In dieser Nacht schlief niemand in Istar.
Der Sturm nahm an Heftigkeit zu, bis es schien, daß er alles zerstören wollte. Blitze tanzten durch die Straßen, Bäume explodierten bei ihrer feurigen Berührung. Hagel prasselte auf die Straßen nieder, brach Ziegel und Steine aus den Häusern, zerschlug das dickste Glas. Hochwasser toste durch die Straßen, riß die Marktbuden, Sklavenpferche, Karren und Kutschen mit sich.
Aber niemand wurde verletzt.
Es war, als ob die Götter in dieser letzten Stunde ihre Hände schützend über die Lebenden hielten, als ob sie hofften, sie würden die Warnungen beachten.
In der Morgendämmerung hörte der Sturm auf. Die Welt war plötzlich von einer tiefen Ruhe erfüllt. Die Götter warteten, wagten nicht einmal zu atmen, um nicht den leisen Schrei zu verpassen, der vielleicht die Welt retten konnte.
Die Sonne stieg an einem blaßblauen Himmel empor. Kein Vogel sang, um sie willkommen zu heißen, keine Blätter raschelten in der Morgenbrise, denn es gab keine Morgenbrise. Die Luft war still und tödlich ruhig. Rauch stieg von qualmenden Bäumen in senkrechten Säulen in den Himmel, das Hochwasser schwand dahin, als ob es von einer riesigen Abzugsrinne verschluckt würde. Die Leute schlichen ins Freie, sahen sich ungläubig um, daß es nicht mehr Schäden gab, und von den vorausgegangenen schlaflosen Nächten erschöpft, kehrten sie dann in ihre Häuser zurück.
Aber immerhin gab es eine Person in Istar, die friedlich die Nacht durchschlief. Tatsächlich wurde sie durch die plötzliche Stille wach.
Wie Tolpan Barfuß gern erzählte, hatte er im Düsterwald mit Geistern geredet und mehrere Drachen kennengelernt, war dem verfluchten Eichenwald von Shoikan nahe gekommen, hatte eine Kugel der Drachen zerstört und war persönlich verantwortlich für die Niederlage der Königin der Finsternis. Bloß ein Gewitter konnte ihn kaum aus der Ruhe bringen und noch weniger seinen Schlaf beeinträchtigen.
Es war einfach gewesen, das magische Gerät zu ergattern. Tolpan schüttelte den Kopf über Caramons naiven Stolz, ein kluges Versteck gefunden zu haben. Tolpan hatte den großen Mann nicht darüber aufgeklärt, daß dieser falsche Boden von jedem Kender ab drei Jahren ausfindig gemacht werden konnte.
Tolpan nahm das magische Gerät aus der Schachtel und starrte es voll Entzücken an.
Eilig ging er im Geist noch einmal Raistlins Anweisungen durch. Der Magier hatte sie ihm erst vor wenigen Tagen gegeben und ihn auswendig lernen lassen.
»Deine Zeit gehört dir allein, auch wenn du quer durch sie reist. Ihre Ausdehnungen siehst du durch die Ewigkeit wirbeln; hemme nicht ihren Verlauf. Ergreife fest das Ende und den Anfang, drehe sie um sich selbst, und alles, was verloren ist, wird in Sicherheit sein. Das Schicksal wird über deinem Kopf sein.«
Das Gerät war so schön, daß Tolpan es gern lange bewundert hätte. Aber er hatte keine Zeit, darum warf er es hastig in einen Beutel, ergriff seine anderen Beutel, legte seinen Umhang an und eilte hinaus. Auf dem Weg dachte er über seine letzte Unterhaltung mit dem Magier nach.
»Leih dir den Gegenstand in der Nacht zuvor aus«, hatte Raistlin ihm geraten. »Der Sturm wird beängstigend sein, und Caramon könnte es sich in den Kopf setzen, vorher aufzubrechen. Außerdem wird es für dich am einfachsten sein, unbemerkt in den Raum zu schlüpfen, der als die Geweihte Kammer des Tempels bekannt ist, während der Sturm tobt. Der Sturm wird sich am Morgen legen, und dann werden der Königspriester und seine Minister mit der Prozession beginnen. Sie werden in die Geweihte Kammer gehen, und dort wird der Königspriester den Göttern seine Forderungen stellen. Du mußt in der Kammer sein und das Gerät aktivieren, sobald der Königspriester zu sprechen aufhört...«
»Wie wird das Gerät die Umwälzung aufhalten?« unterbrach ihn Tolpan gespannt. »Werde ich sehen, wie es einen Lichtstrahl in den Himmel schießt? Oder wird es den Königspriester flach auf den Boden werfen?«
»Nein«, antwortete Raistlin und hustete leise, »es wird den Königspriester nicht flach auf den Boden werfen. Aber du hast recht mit dem Licht.«
»Ja?« Tolpan freute sich. »Ich habe es einfach vermutet! Das ist ja phantastisch! Ich muß wohl schon ganz gut sein bei diesem magischen Zeug.«
»Ja«, erwiderte Raistlin trocken. »Nun, um fortzufahren, wo ich unterbrochen wurde...«
»Entschuldige, es wird nicht wieder passieren«, unterbrach ihn Tolpan.
Raistlin funkelte ihn an. »Du mußt dich also in der Nacht in die Geweihte Kammer schleichen. Der Bereich hinter dem Altar ist durch Vorhänge abgetrennt. Versteck dich dort, damit du nicht entdeckt wirst.«
»Und dann halte ich die Umwälzung auf, gehe zu Caramon zurück und erzähle ihm alles! Ich werde ein Held sein...« Tolpan verstummte, ein plötzlicher Gedanke war ihm gekommen. »Aber wie kann ich ein Held sein, wenn ich etwas aufhalte, was niemals angefangen hat? Ich meine, wie sollen sie es erfahren, daß ich alles unternommen habe, wenn ich nicht...«
»Oh, sie werden es wissen...«, sagte Raistlin sanft.
»Ja? Aber ich verstehe noch nicht... Oh, du bist beschäftigt, vermute ich. Ich gehe wohl besser. Sag, wirst du auch aufbrechen, wenn alles hier erledigt ist?« sagte Tolpan, während Raistlins Hand, die auf seiner Schulter lag, ihn beharrlich zur Tür steuerte. »Wohin wirst du gehen?«
»Wohin ich will«, gab Raistlin zurück.
»Könnte ich mit dir kommen?« fragte Tolpan eifrig.
»Nein, du wirst in deiner eigenen Zeit benötigt«, antwortete Raistlin. »Du mußt dich um Caramon kümmern...«
»Ja, du hast wohl recht.« Der Kender seufzte. »Er braucht jemand, der sich um ihn kümmert.«
Als Tolpan zur Arena zurückkehrte, erinnerte er sich wieder daran, wie er in der Nacht vor der Umwälzung die Arena verlassen hatte. Er wußte nicht, wie heftig der Sturm geworden war, und war über die Wildheit des Windes verblüfft, der ihn buchstäblich hochhob und zurück gegen die Steinmauer der Arena schleuderte, als er sich nach draußen wagte. Nach einer Pause, in der er Atem schöpfte, rappelte sich der Kender wieder hoch und nahm den Weg zum Tempel auf, das magische Gerät fest in der Hand haltend. Schließlich erreichte er den Tempel. Er schlich sich durch den Garten und gelangte ins Innere. Kleriker liefen überall herum, versuchten, Wasser aufzuwischen und zerbrochenes Glas aufzukehren, und zündeten erloschene Fackeln wieder an.
Er hatte keine Vorstellung, wo die Geweihte Kammer sein konnte, aber es gab nichts, was er mehr genoß, als durch fremde Orte zu wandern. Zwei oder drei Stunden später geriet er zufällig in einen Raum, der Raistlins Beschreibung entsprach.
Keine Fackeln brannten in ihm, da er zur Zeit nicht gebraucht wurde, aber Blitze beleuchteten ihn für den Kender ausreichend, um den Altar und die Vorhänge zu erkennen, die Raistlin beschrieben hatte. Tolpan war ziemlich erschöpft und freute sich auf eine Pause. Nachdem er den Raum untersucht und leer gefunden hatte, ging er am Altar vorbei und sah hinter die Vorhänge, in der Hoffnung, eine Art geheime Höhle zu finden, in der der Königspriester heilige Riten vollführte, die für die Augen Sterblicher verboten waren.
Als er sich umschaute, seufzte er. Nichts. Nur eine Wand, mit Vorhängen bedeckt. Er nahm hinter den Vorhängen Platz, breitete seinen Umhang zum Trocknen aus, wrang das Wasser aus seinem Haarknoten, und mit Hilfe der Blitze begann er, die interessanten Gegenstände auszusortieren, die ihren Weg in seine Beutel gefunden hatten.
Nach einer Weile wurden seine Augen so schwer, daß er sie nicht mehr aufbehalten konnte. Er rollte sich auf dem Boden zusammen und glitt in den Schlaf, nur leicht verärgert über das Grollen des Donners. Sein letzter Gedanke war, ob Caramon ihn bereits vermißte, und wenn ja, ob er sehr wütend war...
Das nächste, was Tolpan wahrnahm, war die Ruhe. Warum ihn ausgerechnet die Ruhe aus seinem tiefen Schlaf schreckte, war ihm zuerst ein völliges Rätsel.
Dann fiel ihm der Grund ein. Der Sturm hatte sich gelegt – wie Raistlin vorausgesagt hatte. Er erhob sich und spähte zwischen den Vorhängen in die Geweihte Kammer. Durch die Fenster schien helles Sonnenlicht.
Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber nach dem Stand der Sonne mußte es kurz vor Mittag sein. Die Prozession würde bald anfangen, erinnerte er sich, und es würde eine Zeitlang dauern, bis sie sich durch den Tempel gewunden hatte. Der Königspriester wollte die Götter zur Mittwacht anrufen, wenn die Sonne den Zenit erreicht hatte.
Tatsächlich läuteten Glocken über ihm, als Tolpan darüber nachdachte. Dann hörte das Läuten wieder auf. Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, spähte er wieder zwischen den Vorhängen in die Kammer und zog gerade die Möglichkeit in Betracht, daß jemand zum Saubermachen käme, als er eine dunkle Gestalt in das Zimmer gleiten sah.
Tolpan zog sich zurück. Er hielt die Vorhänge nur noch einen Spalt auf und spähte mit nur einem Auge. Die Gestalt hielt den Kopf gesenkt, ihre Schritte waren langsam und unsicher. Sie hielt kurz inne, um sich auf eine der Steinbänke zu stützen, die den Altar umgaben, als ob sie zu müde wäre weiterzugehen; dann fiel sie auf die Knie. Obgleich sie wie fast jeder im Tempel in weiße Roben gekleidet war, kam Tolpan diese Gestalt vertraut vor. Als er sich ziemlich sicher war, daß die Aufmerksamkeit der Gestalt nicht auf ihn gerichtet war, riskierte er es, den Spalt zu vergrößern.
»Crysania!« murmelte er. »Ich frage mich, warum sie so früh hier ist!« Dann wurde er von einer Enttäuschung ergriffen. »Nehmen wir mal an, sie ist auch hier, um die Umwälzung aufzuhalten... Verdammt! Raistlin hat gesagt, ich könnte es«, brummte er. Dann wurde ihm klar, daß sie redete – entweder ein Selbstgespräch oder ein Gebet. Er lauschte ihrem Gemurmel.
»Paladin, größter und weisester Gott von ewiger Güte, höre meine Stimme an diesem tragischsten aller Tage. Ich weiß, ich kann nicht aufhalten, was eintreten wird. Und vielleicht ist es ein Zeichen meines mangelnden Glaubens, daß sogar ich dein Vorhaben in Frage stelle. Ich habe nur eine einzige Bitte – hilf mir alles verstehen! Wenn es stimmt, daß ich sterben muß, laß mich den Grund wissen. Laß mich erkennen, daß mein Tod einem Zweck dient. Zeig mir, daß ich nicht völlig versagt habe bei dem, was ich hier in der Vergangenheit vollbringen wollte. Gewähre mir, daß ich hier ungesehen verweilen darf und hören kann, was kein Sterblicher jemals gehört und überlebt hat, um es weiterzugeben – die Worte des Königspriesters. Er ist ein guter Mann, vielleicht zu gut.« Crysanias Kopf sank in ihre Hände. »Mein Glaube hängt an einem Faden«, sagte sie so leise, daß Tolpan sie kaum verstehen konnte. »Zeig mir die Rechtfertigung dieser schrecklichen Tat. Wenn es dein launenhafter Einfall ist, will ich sterben, so wie es wohl beabsichtigt ist, mit denen, die vor langer Zeit ihren Glauben an die wahren Götter verloren...«
»Sag nicht, daß sie ihren Glauben verloren haben, Verehrte Tochter«, ertönte eine Stimme aus der Luft, die den Kender so erschreckte, daß er fast durch die Vorhänge fiel. »Sag lieber, daß sie ihren Glauben an die wahren Götter durch ihren Glauben an die falschen ersetzt haben – Geld, Macht, Ehrgeiz...«
Crysania hob mit einem Laut des Erschreckens den Kopf, aber es war der Anblick ihres Gesichts, nicht der der weißschimmernden Gestalt, die sich neben ihr materialisierte, der dem Kender den Atem nahm. Crysania hatte offensichtlich seit Tagen nicht mehr geschlafen, ihre Augen waren dunkel und groß und lagen eingefallen in ihrem Gesicht. Ihre Wangen waren hohl, ihre Lippen trocken und aufgesprungen. Sie hatte nicht einmal ihr Haar gekämmt, es fiel wie schwarze Spinnweben über ihr Gesicht, als sie voll Angst die geisterhafte Gestalt anstarrte. »Wer... wer bist du?« stammelte sie.
»Mein Name ist Loralon. Und ich bin gekommen, um dich mitzunehmen. Dein Tod war nicht beabsichtigt, Crysania. Du bist nun die letzte wahre Klerikerin auf Krynn, und du kannst dich zu uns gesellen, die vor vielen Tagen aufgebrochen sind.«
»Loralon, der größte Kleriker von Silvanesti«, murmelte Crysania. Lange Zeit betrachtete sie ihn, dann senkte sie den Kopf, drehte sich um, und ihre Augen blickten zum Altar. »Ich kann nicht gehen«, sagte sie entschlossen, während sie kniete. »Noch nicht. Ich muß den Königspriester hören. Ich muß verstehen...«
»Verstehst du immer noch nicht genug?« fragte Loralon streng. »Was hast du in der vergangenen Nacht in deiner Seele gespürt?«
Crysania schluckte, dann strich sie ihr Haar mit zitternder Hand zurück. »Ehrfurcht, Demut«, flüsterte sie. »Sicher müssen das alle spüren angesichts der Macht der Götter...«
»Sonst nichts?« fragte Loralon weiter. »Neid vielleicht? Der Wunsch, ihnen gleich zu sein? Auf der gleichen Ebene zu existieren?«
»Nein!« antwortete Crysania wütend, dann errötete sie und wandte das Gesicht ab.
»Komm jetzt mit mir, Crysania«, drängte Loralon. »Wahrer Glaube benötigt keine Beweise, um etwas zu glauben, von dem das Herz weiß, daß es richtig ist.«
»Die Worte meines Herzens klingen hohl in meinem Verstand«, gab Crysania zurück. »Sie sind nichts weiter als Schatten. Ich muß die Wahrheit sehen, wie sie im klaren Licht des Tages glänzt! Nein, ich werde nicht mit dir aufbrechen. Ich werde bleiben und hören, was er sagt! Ich will wissen, ob das Handeln der Götter gerechtfertigt ist!«
Loralon musterte sie mit einem Blick, der eher mitleidig als wütend war. »Du schaust nicht in das Licht, du stehst vor ihm. Der Schatten, den du vor dir siehst, ist dein eigener. Beim nächsten Mal, wenn du deutlich sehen wirst, Crysania, wirst du von der Dunkelheit blind sein, unendlicher Dunkelheit. Lebe wohl, Verehrte Tochter.«
Tolpan blinzelte und sah sich um. Der alte Elf war verschwunden! Ist er wirklich hier gewesen? fragte sich der Kender unbehaglich. Aber es mußte stimmen, denn Tolpan konnte sich noch an seine Worte erinnern. Und was hatte er gemeint? Es hörte sich alles so seltsam an. Und was hatte Crysania gemeint – zum Sterben hierhergeschickt zu sein?
Dann faßte der Kender wieder Mut. Keiner von ihnen wußte, daß die Umwälzung nicht stattfinden würde. Kein Wunder, daß Crysania sich so krank fühlte. »Sie wird wahrscheinlich wieder fröhlicher werden, wenn sie erfährt, daß die Welt nicht verwüstet wird«, sagte sich Tolpan.
Und dann hörte der Kender entfernte Stimmen sich zu einem Lied vereinen. Die Prozession! Sie begann. Tolpan jauchzte fast vor Aufregung. Dann warf er einen letzten schnellen Blick auf Crysania. Sie saß einsam und verzweifelt da, krümmte sich bei dem Klang der Musik. Durch die Entfernung verzerrt, hörte sie sich schrill an.
»Du wirst dich schon bald besser fühlen«, tröstete Tolpan sie stumm, dann kauerte er sich wieder hinter den Vorhang, um das wundervolle magische Gerät aus seinem Beutel zu holen. Er setzte sich hin, hielt das Gerät in seinen Händen und wartete.
Die Prozession dauerte ewig. Der Kender gähnte. Er hätte gern mit dem magischen Gerät gespielt, aber Raistlin hatte ihm eingeprägt, es in Ruhe zu lassen, bis die Zeit gekommen war, und dann die Anweisungen zu befolgen. Tolpan saß da, hielt das magische Gerät fest und hatte fast Angst, sich zu bewegen.
Als er gerade aufgeben wollte, hörte er wunderschöne Stimmen erschallen. Glänzendes Licht quoll durch die Vorhänge. Der Kender rang mit seiner Neugierde, aber schließlich konnte er nicht widerstehen, wenigstens einen kleinen Blick zu riskieren. Er hatte schließlich noch nie den Königspriester gesehen. Er sagte sich, daß er sehen mußte, was vor sich ging, und spähte wieder durch den Spalt zwischen den Vorhängen.
Das Licht blendete ihn fast.
»Großer Reorx!« murmelte der Kender und bedeckte die Augen mit den Händen. Er erinnerte sich, als Kind einmal in die Sonne geschaut zu haben, um herauszufinden, ob sie wirklich eine riesige goldene Münze war, und wenn ja, wie er sie vom Himmel holen könnte. Danach war er gezwungen gewesen, drei Tage mit kalten Umschlägen um seine Augen im Bett zu verbringen.
»Ich frage mich, wie er das anstellt«, murmelte Tolpan und wagte es wieder, durch seine Finger zu spähen. Er starrte in das Innere des Lichtes, so wie er damals in die Sonne gestarrt hatte. Und er sah die Wahrheit. Die Sonne war keine goldene Münze. Der Königspriester war lediglich ein Mann.
Der Kender erlebte nicht den schrecklichen Schock wie Crysania, als sie hinter der Illusion den wirklichen Mann erblickt hatte. Er war überrascht – und enttäuscht. Ich habe diese ganze Plackerei für nichts auf mich genommen, dachte er verärgert. Es wird keine Umwälzung geben. Ich glaube nicht, daß mich dieser Mann wütend genug machen könnte, um eine Pastete auf ihn zu werfen, geschweige denn ein ganzes feuriges Gebirge.
Aber Tolpan hatte nichts anderes zu tun, und so beschloß er, in der Nähe zu bleiben, zu beobachten und zu lauschen. Immerhin würde etwas passieren. Er versuchte, Crysania ausfindig zu machen, fragte sich, wie sie wohl darüber dachte, aber der Heiligenschein, der den Königspriester umgab, war so hell, daß er sonst nichts im Raum erkennen konnte.
Der Königspriester ging mit andächtigen Schritten zum Altar, seine Augen bewegten sich blitzschnell nach links und rechts. Tolpan fragte sich, ob der Königspriester Crysania sehen konnte, aber offensichtlich war er von seinem eigenen Licht geblendet, denn seine Augen gingen über sie hinweg. Als er den Altar erreichte, kniete er sich nicht zum Gebet nieder, so wie Crysania es getan hatte. Tolpan hatte den Eindruck, daß er es gerade tun wollte, aber dann schüttelte er wütend den Kopf und blieb stehen.
Tolpan, der sich hinter dem Altar und leicht zu seiner Linken befand, hatte eine hervorragende Aussicht auf das Gesicht des Mannes. Wieder ergriff der Kender vor Aufregung das magische Gerät. Denn der Blick reinen Entsetzens in den wäßrigen Augen des Königspriesters wurde von einer arroganten Maske verdeckt.
»Paladin«, trompetete der Königspriester, und Tolpan hatte den entschiedenen Eindruck, daß der Mann zu einem Handlanger sprach. »Paladin, du siehst das Böse, das mich umgibt! Du warst Zeuge der Katastrophen in den vergangenen Tagen. Du weißt, daß das Böse gegen mich gerichtet ist, gegen mich persönlich, weil ich der einzige bin, der es bekämpft! Auf jeden Fall mußt du zugeben, daß diese Lehre vom Gleichgewicht nicht funktioniert!« Die Stimme des Königspriesters verlor den barschen Ton, wurde sanft wie eine Flöte. »Natürlich verstehe ich. Du mußtest diese Lehre in den alten Zeiten vertreten, als du schwach warst. Aber du verfügst jetzt über mich, deinen rechten Arm, deinen wahren Vertreter auf Krynn. Mit unserer gemeinsamen Macht kann ich das Böse beseitigen! Zerstöre die Ogerrassen! Bring die widerspenstigen Menschen unter deine Herrschaft! Finde eine neue, weitentfernte Heimat für die Zwerge und Kender und Gnome, diese Rassen, die nicht deiner Schöpfung entstammen...«
Wie beleidigend, dachte Tolpan aufgebracht. Ich wünsche fast, daß sie einen Berg auf ihn schmeißen!
»Und ich werde in Glanz herrschen«, die Stimme des Königspriesters schwoll an, »und ein Zeitalter schaffen, das sogar mit dem sagenumwobenen Zeitalter der Träume rivalisieren kann!« Der Königspriester breitete die Arme aus. »Du hast dies und noch viel mehr Huma gewährt, Paladin, der nichts weiter war als ein abtrünniger Ritter von niedriger Geburt! Ich verlange, daß auch du mir die Macht gewährst, die Schatten des Bösen zu vertreiben, die dieses Land in Dunkelheit hüllen!«
Er verstummte und wartete mit ausgebreiteten Armen.
Tolpan hielt den Atem an, wartete ebenfalls und umklammerte das magische Gerät in seinen Händen. Und dann spürte der Kender die Antwort. Ein Entsetzen kroch in ihm hoch, eine Angst, die er nie zuvor empfunden hatte, nicht einmal vor Soth oder im Eichenwald von Shoikan. Zitternd sank der Kender auf die Knie und neigte den Kopf, wimmerte und schüttelte sich, bat irgendeine unsichtbare Macht um Gnade, um Vergebung. Hinter dem Vorhang konnte er das Echo seines eigenen zusammenhanglosen Gemurmels hören, und er wußte, Crysania war da, und auch sie spürte den heißen Zorn, der über ihn wie der Donner des Sturmes rollte.
Aber der Königspriester sprach kein Wort. Er blieb einfach stehen, starrte erwartungsvoll zum Himmel empor, den er durch die Decken seines Tempels und wegen seines eigenen Lichts nicht sehen konnte.