Ein Schlüssel klapperte im Schloß der Zellentür.
Tolpan setzte sich kerzengerade auf. Blasses Licht kroch durch ein winziges vergittertes Fenster, das hoch in der dicken Steinwand eingebaut war, in die Zelle. Dämmerung, dachte er verschlafen. Der Schlüssel klapperte wieder, als ob der Gefängniswärter Schwierigkeiten mit dem Schloß hätte. Tolpan warf einen besorgten Blick auf Caramon an der gegenüberliegenden Wand der Zelle. Der große Mann lag auf den Steinplatten, die sein Bett darstellten, ohne sich zu bewegen oder ein Zeichen zu geben, daß er den Lärm gehört habe.
Ein schlechtes Omen, dachte Tolpan unruhig, der wußte, daß der gut durchtrainierte Krieger – wenn er nicht betrunken war – bei dem Geräusch von Fußtritten außerhalb des Raumes sofort wach geworden wäre. Aber Caramon hatte sich weder bewegt noch gesprochen, seitdem die Wachen sie am Tag zuvor hierhergebracht hatten. Er hatte Essen und Wasser abgelehnt, lag auf den Steinplatten und starrte bis zum Anbruch der Nacht zur Decke. Dann hatte er die Augen geschlossen.
Der Schlüssel klapperte jetzt lauter als zuvor, und zu dem Lärm kam noch das Fluchen des Gefängniswärters. Eilig erhob sich Tolpan und ging über den Steinboden, zog Stroh aus seinem Haar und strich beim Laufen seine Kleider glatt. Der Kender sichtete einen arg mitgenommenen Hocker in einer Ecke, zog ihn zur Tür, stellte sich darauf und spähte durch das vergitterte Fenster in der Tür zum Gefängniswärter auf der anderen Seite.
»Guten Morgen«, sagte Tolpan fröhlich. »Hast du Probleme?«
Der Gefängniswärter sprang bei dem unerwarteten Ton drei Meter zurück und ließ fast seine Schlüssel fallen. Er war ein kleiner Mann, schrumpelig und grau wie die Wände. Als er wütend zum Gesicht des Kenders im Gitterfenster hochstarrte, knurrte er und steckte wieder den Schlüssel in das Schloß, stieß und rüttelte heftig daran. Ein Mann, der hinter dem Gefängniswärter stand, blickte finster drein. Es war ein großer, gutgebauter Mann, in feine Kleider und einen Bärenfellumhang gegen die morgendliche Kälte gehüllt. In der Hand hielt er eine kleine Schiefertafel, von der ein Stück Kreide an einem Lederriemen baumelte.
»Beeil dich«, knurrte der Mann den Gefängniswärter an. »Der Markt öffnet am Mittag, und bis dahin muß ich mich darum kümmern, daß dieser Haufen anständig aussieht.«
»Der Schlüssel muß gebrochen sein«, murmelte der Gefängniswärter.
»O nein, er ist nicht gebrochen«, sagte Tolpan hilfsbereit. »Ich bin überzeugt, daß er genau richtig passen würde, wenn ihm mein Dietrich nicht im Weg wäre.«
Der Gefängniswärter hob die Augen haßerfüllt zu dem Kender.
»Es war der merkwürdigste Zufall«, fuhr Tolpan fort. »Siehst du, letzte Nacht habe ich mich ziemlich gelangweilt – Caramon ist früh eingeschlafen —, und du hast mir alle meine Sachen weggenommen; doch als ich zufällig entdeckte, daß dir ein Dietrich in meinem Socken entgangen ist, habe ich entschieden, ihn an dieser Tür auszuprobieren, um sozusagen in Übung zu bleiben und zu sehen, was für Gefängnisse ihr hier habt. Nebenbei bemerkt, habt ihr hier ein sehr nettes Gefängnis«, erklärte Tolpan feierlich. »Eines der nettesten, in denen ich jemals – äh, eines der nettesten, die ich jemals besichtigt habe. Übrigens, mein Name ist Tolpan Barfuß.« Der Kender quetschte seine Hand durch das Gitter für den Fall, daß einer von beiden sie schütteln wollte. Sie taten es nicht. »Und ich komme aus Solace. Wie mein Freund. Wir befinden uns hier auf einer Art Mission, könnte man sagen, und – ja, das Schloß. Nun, du brauchst mich nicht so böse anzufunkeln, es war nicht meine Schuld, sondern dein dummes Schloß, das meinen Dietrich zerbrochen hat! Zudem einen meiner besten. Den von meinem Vater«, sagte der Kender traurig. »Er schenkte ihn mir an dem Tag, als ich volljährig wurde. Ich finde wirklich«, fügte er in strengem Ton hinzu, »daß du dich zumindestens entschuldigen könntest.«
Daraufhin gab der Gefängniswärter einen seltsamen Laut von sich, eine Mischung aus Schnaufen und Wutausbruch. Er schüttelte seine Schlüssel, schnappte etwas Unzusammenhängendes wie: »in der Zelle auf ewig verrotten« und wollte davongehen, aber der Mann im Bärenfellumhang hielt ihn fest.
»Nicht so schnell. Ich brauche den einen hier.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte der Gefängniswärter mit dünner Stimme, »aber ich muß auf den Schlosser warten...«
»Unmöglich. Mein Auftrag ist, ihn heute versteigern zu lassen.«
»Nun, dann mußt du schon etwas erfinden, um sie hier herauszukriegen«, höhnte der Gefängniswärter. »Gib dem Kender einen neuen Dietrich.« Er begann fortzugehen und ließ den Mann im Bärenfell an der Tür zurück.
»Du weißt, von wem ich meine Anweisungen habe«, sagte dieser in unheilvollem Ton.
»Meine Anordnungen kommen von der gleichen Stelle«, entgegnete der Gefängniswärter über seine knochige Schulter, »und wenn es ihnen nicht gefällt, können sie ja kommen und die Tür aufbeten. Wenn das nicht funktioniert, können sie auf den Schlosser warten, so wie jeder andere auch.«
»Willst du uns rauslassen?« fragte Tolpan eifrig. »Wenn ja, dann können wir vielleicht helfen...« Ein plötzlicher Gedanke kam ihm. »Du wirst uns doch nicht aufs Schafott schicken, nicht wahr? Denn in dem Fall, glaube ich, warten wir doch lieber auf den Schlosser...«
»Hinrichten?« knurrte der Mann im Bärenfell. »Seit zehn Jahren gibt es keine Hinrichtung mehr in Istar. Die Kirche verbietet das.«
»Ein schneller, sauberer Tod war zu gut für einen Mann«, gackerte der Gefängniswärter, der sich wieder umdrehte.
»Nun«, stammelte Tolpan, »wenn ihr uns nicht hinrichten wollt, was wollt ihr dann mit uns machen? Vermutlich werdet ihr uns nicht laufen lassen. Wir sind trotz allem unschuldig. Ich meine, wir haben nicht...«
»Ich werde mit dir überhaupt nichts machen«, antwortete der Mann im Bärenfell. »Deinen Freund will ich haben. Sie werden ihn nicht freilassen.«
»Schneller, sauberer Tod«, murmelte der alte Gefängniswärter und grinste. »Und auch immer eine nette Menge, die zugesehen hat. Vermittelte einem Mann das Gefühl, daß sein Tod etwas Besonderes war, so wie mir Harry Schnackel erklärte, als sie ihn zum Galgen führten. Er hoffte, daß eine große Menge kommen werde, und das traf auch ein. Brachte eine Träne in sein Auge. ›All diese Leute‹, sagte er zu mir, ›nehmen sich frei, nur um zu kommen und sich von mir zu verabschieden.‹ Ein Ehrenmann bis zum Ende.«
»Er wird zur Versteigerung angeboten!« sagte der Mann im Bärenfell, den Gefängniswärter ignorierend.
»Schnell und sauber.« Der Gefängniswärter schüttelte den Kopf.
»Nun«, sagte Tolpan zweifelnd. »Ich bin mir nicht sicher, was ihr vorhabt, aber wenn du uns wirklich rausläßt, kann Caramon vielleicht helfen.«
Der Kender verschwand vom Fenster, und sie hörten ihn schreien: »Caramon, wach auf! Sie wollen uns rauslassen, und sie können die Tür nicht öffnen, und ich befürchte, es ist meine Schuld, nun, teilweise...«
»Ist dir eigentlich klar, daß du beide nehmen mußt?« fragte der Gefängniswärter listig.
»Was?« Der Mann im Bärenfell warf dem Gefängniswärter einen finsteren Blick zu.
»Sie sollen zusammen verkauft werden. Das sind meine Anweisungen, und da deine Anweisungen und meine Anweisungen von der gleichen Stelle kommen...«
»Hast du das schriftlich?« knurrte der Mann.
»Natürlich«, gab der Gefängniswärter selbstgefällig zurück.
»Ich verliere Geld! Wer kauft schon einen Kender?«
Der Gefängniswärter zuckte mit den Schultern. Es war nicht sein Problem.
Der Mann im Bärenfell öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder, als ein anderes Gesicht im Fenster der Zellentür erschien. Dieses Mal war es nicht der Kender. Es war das Gesicht eines Menschen, eines jungen Mannes um achtundzwanzig. Das Gesicht war wohl einst gutaussehend gewesen, aber jetzt war die kräftige Kieferlinie von Fett verwischt, die braunen Augen waren glanzlos, das lockige Haar verfilzt.
»Wie geht es Crysania?« fragte Caramon.
Der Mann im Bärenfell blinzelte verwirrt.
»Crysania. Man brachte sie in den Tempel«, wiederholte Caramon.
Der Gefängniswärter stieß den Mann im Bärenfell in den Rücken. »Du weißt doch – die Frau, die er zusammengeschlagen hat.«
»Ich habe sie nicht angerührt«, sagte Caramon ruhig. »Nun, wie geht es ihr?«
»Das ist nicht deine Angelegenheit«, sagte der Mann im Bärenfell, der sich plötzlich daran erinnerte, wie spät es war. »Bist du ein Schlosser? Der Kender sagte etwas, daß du in der Lage wärst, die Tür zu öffnen.«
»Ich bin kein Schlosser«, sagte Caramon, »aber vielleicht kann ich sie öffnen.« Seine Augen gingen zum Gefängniswärter. »Wenn es dich nicht stört, daß sie dabei kaputt geht?«
»Das Schloß ist schon kaputt!« sagte der Gefängniswärter mit schriller Stimme. »Willst du die Tür aufbrechen?«
»Genau das habe ich vor«, erwiderte Caramon kühl.
Der Mann im Bärenfell hatte einen Blick auf Caramons Schultern und Stiernacken erhascht. »Laß uns das mal ansehen. Wenn es ihm gelingt, komme ich für den Schaden auf.«
»Darauf kannst du wetten!« plapperte der Gefängniswärter. Der Mann im Bärenfell sah ihn aus den Augenwinkeln an, und der Gefängniswärter verfiel in Schweigen.
Caramon schloß die Augen und holte einige Male tief Luft, die er langsam wieder ausatmete. Der Mann im Bärenfell und der Gefängniswärter traten von der Tür zurück. Caramon verschwand. Sie hörten ein Grunzen und dann einen gewaltigen Schlag, der die Holztür traf. Sie erzitterte in ihren Angeln, sogar die Steinwände schienen zu erbeben. Aber die Tür hielt. Der Gefängniswärter trat mit offenem Mund einen weiteren Schritt zurück.
Man hörte aus dem Inneren der Zelle erneut ein Grunzen, dann wieder einen Schlag. Die Tür zerbrach mit einer solchen Wucht, daß als einzig erkennbare Teile die Angeln und das Schloß übrigblieben – das immer noch den Türrahmen verschlossen hielt. Die Wucht von Caramons Schlagkraft ließ ihn in den Korridor fliegen. Unterdrückte Jubelgeräusche hörte man aus den benachbarten Zellen, in denen die anderen Gefangenen ihre Gesichter an die Gitter drückten.
»Dafür wirst du bezahlen!« schrie der Gefängniswärter den Mann im Bärenfell an.
»Er ist jeden Pfennig wert«, sagte der Mann, der Caramon auf die Füße half, den Staub von ihm strich und ihn gleichzeitig beäugte. »Ein bißchen zu viel gegessen, he? Auch zu viel Schnaps getrunken, wette ich? Wahrscheinlich ist das der Grund, warum du hier bist. Nun, mach dir keine Gedanken. Das wird bald in Ordnung gebracht. Name? Caramon?«
Der große Mann nickte mürrisch.
»Und ich bin Tolpan Barfuß«, sagte der Kender, der durch die zerbrochene Tür trat. »Ich gehe überall mit ihm hin, absolut überall. Ich habe Tika versprochen, daß ich es tue und...«
Der Mann im Bärenfell schrieb etwas auf seine Schiefertafel und warf dem Kender einen flüchtigen Blick zu. »Ich verstehe.«
»Nun dann«, fuhr der Kender fort, der mit einem Seufzer die Hand in die Tasche steckte, »wenn du diese Ketten von unseren Füßen abnehmen würdest, könnten wir bestimmt einfacher gehen.«
»Sicher«, murmelte der Mann im Bärenfell, der einige Zahlen auf seiner Tafel notierte. Als er sie zusammenzählte, lächelte er. »Mach voran«, wies er den Gefängniswärter an. »Hol die anderen für den heutigen Tag.«
Der alte Mann schlurfte davon, nicht ohne vorher einen bösartigen Blick auf Tolpan und Caramon zu werfen.
»Ihr zwei, setzt euch hier an die Wand hin«, befahl der Mann im Bärenfell.
Caramon kauerte sich auf den Boden und rieb seine Schulter. Tolpan setzte sich mit einem glücklichen Seufzer zu ihm. Die Welt außerhalb der Gefängniszelle sah bereits rosiger aus. Wie er Caramon schon gesagt hatte: »Wenn wir erst einmal draußen sind, haben wir eine Chance! Wir haben überhaupt keine Chance, solange wir eingesperrt sind.«
»Oh, nebenbei bemerkt«, rief Tolpan dem sich entfernenden Gefängniswärter nach, »würdest du dich bitte darum kümmern, daß ich meinen Dietrich zurückbekomme? Erinnerungswert, weißt du.«
»Eine Chance?« sagte Caramon zu Tolpan, als der Schmied sich daranmachte, das Eisenhalsband zu befestigen. Es hatte eine Zeitlang gedauert, ein passendes zu finden, und Caramon war der letzte, dem das Zeichen der Sklaverei um den Hals gelegt wurde. Der große Mann zuckte vor Schmerz zusammen, als der Schmied den Bolzen mit einem glühendheißen Eisen zusammenschweißte. Es roch nach angebranntem Fleisch.
Tolpan zerrte an seinem Halsband und zuckte mitfühlend zusammen. »Es tut mir leid«, sagte er schniefend. »Ich habe ihn nicht richtig verstanden! Sie haben sich so witzig ausgedrückt. Ehrlich, Caramon...«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Caramon mit einem Seufzer. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Aber es ist die Schuld von jemandem«, sagte Tolpan nachdenklich, während er interessiert zusah, wie der Schmied Fett über Caramons Brandwunde strich und dann seine Arbeit mit einem kritischen Auge begutachtete.
»Wie meinst du das?« murrte Caramon teilnahmslos. Sein Gesicht trug wieder einen leeren Ausdruck.
»Nun«, flüsterte Tolpan mit einem Seitenblick auf den Schmied, »denk doch mal nach. Sieh mal, welche Kleider du getragen hast, als wir hierhergekommen sind. Du hast wirklich wie ein Raufbold ausgesehen. Dann sind auf einmal dieser Kleriker und diese Wachmänner aufgetaucht, als ob sie uns erwartet hätten. Und denk an Crysania, wie sie ausgesehen hat.«
»Du hast recht«, pflichtete Caramon bei. In seinen abgestumpften Augen flackerte ein Lebensfunke auf. Der Funke wurde zu einem Blitz, der ein schwelendes Feuer entzündete. »Raistlin«, murmelte er. »Er weiß, daß ich versuche, ihn aufzuhalten. Er hat das alles arrangiert!«
»Dessen bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Tolpan nach einigem Nachdenken. »Ich meine, wäre es nicht wahrscheinlicher für ihn, dich einzumauern?«
»Nein!« sagte Caramon, und Tolpan sah Aufregung in seinen Augen. »Verstehst du nicht? Er will mich hier in der Vergangenheit haben. Er will uns nicht umbringen. Dieser... dieser Dunkelelf, der für ihn arbeitet, hat das gesagt, erinnerst du dich?«
Tolpan sah zweifelnd drein und wollte gerade etwas erwidern, als der Schmied dem Krieger an die Füße stieß. Der Mann im Bärenfell, der sie von der Tür der Schmiede ungeduldig angestarrt hatte, winkte zwei seiner eigenen Sklaven herbei. Sie gingen hinein, griffen grob nach Caramon und Tolpan und ketteten sie an die anderen Sklaven an. Auf eine Geste des Mannes im Bärenfell schlurfte die erbärmliche Kette der Menschen, Halbelfen und zwei Goblins vorwärts.
Sie hatten nicht mehr als drei Schritte zurückgelegt, als sie sich unverzüglich ineinander verhedderten, da Tolpan die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Nach vielen Flüchen und einigen Hieben mit einem Weidenstock brachte der Mann im Bärenfell den Zug wieder in Bewegung. Tolpan hüpfte im Versuch, Schritt zu halten. Als der Kender jedoch zweimal auf die Knie stürzte und die gesamte Reihe in Gefahr brachte, legte Caramon seinen riesigen Arm um seine Taille, hob ihn hoch und trug ihn.
»Das war ja lustig«, bemerkte Tolpan atemlos. »Besonders als ich gestürzt bin. Hast du das Gesicht von dem Mann gesehen? Ich...«
»Was hast du vorhin gemeint?« unterbrach Caramon. »Wie kommst du zu der Ansicht, daß Raistlin nicht hinter dieser ganzen Sache steckt?«
Tolpans Gesicht wurde ungewöhnlich ernst und nachdenklich. »Caramon«, sagte er nach einem Augenblick, legte seine Arme um Caramons Hals und sprach in sein Ohr, um über dem Kettengerassel und den Straßengeräuschen gehört zu werden, »Raistlin muß furchtbar beschäftigt gewesen sein mit dieser Reise zurück. Nun, Par-Salian hat Tage gebraucht, um den Zeitreisezauber auszuführen, und er ist ein wahrhaft mächtiger Magier. Es muß also eine Menge von Raistlins Energie in Anspruch genommen haben. Wie soll er das wohl geschafft und uns das gleichzeitig angetan haben?«
»Nun«, sagte Caramon stirnrunzelnd. »Wenn er es nicht war, wer dann?«
»Was ist mit – Fistandantilus?« flüsterte Tolpan.
Caramon hielt den Atem an, sein Gesicht wurde düster.
»Er... er ist ein wirklich mächtiger Zauberer«, gab Tolpan zu bedenken, »und, nun ja, du hast aus der Tatsache kein Geheimnis gemacht, daß du zurück in die Vergangenheit reisen und ihn um die Ecke bringen willst, sozusagen. Ich meine, du hast das im Turm der Erzmagier gesagt. Und wir wissen, daß Fistandantilus im Turm herumhängen kann. Dort hat er auch Raistlin getroffen, nicht wahr? Was ist, wenn er da herumgestanden und dich gehört hat? Ich vermute, er ist ganz schön sauer.«
»Pah! Wenn er so mächtig ist, dann hätte er mich auf der Stelle umbringen können!« knurrte Caramon.
»Nein, das kann er nicht«, erwiderte Tolpan bestimmt. »Sieh mal, ich habe alles kapiert. Er kann nicht den Bruder seines Schülers umbringen. Insbesondere, wenn dich Raistlin aus einem Grund hier haben will. Außerdem weiß Fistandantilus bestimmt, daß Raistlin dich wohl liebt, ganz tief in seinem Inneren.«
Caramon erblaßte, und Tolpan hatte das Gefühl, sich auf die Zunge gebissen zu haben. »Egal«, fuhr er eilig fort, »er kann dich nicht offen loswerden. Er muß es unauffällig erledigen, damit es gut aussieht.«
»Also?«
»Also...« Tolpan holte tief Atem. »Nun, in dieser Gegend werden keine Leute mehr hingerichtet, aber offenbar haben sie andere Methoden, um mit jenen fertig zu werden, die man nicht herumhängen haben will. Dieser Kleriker und der Gefängniswärter haben beide gesagt, Hinrichtungen seien ein ›leichter‹ Tod verglichen mit dem, was sie jetzt vorhaben.«
Ein Peitschenhieb über Caramons Rücken beendete die Unterhaltung. Caramon warf dem Sklaven, der ihn geschlagen hatte, einen wütenden Blick zu – es war ein Bursche, der seine Arbeit offensichtlich genoß – und versank in ein düsteres Schweigen. Er dachte darüber nach, was Tolpan ihm gesagt hatte. Es ergab sicherlich einen Sinn. Er hatte gesehen, wieviel Kraft und Konzentration es Par-Salian gekostet hatte, diesen schwierigen Zauber durchzuführen.
Caramon erkannte plötzlich alles ganz klar. Tolpan hatte recht! Wir wurden in eine Falle gelockt. Fistandantilus will mich irgendwie loswerden und Raistlin meinen Tod als Unfall erklären.
Irgendwo in einer Ecke seines Gehirns hörte Caramon eine mürrische alte Zwergenstimme sagen: »Ich weiß nicht, wer der größere Idiot ist – du oder dieser Türknopf von Kender! Wenn das einer von euch mal in eurem Leben herausfinden wird, würde mich das überraschen!« Caramon lächelte traurig über den Gedanken an seinen alten Freund. Aber Flint war nicht hier, und auch nicht Tanis oder sonst jemand, der ihm einen Ratschlag hätte geben können. Er und Tolpan waren auf sich selbst gestellt, und wenn der Kender nicht diesen Sprung in den Zauberkreis gewagt hätte, wäre er ganz allein hier in der Vergangenheit. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Caramon erbebte. »Das alles bedeutet nur, daß ich diesen Fistandantilus erwischen muß, bevor er mich erwischt«, sagte er leise zu sich.
Die riesigen Türme des Tempels sahen auf tadellos saubere Stadtstraßen herab. Die Straßen wimmelten von Leuten. Tempelwachen strichen umher, hielten die Ordnung aufrecht, hoben sich von der Menge mit ihren farbenfrohen Umhängen und mit ihren Helmen ab. Wunderschöne Frauen warfen den Wachen bewundernde Blicke zu, während sie in den Basaren und Geschäften bummelten. Es gab jedoch einen Platz in der Stadt, den die Frauen nicht aufsuchten, auch wenn viele neugierige Blicke in seine Richtung warfen – den Sklavenmarkt.
Der Sklavenmarkt war wie immer überfüllt. Einmal in der Woche wurden Versteigerungen abgehalten – ein Grund, warum der Mann im Bärenfell so eifrig gewesen war, seine wöchentliche Anzahl von Sklaven aus den Gefängnissen zu bekommen. Obgleich das Geld aus den Verkäufen der Gefangenen in die öffentlichen Schatzkammern wanderte, erhielt der Mann natürlich seinen Anteil. Und diese Woche schien besonders erfolgversprechend zu sein.
Wie er Tolpan bereits gesagt hatte, gab es in Istar oder in Teilen Krynns, die von der Stadt kontrolliert wurden, keine Hinrichtungen mehr. Die Ritter von Solamnia beharrten noch darauf. Aber der Königspriester hielt mit den Rittern Beratungen ab, und es bestand Hoffnung, daß es mit diesem abscheulichen Brauch bald ein Ende haben würde.
Natürlich hatte das Ende der Hinrichtungen in Istar ein anderes Problem heraufbeschworen – was sollte man mit den Gefangenen anstellen, deren Anzahl zunahm? Die Kirche führte aus diesem Grunde eine Untersuchung durch. Aus dieser ergab sich, daß die meisten Gefangenen mittel- und obdachlos waren. Die Verbrechen, die sie verübten – Diebstahl, Einbruch, Prostitution und dergleichen —, waren eine Folge aus diesen Umständen.
»Ist es dann also nicht logisch«, sagte der Königspriester zu seinen Ministern an dem Tag, als er die offizielle Erklärung abgab, »daß Sklaverei nicht nur die Antwort auf das Problem der Überfüllung unserer Gefängnisse ist, sondern eine höchst menschenfreundliche Methode, mit diesen armen Leuten umzugehen, deren einziges Verbrechen darin besteht, daß sie in einem Netz der Armut gefangen sind, aus dem sie nicht entkommen können? Natürlich ist sie das. Es ist also unsere Pflicht, ihnen zu helfen. Als Sklaven werden sie ernährt, gekleidet und untergebracht. Es wird ihnen alles gegeben, was ihnen fehlt. Wir werden uns selbstverständlich darum kümmern, daß sie gut behandelt werden, und Vorkehrungen treffen, daß sie nach einer gewissen Zeit der Sklaverei – wenn sie sich gut verhalten haben – sich die Freiheit zurückkaufen können. Sie werden dann zu uns als produktive Mitglieder der Gesellschaft zurückkehren.«
Die Idee wurde unverzüglich in die Tat umgesetzt und nun seit über zehn Jahren praktiziert. Es hatte Probleme gegeben. Aber diese waren dem Königspriester niemals zu Ohren gekommen – sie waren nicht schwerwiegend genug gewesen, um sein Interesse in Anspruch zu nehmen. Unterminister hatten sich zur Genüge damit auseinandergesetzt, und jetzt funktionierte das System recht gut. Die Kirche erhielt ein ständiges Einkommen von den Erlösen, die mit den Gefängnissklaven erzielt wurden, und die Sklaverei wirkte sich sogar abschreckend auf Verbrechen aus.
Die sich ergebenden Probleme betrafen zwei Verbrechergruppen – Kender und jene Kriminellen, deren Verbrechen besonders anstößig waren. Es stellte sich heraus, daß es unmöglich war, einen Kender zu verkaufen, und sehr schwierig, einen Mörder, Vergewaltiger oder Verrückten unterzubringen. Die Lösung war einfach. Kender wurden über Nacht eingesperrt und dann zu den Stadttoren eskortiert – das führte zu einer allmorgendlichen kleinen Prozession. Institutionen wurden geschaffen, um mit den Schwerverbrechern fertig zu werden.
Mit dem Leiter solch einer Institution, einem Zwerg, führte der Mann im Bärenfell an diesem Morgen eine angeregte Unterhaltung und zeigte dabei auf Caramon, der mit den anderen Gefangenen in einem schmutzigen und stinkenden Pferch stand und eine dramatische Bewegung mit der Schulter machte, als ob er eine Tür einschlagen wollte.
Der Leiter der Institution schien nicht beeindruckt zu sein. Das war jedoch nicht ungewöhnlich. Er hatte vor langer Zeit gelernt, daß der verlangte Preis auf der Stelle um das Doppelte erhöht wurde, wenn man von einem Gefangenen beeindruckt schien. Also warf der Zwerg Caramon einen finsteren Blick zu, spuckte auf den Boden, verschränkte die Arme, setzte die Füße entschlossen auf das Pflaster und funkelte den Mann im Bärenfell an.
»Er ist nicht in Form, zu fett. Außerdem ist er ein Trunkenbold, sieh dir seine Nase an.« Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Und er sieht nicht gemein aus. Was soll er angestellt haben? Einen Kleriker überfallen? Pah!« Er schnaufte verächtlich. »So wie er aussieht, kann er höchstens einen Weinkrug überfallen!«
Natürlich war der Mann im Bärenfell an solche Kommentare gewöhnt.
»Du bist dabei, eine einmalige Chance deines Lebens zu verpassen, Steinbrecher«, sagte er glattzüngig. »Du hättest sehen sollen, wie er die Tür zerschmettert hat. Ich habe bei einem Mann noch nie so viel Kraft gesehen. Vielleicht ist er übergewichtig, aber das kann man kurieren. Stutz ihn zurecht, und die Damen werden ihn bewundern. Sieh dir diese schmelzenden braunen Augen und dieses lockige Haar an.« Der Mann im Bärenfell senkte die Stimme. »Es wäre eine echte Schande, ihn an die Minen zu verlieren... Ich habe versucht, über seine Tat Schweigen zu bewahren, aber Harold hat leider davon Wind bekommen.«
Sowohl der Mann im Bärenfell als auch der Zwerg warfen einem Menschen einen Blick zu, der sich etwas entfernt mit einigen seiner stämmigen Wachmänner unterhielt und lachte.
Der Mann im Bärenfell fuhr fort: »Harold hat geschworen, daß er ihn haben will. Sagt, er wird ihn antreiben, so daß er wie zwei normale Menschen arbeitet. Nun, du bist ein bevorzugter Kunde, und ich versuche, die Dinge in deine Richtung zu lenken ...«
»Laß Harold ihn haben«, knurrte der Zwerg. »Fetter Trottel.«
Aber der Mann im Bärenfell sah, daß der Zwerg Caramon mit einem abwägenden Auge musterte. Da er aus langer Erfahrung wußte, wann er zu reden und wann zu schweigen hatte, verbeugte er sich vor dem Zwerg und ging, sich die Hände reibend, seiner Wege.
Caramon, der die Unterhaltung gehört hatte und den Blick des Zwerges auf sich ruhen sah, verspürte den plötzlichen Wunsch, seine Ketten zu zerbrechen, durch den Pferch, in dem er eingesperrt war, zu stürzen und sowohl den Mann im Bärenfell als auch den Zwerg zu erwürgen. Das Blut hämmerte in seinem Gehirn, die Muskeln seiner Arme schwollen an – ein Anblick, der den Zwerg die Augen aufreißen und die Wachen, die um den Pferch standen, die Schwerter aus den Scheiden ziehen ließ.
Aber Tolpan stieß ihn plötzlich mit dem Ellbogen in die Rippen. »Caramon, sieh mal!« sagte er aufgeregt. »Dort drüben, am Rand der Menge, der Mann, der da allein steht. Siehst du ihn?«
Caramon holte Atem und zwang sich zur Ruhe. Er sah in die Richtung, in die der Kender zeigte, und plötzlich wurde das heiße Blut in seinen Adern kalt.
Am Rand der Menge stand eine schwarzgekleidete Gestalt. Sie stand allein da. In der Tat hatte sich ein großer leerer Kreis um sie gebildet. Niemand aus der Menge näherte sich ihr. Viele machten Umwege, gingen einen anderen Weg, um auf keinen Fall zu dicht an ihr vorbeizugehen. Niemand sprach mit ihr, aber alle waren sich ihrer Gegenwart bewußt.
Die Gestalt war ein Mann. Seine Roben waren tiefschwarz und ohne jegliche Verzierungen. Kein silberner Faden glitzerte an seinen Ärmeln, kein Saum umgab die schwarze Kapuze, die tief über sein Gesicht gezogen war. Er trug keinen Stab, kein Vertrauter ging an seiner Seite. Andere Magier trugen Runen der Abwehr und des Schutzes, Stäbe der Macht oder hatten Tiere, die ihnen zu Befehl standen, bei sich. Dieser Mann brauchte nichts dergleichen. Seine Macht rührte aus seinem Inneren. Man konnte sie spüren, sie strahlte um ihn wie die Hitze aus der Esse eines Schmieds.
Er war hochgewachsen und gutgebaut, die schwarzen Roben fielen über Schultern, die schlank, aber muskulös waren. Seine weißen Hände – die einzigen sichtbaren Teile seines Körpers – waren stark, zierlich und geschmeidig. Obgleich er so alt war, daß nur wenige auf Krynn es wagen konnten, sein Alter zu schätzen, hatte er den Körper eines Jungen und Starken. Dunkle Gerüchte besagten, daß er seine magischen Künste benutzte, um die Schwächen seines Alters zu überwinden.
Und so stand er allein da, als ob eine schwarze Sonne in den Hof gefallen wäre. Nicht einmal seine glitzernden Augen konnten in den dunklen Tiefen seiner Kapuze gesehen werden.
»Wer ist das?« fragte Tolpan einen Mitgefangenen und nickte zu der schwarzgekleideten Gestalt hin.
»Weißt du das nicht?« fragte der Gefangene.
»Ich bin nicht aus der Stadt«, entschuldigte sich Tolpan.
»Nun, das ist der Schwarze – Fistandantilus. Vermutlich hast du von ihm gehört.«
»Ja«, antwortete Tolpan und warf Caramon einen Blick zu. »Wir haben von ihm gehört.«