halb-Elfen fast in seiner freudigen Umarmung. »Wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Bei allen Göttern, du frierst ja! Ich werde das Feuer schüren. Raist«, Caramon wandte sich an seinen Bruder, »ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«

»Mach dir um mich keine Sorgen!« flüsterte Raistlin. Der Magier sank, nach Atem ringend, auf sein Lager zurück. Seine Augen glitzerten golden im flackernden Feuer, als er den Halb-Elfen musterte, der sich dankbar neben dem Kamin niederkauerte. »Du solltest lieber die anderen holen.«

»Du hast recht.« Caramon steuerte auf die Tür zu.

»Zuerst würde ich mir etwas anziehen«, bemerkte Raistlin sarkastisch.

Caramon errötete und eilte zu seinem Bett zurück. Nachdem er eine Lederhose und ein Hemd angezogen hatte, ging er in den Korridor und schloß leise die Tür hinter sich. Tanis und Raistlin konnten hören, wie er an die Tür der Barbaren klopfte. Sie konnten Flußwinds ernste Frage und Caramons eilige, aufgeregte Erklärung hören. Tanis sah kurz zu Raistlin – die seltsamen Stundenglasaugen des Magiers waren mit einem durchdringenden Blick auf ihn gerichtet – und drehte sich dann verlegen dem Feuer zu.

»Wo bist du gewesen, Halb-Elf?« fragte Raistlin mit seiner sanften, flüsternden Stimme.

Tanis schluckte nervös. »Ich wurde von einem Drachenfürsten gefangengenommen.« Er hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt, die er nun aufsagte. »Der Fürst dachte natürlich, ich wäre einer seiner Offiziere, und bat mich, ihn zu seiner Truppe zu begleiten, die außerhalb der Stadt stationiert ist. Natürlich mußte ich dem Befehl nachkommen, sonst wäre er argwöhnisch geworden. Erst heute nacht konnte ich verschwinden.«

»Interessant.« Raistlin hustete beim Sprechen.

Tanis sah schnell zu ihm hoch. »Was ist interessant?«

»Ich habe dich noch nie lügen hören, Halb-Elf«, antwortete Raistlin sanft. »Ich finde es… recht… faszinierend.«

Tanis öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Caramon mit Flußwind, Goldmond und Tika zurück. Goldmond eilte auf Tanis zu und umarmte ihn. »Mein Freund!« sagte sie, ihr versagte die Stimme und sie drückte ihn fest an sich. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht…«

Flußwind umklammerte Tanis’ Hand, sein sonst so ernstes Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. Sanft schob er seine Frau aus der Umarmung mit Tanis, aber nur, um ihren Platz einzunehmen.

»Mein Bruder!« sagte Flußwind im Que-Shu-Dialekt der Barbaren und umarmte den Halb-Elfen. »Wir haben befürchtet, man hätte dich gefangengenommen! Getötet! Wir wußten nicht…«

»Was ist geschehen? Wo warst du?« fragte Tika neugierig und trat heran, um Tanis zu umarmen.

Tanis warf Raistlin einen Blick zu, aber der hatte sich wieder zurückgelegt, seine seltsamen Augen waren zur Decke gerichtet, an der Unterhaltung war er offenbar nicht interessiert. Er räusperte sich, war sich bewußt, daß Raistlin zuhörte, und wiederholte seine Geschichte. Die anderen unterbrachen ihn gelegentlich mit interessierten und mitfühlenden Ausrufen und Fragen. Wer war dieser Fürst? Wie groß war seine Armee? Wo war sie jetzt stationiert? Was taten die Drakonier in Treibgut? Suchten sie wirklich nach ihnen? Wie war Tanis entflohen? Tanis beantwortete all ihre Fragen ausweichend. Was den Fürsten anging, so hatte er nicht viel von ihm gesehen. Er wußte nicht, wer er war. Die Armee war nicht groß. Sie war außerhalb der Stadt stationiert. Die Drakonier suchten jemanden, aber nicht sie. Sie suchten einen Mann namens Berem oder so ähnlich. Bei dieser Antwort warf Tanis Caramon einen Blick zu, aber das Gesicht des Kriegers zeigte nicht, daß er sich an irgend etwas erinnern würde. Tanis atmete erleichtert auf. Gut, Caramon erinnerte sich also nicht an den Mann, der auf der Perechon ein Segel geflickt hatte. Entweder erinnerte er sich nicht, oder er hatte den Namen des Mannes nicht verstanden. Die anderen nickten, waren mit seiner Geschichte beschäftigt. Tanis seufzte vor Erleichterung. Und was Raistlin betraf… nun, es spielte keine große Rolle, was der Magier dachte oder sagte. Die anderen würden eher Tanis als Raistlin glauben, selbst wenn der Halb-Elf behaupten würde, daß Schwarz Weiß sei. Sicherlich war sich Raistlin dessen bewußt, und darum bezweifelte er nicht laut Tanis’ Geschichte. Tanis gähnte und stöhnte, als wäre er total erschöpft. Er wollte weiteren Fragen entgehen, die ihn tiefer in Lügen verstricken würden.

Goldmond erhob sich augenblicklich, ihr Gesicht war besorgt.

»Es tut mir leid, Tanis«, sagte sie sanft. »Wir sind egoistisch. Du frierst und bist müde, und wir halten dich mit Fragen auf. Und wir müssen morgen früh aufstehen, um an Bord zu gehen.«

»Verdammt, Goldmond! Sei keine Närrin! Bei diesem Sturm werden wir nirgendwo an Bord gehen!« fauchte Tanis. Alle starrten ihn erstaunt an, sogar Raistlin hatte sich aufgerichtet. Goldmonds Augen waren dunkel vor Schmerz, ihr Gesicht verhärtete sich und erinnerte den Halb-Elfen, daß nie jemand zu ihr in diesem Ton sprach. Flußwind stand mit beunruhigtem Gesicht neben ihr. Das Schweigen wurde peinlich. Schließlich räusperte sich Caramon. »Wenn wir morgen nicht aufbrechen können, dann versuchen wir es eben einen Tag später«, sagte er beruhigend.

»Mach dir deswegen keine Sorgen, Tanis. Die Drakonier werden bei dem Wetter nicht rausgehen. Wir sind sicher…«

»Ich weiß. Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte dich nicht so anfahren, Goldmond. Die vergangenen Tage waren nur so nervenaufreibend. Ich bin so müde, ich kann nicht mehr richtig denken. Ich gehe auf mein Zimmer.«

»Der Wirt hat es weitervermietet«, sagte Caramon, dann fügte er hastig hinzu, »aber du kannst hier schlafen, Tanis. Nimm mein Bett…«

»Nein, ich kann auf dem Boden schlafen.« Tanis wich Goldmonds Blick aus und begann, seine Drachenrüstung abzulegen, seine Augen waren auf seine zitternden Finger gerichtet.

»Schlaf gut, mein Freund«, sagte Goldmond leise.

Er hörte in ihrer Stimme die Sorge, konnte sich ihre mitfühlenden Blicke vorstellen, die sie mit Flußwind wechselte. Der Barbar legte seine Hand auf seine Schulter. Dann gingen sie. Tika wünschte murmelnd eine gute Nacht, bevor sie die Tür hinter sich schloß.

»Ich helfe dir«, bot Caramon an, der wußte, daß Tanis an Rüstungen nicht gewöhnt war und Schwierigkeiten mit den Schnallen und Gurten hatte. »Soll ich dir etwas zu essen besorgen? Etwas zu trinken? Vielleicht Glühwein?«

»Nein«, antwortete Tanis erschöpft, »ich will einfach nur schlafen.«

»Dann nimm zumindest meine Decke«, beharrte Caramon, da der Halb-Elf vor Kälte zitterte.

Tanis nahm die Decke dankbar an, obwohl er nicht sicher war, ob er wegen der Kälte zitterte oder wegen seines inneren Aufruhrs. Er legte sich hin und hüllte sich mit der Decke und seinem Mantel ein. Dann schloß er die Augen und konzentrierte sich darauf, regelmäßig zu atmen, da er wußte, daß Caramon nicht eher schlafen würde, bis er sicher war, daß Tanis entspannt ruhte. Bald hörte er Caramon ins Bett gehen und kurz darauf schnarchen. Im anderen Bett hustete Raistlin. Als er sicher war, daß die Zwillinge eingeschlafen waren, streckte Tanis sich aus und legte seine Hände unter den Kopf. Er lag wach da und starrte in die Dunkelheit.

Im Morgengrauen traf die Drachenfürstin im Wirtshaus Zur salzigen Brise ein. Der Nachtdiener bemerkte sofort die schlechte Laune der Fürstin. Sie hatte die Tür mit mehr Kraft als der Sturm aufgerissen und starrte wütend in den Schankraum, als ob seine Wärme und Behaglichkeit sie beleidigten. Tatsächlich schien sie mit dem draußen tobenden Sturm eins zu sein. Sie war es, die die Kerzen zum Flackern brachte, und nicht der heulende Wind. Sie war es, die die Dunkelheit hereinbrachte. Der Nachtdiener stolperte ängstlich auf seine Füße, aber die Augen der Fürstin waren nicht auf ihn gerichtet. Kitiara starrte den Drakonier an, der an einem Tisch saß und durch ein kaum wahrnehmbares Flackern in seinen dunklen Reptilienaugen signalisierte, daß etwas schiefgelaufen war.

Hinter der entsetzlichen Drachenmaske verengten sich die Augen der Fürstin bedrohlich, ihr Blick wurde kalt. Einen Moment lang stand sie in der Tür, ignorierte den eisigen Wind, der in das Gasthaus wehte.

»Komm nach oben«, sagte sie schließlich in ungnädigem Ton zu dem Drakonier.

Die Kreatur nickte und folgte ihr. Seine Klauenfüße klapperten über den Holzboden.

»Gibt es etwas…«, begann der Nachtdiener, zuckte dann zusammen, als die Tür mit einem lauten Knall zuschlug.

»Nein!« fauchte Kitiara. Mit der Hand am Schwert stolzierte sie an dem bebenden Mann vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und stieg die Stufen zu ihren Räumen hoch. Der Diener sank zitternd in seinen Stuhl zurück.

Kitiara hantierte mit ihrem Schlüssel und riß die Tür auf. Sie blickte sich schnell im Zimmer um.

Es war leer.

Der Drakonier wartete geduldig und schweigend hinter ihr. Wütend riß Kitiara ihre Drachenmaske vom Gesicht. Sie schleuderte sie aufs Bett und befahl, ohne sich umzusehen: »Komm herein und schließ die Tür!«

Der Drakonier gehorchte und schloß die Tür leise hinter sich. Kitiara hatte die Hände an die Hüften gelegt und starrte grimmig auf das zerwühlte Bett.

»Er ist also verschwunden.« Es war eine Feststellung und keine Frage.

»Ja, Fürstin«, zischelte der Drakonier.

»Du bist ihm gefolgt, wie ich dir befohlen habe?«

»Natürlich, Fürstin.« Der Drakonier verneigte sich.

»Wohin ist er gegangen?«

Kitiara fuhr mit einer Hand über ihr dunkles, lockiges Haar. Sie hatte sich immer noch nicht umgedreht. Der Drakonier konnte nicht ihr Gesicht sehen, und er hatte keine Vorstellung, welche Gefühle – wenn überhaupt – sie verbarg.

»Ein Gasthaus, Fürstin. Am Stadtrand. Es heißt Zum Wellenbrecher.«

»Eine andere Frau?« Die Stimme der Fürstin war angespannt.

»Ich glaube nicht, Fürstin.« Der Drakonier lächelte verstohlen. »Ich vermute, Freunde von ihm wohnen dort. Wir erhielten Berichte über Fremde in dem Gasthaus, aber da sie nicht mit der Beschreibung des Hüters des Grünen Juwels übereinstimmen, sind wir der Sache nicht nachgegangen.«

»Steht dieses Gasthaus jetzt unter Beobachtung?«

»Gewiß, Fürstin. Man wird Euch unverzüglich informieren, wenn er – oder überhaupt ein Gast – das Gebäude verläßt.«

Die Fürstin stand einen Moment schweigend da, dann drehte sie sich um. Ihr Gesicht war zwar kalt und ruhig, aber äußerst blaß. Aber es konnte eine Menge Gründe für diese Blässe geben, dachte der Drakonier. Es war ein langer Flug vom Turm des Oberklerikers bis hierher. Den Gerüchten nach hatte ihre Armee eine schwere Niederlage erlitten, die legendäre Drachenlanze und die Kugeln der Drachen waren wieder aufgetaucht. Bisher war sie erfolglos beim Auffinden des Hüters des Grünen Juwels, der so verzweifelt von der Dunklen Königin gesucht wurde und der sich in Treibgut aufhalten sollte. Die Fürstin hat viele Probleme, dachte der Drakonier amüsiert. Warum regt sie sich dann über einen Mann auf? Sie hatte genügend Liebhaber, und die meisten waren charmanter als dieser launische Halb-Elf. Bakaris, zum Beispiel…

»Du hast deine Sache gut gemacht«, unterbrach Kitiara schließlich die Gedanken des Drakoniers. Sie schnallte ihre Rüstung ohne jedes Schamgefühl ab. Sie schien sich wieder unter Kontrolle zu haben. »Du wirst dafür belohnt werden. Jetzt laß mich in Ruhe.«

Der Drakonier verbeugte sich wieder und verließ, die Augen zu Boden gerichtet, das Zimmer. Aber die Kreatur ließ sich nicht zum Narren halten. Während der Drachenmann aus dem Zimmer trat, sah er, daß der Blick der Fürstin auf einem Pergamentbogen haften blieb. Der Drakonier hatte das Pergament schon beim Eintreten bemerkt. Es war mit der zierlichen Elfen-Handschrift beschrieben. Als der Drakonier die Tür schloß, hörte er ein lautes Geräusch – die Drachenrüstung war mit voller Wucht gegen eine Wand geschleudert worden.

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