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Die wunderschönen Elfenstimmen stiegen höher und höher, die Gesichter der Elfenfrauen, berührt von den Strahlen der untergehenden Sonne, die durch die hohen Kristallfenster drangen, waren zart-rosa gefärbt, und ihre Augen glänzten in leidenschaftlicher Inspiration.

An diesem Abend empfand Denubis den Gesang als störend, da er sich um die junge Frau sorgte, die er am Morgen in den Tempel gebracht hatte. Eigentlich war es ihm fast gelungen, an diesem Abend nicht zu erscheinen, aber im letzten Moment hatte ihn Gerald in Anspruch genommen, ein alter Kleriker, dessen Tage auf Krynn gezählt waren und der seinen größten Trost in der Abendandacht fand. Höchstwahrscheinlich, sinnierte Denubis, weil der alte Mann fast völlig taub war. Es war völlig unmöglich gewesen, Gerald zu erklären, daß er, Denubis, woanders hingehen mußte. Schließlich hatte Denubis es aufgegeben und dem alten Kleriker seinen Arm zur Unterstützung gereicht. Jetzt stand Gerald mit entzücktem Gesichtsausdruck neben ihm.

Denubis dachte über die junge Frau nach, als er eine sanfte Berührung an seinem Arm spürte. Der Kleriker zuckte zusammen und sah sich schuldbewußt um; er fragte sich, ob seine Unaufmerksamkeit bemerkt worden war und darüber Bericht erstattet werden würde. Zuerst konnte er nicht erkennen, wer ihn berührt hatte, denn seine beiden Nachbarn waren augenscheinlich in ihre Gebete vertieft. Dann spürte er wieder die Berührung und erkannte, daß sie von hinten kam. Als er sich umschaute, sah er eine Hand, die unauffällig aus dem Vorhang geglitten war.

Die Hand winkte ihm zu. Denubis verließ verwirrt seinen Platz, tastete sich zum Vorhang, wobei er versuchte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Hand hatte sich zurückgezogen, und Denubis konnte den Schlitz in den Falten des schweren Samtvorhangs nicht finden. Als er sich sicher war, daß jeder Pilger seine Augen in Abscheu auf ihn gerichtet hatte, fand er endlich die Öffnung und stolperte durch.

Ein junger Meßdiener mit glattem und sanftem Gesicht verbeugte sich vor dem schwitzenden Kleriker. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Euer Abendgebet unterbrochen habe, Verehrter Sohn, aber der Königspriester wünscht, daß Ihr ihn mit einigen Augenblicken Eurer Zeit beehrt, wenn es Euch angenehm ist.« Der Meßdiener sprach die vorgeschriebenen Worte mit so lässiger Höflichkeit, daß es einem Beobachter nicht ungewöhnlich erschienen wäre, wenn Denubis »Nein, nicht jetzt. Ich muß mich erst um andere Angelegenheiten kümmern. Vielleicht später?« geantwortet hätte.

Denubis jedoch sagte nichts dergleichen. Sichtbar erblassend, murmelte er etwas wie: »Fühle mich sehr geehrt«, seine Stimme brach ab. Der Meßdiener war an solche Reaktionen gewohnt, drehte sich um und ging den Weg voran durch die riesigen, luftigen, sich schlängelnden Korridore des Tempels zu den Gemächern von Istars Königspriester.

Denubis, der hinter dem Jüngeren herschritt, brauchte sich keine Sorgen um den Grund zu machen. Natürlich ging es um die junge Frau. Er war seit gut zwei Jahren nicht mehr in der Nähe des Königspriesters gewesen, und es konnte kein Zufall sein, daß er gerade an diesem Tag, an dem er eine Verehrte Tochter sterbend in einer Gasse gefunden hatte, zu ihm gerufen wurde.

Vielleicht war sie gestorben, dachte Denubis traurig. Der Königspriester wollte ihm das nun persönlich mitteilen. Das war wirklich nett von dem Mann – vielleicht nicht gerade typisch für einen, der so gewichtige Probleme wie das Schicksal von Nationen im Kopf hatte, aber wirklich nett.

Er hoffte, daß sie nicht gestorben war. Nicht nur um ihretwillen, sondern um des Menschen und des Kenders willen. Denubis hatte auch über sie nachgedacht, insbesondere über den Kender. Wie fast alle Bewohner Krynns hielt Denubis nicht viel von Kendern, die Regeln und persönlichem Eigentum gegenüber keinen Respekt hegten. Aber dieser Kender schien anders zu sein. Viele Kender, die Denubis kannte, wären beim ersten Anzeichen von Ärger davongelaufen. Dieser war mit rührender Treue bei seinem dicken Freund geblieben und hatte sich sogar für ihn eingesetzt.

Denubis schüttelte traurig den Kopf. Wenn das Mädchen tot war, würden sie... Nein, er konnte nicht daran denken. Ein aufrichtiges Gebet zu Paladin murmelnd, das alle Beteiligten, wenn sie es wert waren, beschützen sollte, riß Denubis sich von seinen bedrückenden Gedanken los und zwang sich, die Pracht der privaten Gemächer des Königspriesters im Tempel zu bewundern.

Er hatte die Schönheit vergessen, die milchigen weißen Wände, die in sanftem Licht glänzten, das – so lautete die Legende – von den Steinen selbst erzeugt wurde. In ihnen verliefen blasse hellblaue Adern, die das strenge und harte Weiß glätteten.

Der herrliche Korridor ging in die Schönheit der Vorkammer über. Hier stiegen die Wände zur Stützung der Kuppel nach oben wie das Gebet eines Sterblichen, das zu den Göttern emporsteigt. Fresken der Götter waren darauf in hellen Farben gemalt. Auch sie schienen in ihrem eigenen Licht zu glühen – Paladin, der Platindrache und Gott des Guten; Gilean, der Gott der Schriften; selbst die Königin der Finsternis war hier vertreten – denn der Königspriester wollte keinen Gott beleidigen. Sie war als fünfkopfiger Drache dargestellt, aber es war ein so demütiger und harmloser Drache, daß sich Denubis fragte, warum sie sich nicht hinüberwälzte und Paladins Fuß leckte.

Aber dies fiel ihm erst später ein. Gerade jetzt war er zu nervös, um die wundervollen Gemälde zu betrachten. Sein Blick war starr auf die sorgfältig geschmiedeten Platintüren gerichtet, die zum Herz des Tempels führten.

Die Türen öffneten sich und strahlten ein prachtvolles Licht aus. Die Zeit seiner Audienz war gekommen.

Die Empfangshalle vermittelte den Ankömmlingen zuerst ein Gefühl der eigenen Demut und Bescheidenheit. Dies war das Herz des Guten. Hier wurden die Pracht und die Macht der Kirche repräsentiert. Die Türen führten zu einem großen kreisförmigen Saal mit einem Boden aus poliertem weißen Granit. Der Boden setzte sich nach oben hin in die Wände fort, die die Blätter einer riesigen Rose bildeten, sich himmelwärts erhoben und eine große Kuppel stützten. Die Kuppel selbst bestand aus Kristall, das den Glanz der Sonne und der Monde in sich aufnahm. Ihre strahlende Helligkeit füllte jeden Teil des Saales.

Eine riesige gewölbte Welle in Meerschaumblau zog sich von der Mitte des Bodens in eine Nische, die sich gegenüber der Tür befand. Hier stand ein einzelner Thron. Strahlender als das Licht, das von der Kuppel herabströmte, waren das Licht und die Wärme, die sich von diesem Thron ergossen.

Denubis betrat den Saal mit gebeugtem Haupt und mit gefalteten Händen, wie es angemessen war. Es war Abend, und die Sonne war bereits untergegangen. Der Saal, den Denubis betrat, war von Kerzen beleuchtet. Dennoch hatte Denubis wie immer den Eindruck, daß er in einen sonnenüberfluteten offenen Hof trat.

Tatsächlich waren seine Augen kurz von der Helligkeit geblendet. Seinen Blick vorschriftsmäßig gesenkt, bis ihm die Erlaubnis erteilt wurde, ihn zu heben, erhaschte er kurze Eindrücke vom Boden, von den Gegenständen und den im Saal Anwesenden. Er sah die Stühle, denen er sich näherte.

»Hebe deine Augen, Verehrter Sohn Paladins«, ertönte eine Stimme, deren musikalischer Klang Tränen in Denubis’ Augen trieb.

Denubis sah auf, und seine Seele erbebte ehrfürchtig. Vor zwei Jahren war er dem Königspriester so nahe gewesen, und die Zeit hatte sein Gedächtnis getrübt. Wie beglückend es doch war, ihn jeden Morgen zu sehen, wie man die Sonne sieht, die am Horizont erscheint, vor ihm zu stehen und die Seele von der Reinheit und Klarheit seines Glanzes brennen zu spüren.

Dieses Mal werde ich es mir merken, dachte Denubis streng. Aber niemand, der von einer Audienz bei dem Königspriester kam, konnte sich genau erinnern, wie er aussah. Schon der Versuch schien wie eine Gotteslästerung – als ob der Gedanke, daß auch er aus bloßem Fleisch bestehe, eine Entweihung gewesen wäre. Man konnte sich nur noch erinnern, daß man sich in der Gegenwart einer unglaublich schönen Person befunden hatte.

Die Aura von Licht umgab Denubis, und unverzüglich wurde er von den schrecklichsten Schuldgefühlen wegen seiner Zweifel und Befürchtungen und Fragen zerrissen. Er sah sich als die erbärmlichste Kreatur auf Krynn an. Er fiel auf die Knie, bat um Vergebung, war sich fast nicht bewußt, was er tat, und wußte nur, daß es das einzig Richtige war.

Und ihm wurde Vergebung gewährt. Die melodische Stimme ertönte wieder, und Denubis war sofort von einem Gefühl des Friedens und der Ruhe erfüllt. Er erhob sich, trat dem Königspriester in ehrfürchtiger Bescheidenheit gegenüber und bat zu erfahren, wie er ihm dienen könnte.

»Du brachtest heute morgen eine junge Frau, eine Verehrte Tochter Paladins, in den Tempel«, sagte die Stimme, »und wir verstehen, daß du besorgst um sie bist – was nur natürlich ist. Wir dachten, es würde dich beruhigen zu erfahren, daß es ihr gut geht und sie sich von ihren Qualen völlig erholt hat. Es dürfte dich auch erleichtern, Denubis, geliebter Sohn Paladins, zu wissen, daß sie körperlich unversehrt war.«

Denubis dankte Paladin für die Genesung der jungen Frau und bereitete sich gerade vor, zurückzutreten und sich einige Augenblicke in dem prachtvollen Licht aufzuhalten, als er die ganze Tragweite der Worte des Königspriesters erfaßte. »Sie... sie wurde nicht angegriffen?« stammelte er.

»Nein, mein Sohn«, erscholl die Stimme. »Paladin hatte in seiner unendlichen Weisheit ihre Seele zu sich genommen, und ich konnte ihn in vielen langen Stunden des Gebets bewegen, uns diesen Schatz zurückzugeben, da sie verfrüht aus ihrem Körper gerissen wurde. Die junge Frau findet nun Ruhe in einem lebenspendenden Schlaf.«

»Aber die Male an ihrem Gesicht?« erhob Denubis verwirrt Einspruch. »Das Blut...«

»Es gab keine Male...«, unterbrach ihn der Königspriester mild, aber mit einer Spur von Tadel. »Ich sagte dir, sie war körperlich unversehrt.«

»Ich bin erfreut, daß ich mich geirrt habe«, antwortete Denubis aufrichtig. »Um so mehr, als es bedeutet, daß der verhaftete Mann unschuldig ist, wie er behauptet hat, und jetzt freigelassen werden kann.«

»Ich bin dankbar, Verehrter Sohn, zu wissen, daß kein menschliches Wesen ein so furchtbares Verbrechen begangen hat, wie anfangs befürchtet wurde. Doch wer unter uns ist wirklich unschuldig?«

Die melodische Stimme hielt inne und schien auf eine Antwort zu warten. Und die Antworten kamen. Der Kleriker hörte murmelnde Stimmen die richtige Antwort geben, und Denubis wurde sich zum ersten Mal bewußt, daß sich neben dem Thron noch andere Personen befanden. So stark war der Einfluß des Königspriesters, daß Denubis überzeugt gewesen war, mit dem Mann allein zu sein.

Denubis murmelte mit den anderen die Antwort auf diese Frage und wußte plötzlich, ohne daß man es ihm gesagt hatte, daß er aus der erhabenen Gegenwart des Königspriesters entlassen war. Das Licht strahlte nicht mehr auf ihn, sondern hatte sich einem anderen zugewandt. Er hatte das Gefühl, aus der hellen Sonne in den Schatten getreten zu sein, und taumelte halbblind zu den Stühlen. Hier war er in der Lage, Atem zu holen, sich zu entspannen und sich umzuschauen.

Der Königspriester, von Licht umgeben, saß an einem Ende. Die Gestalten um ihn waren die Oberhäupter der verschiedenen Orden – die Verehrten Söhne und Verehrten Töchter. Als die »Hände und Füße der Sonne« bezeichnet, waren sie es, die sich um die alltäglichen Angelegenheiten der Kirche kümmerten. Sie waren es, die über Krynn herrschten. Aber außer den hohen Kirchenbeamten waren hier auch noch andere vertreten. Denubis’ Blick wurde in eine Ecke des Saales gezogen, die einzige Ecke, so schien es, die in Schatten getaucht war.

Dort saß eine schwarzgekleidete Gestalt.

Die Erkenntnis, daß dem Schwarzen, wie Fistandantilus am Hof genannt wurde, der Eintritt in die Empfangshalle des Königspriesters erlaubt war, traf Denubis wie ein Schock. Der Königspriester versuchte, die Welt vom Bösen zu befreien, dennoch weilte es hier – an seinem Hof! Und dann hatte Denubis einen tröstenden Gedanken: Wenn die Welt von dem Bösen völlig befreit war, wenn der letzte Menschenfresser ausgelöscht war, dann würde Fistandantilus wohl auch stürzen.

Aber noch während er dies dachte und darüber lächelte, sah Denubis, wie sich die glitzernden Augen des Magiers auf ihn richteten. Denubis erzitterte und sah eilig weg. Was für ein Gegensatz bestand zwischen diesem Mann und dem Königspriester! Wenn Denubis sich im Licht des Königspriesters sonnte, fühlte er sich von Ruhe und Frieden erfüllt. Wenn er jedoch in die Augen von Fistandantilus sah, wurde er zwangsläufig an seine eigene Dunkelheit erinnert.

Und unter dem Blick dieser Augen fragte er sich plötzlich, was der Königspriester mit der seltsamen Bemerkung: »Wer von uns ist wirklich unschuldig?« gemeint haben konnte.

Mit einem unbehaglichen Gefühl ging Denubis in die Vorkammer, wo ein gigantischer Bankettisch stand.

Der Duft köstlicher exotischer Speisen, von frommen Pilgern aus ganz Ansalon herbeigebracht oder auf den großen, weit entfernten Stadtmärkten wie Xak Tsaroth gekauft, erinnerte Denubis daran, daß er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Er nahm sich einen Teller, betrachtete das herrliche Essen und wählte Verschiedenes aus, bis sein Teller gefüllt war.

Ein Diener brachte runde Becher mit wohlriechendem Elfenwein. Er nahm sich einen Becher, und mit dem Teller in der einen Hand und dem Becher in der anderen jonglierend, sank er auf einen Stuhl und begann herzhaft zu essen. Er genoß gerade die himmlische Kombination von einem Mundvoll gebratenen Fasans und dem nachklingenden Geschmack des Elfenweins, als ein Schatten auf seinen Teller fiel.

Denubis sah auf, würgte und schlang den Rest Fasan hinunter, tupfte den Wein ab, den er in seiner Verlegenheit über sein Kinn gegossen hatte.

»V...Verehrter Sohn«, stotterte er und machte einen schwachen Versuch, sich in einer respektvollen Geste zu erheben, die das Oberhaupt der Bruderschaft verdiente.

Quarat musterte ihn mit sardonischem Vergnügen und winkte träge mit einer Hand ab. »Bitte, Verehrter Sohn, laß dich nicht von mir stören. Ich habe nicht die Absicht, dich beim Abendessen zu unterbrechen. Ich wollte mich nur mit dir unterhalten. Vielleicht wenn du fertig bist...«

»Fast... fast fertig«, unterbrach Denubis hastig und überreichte seinen halbvollen Teller und das Glas einem vorbeigehenden Diener. »Ich bin wohl nicht so hungrig, wie ich dachte.« Das war zumindest wahr. Ihm war der Appetit völlig vergangen.

Quarat lächelte zart. Sein schmales Elfengesicht mit den feingeschnittenen Zügen schien aus zerbrechlichem Porzellan zu bestehen. »Dann komm mit mir, Verehrter Sohn. Es ist schon lange her, seitdem wir uns unterhalten haben.« Er nahm Denubis’ Arm mit einer lässigen Vertrautheit – obgleich es Monate her war, daß der Kleriker seinen Vorgesetzten zum letzten Mal gesehen hatte.

Zuerst der Königspriester, jetzt Quarat. Denubis spürte einen kalten Klumpen im Magen. Als Quarat ihn aus dem Empfangssaal führte, erhob sich die melodische Stimme des Königspriesters. Denubis warf einen Blick zurück und sonnte sich noch einen Augenblick in diesem wundersamen Licht. Als er sich dann mit einem Seufzer umdrehte, blieb sein Blick auf dem schwarzgekleideten Magier ruhen. Fistandantilus lächelte und nickte. Schaudernd begleitete Denubis Quarat eilig aus der Tür.

Die zwei Kleriker gingen durch prächtig dekorierte Korridore, bis sie eine kleine Kammer erreichten, Quarats Kammer. Auch sie war im Inneren prächtig geschmückt.

»Nimm bitte Platz, Denubis. Ich darf dich ruhig so nennen, da wir nun ganz gemütlich unter uns sind.«

Denubis wußte nicht, ob es gemütlich war, aber sicherlich waren sie unter sich. Er saß auf dem Rand eines Stuhls, den Quarat ihm angeboten hatte, nahm ein kleines Glas Likör an, das er aber nicht trank, und wartete. Quarat sprach kurz über Nichtigkeiten, fragte Denubis nach seiner Arbeit – er übersetzte Passagen der Scheiben der Mishakal in seine eigene Sprache Solamnisch – und erwähnte andere Themen, an denen er offensichtlich keineswegs interessiert war.

Nach einer Pause sagte Quarat beiläufig: »Ich konnte nicht umhin zu hören, daß du den Königspriester in Frage gestellt hast.«

Denubis setzte seinen Likör auf einen Tisch ab, seine Hand zitterte so stark, daß er ihn beinahe verschüttet hätte. »Ich... ich war... einfach besorgt... um den jungen Mann... der irrtümlicherweise verhaftet wurde«, stammelte er schwach.

Quarat nickte ernst. »Sehr richtig. Sehr angemessen. Es steht geschrieben, daß wir um unsere Mitbürger auf dieser Welt besorgt sein sollen. Es geziemt sich für dich, Denubis, und ich werde es sicherlich in meinem Jahresbericht erwähnen.«

»Ich danke dir, Verehrter Sohn«, murmelte Denubis, nicht sicher, was er sonst hätte antworten sollen.

Quarat schwieg eine Weile und musterte den ihm gegenübersitzenden Kleriker mit seinen leicht schrägen Elfenaugen.

Denubis fuhr mit dem Ärmel seiner Robe über sein Gesicht. Es war unglaublich heiß im Zimmer. Elfen hatten ein dünnes Blut.

»Gab es sonst noch etwas?« fragte Quarat mild.

Denubis holte tief Luft. »Herr«, sagte er aufrichtig, »dieser junge Mann, wird er freigelassen? Und der Kender? Ich dachte, ich könnte vielleicht von Hilfe sein, sie wieder auf den Pfad des Guten zurückzuführen. Da der junge Mann unschuldig ist...«

»Wer von uns ist wirklich unschuldig?« unterbrach ihn Quarat und sah zur Decke, als ob die Götter persönlich dort die Antwort für ihn aufschrieben.

»Das ist gewiß eine sehr gute Frage«, sagte Denubis demütig, »und sie ist zweifellos des Studiums und der Diskussion wert, aber dieser junge Mann ist offensichtlich unschuldig – zumindest so unschuldig, wie er es wahrscheinlich auch in anderen Dingen ist...« Denubis stockte leicht verwirrt.

Quarat lächelte traurig. »Ah, du verstehst«, sagte er und wandte seinen Blick dem Kleriker zu. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete wieder die Decke. »Die zwei werden morgen auf dem Sklavenmarkt verkauft.«

Denubis erhob sich halb. »Was? Herr...«

Quarats Blick heftete sich unverzüglich auf den Kleriker, ließ ihn in seiner Bewegung erstarren. »In Frage stellen? Schon wieder?«

»Aber... er ist unschuldig!« war alles, was Denubis hervorbringen konnte.

Quarat lächelte wieder, dieses Mal gelangweilt, nachsichtig. »Du bist ein guter Mann, Denubis. Ein guter Mann, ein guter Kleriker. Ein einfacher Mann vielleicht, aber ein guter. Dies war keine Entscheidung, bei der wir es uns einfach gemacht haben. Wir haben den Mann verhört. Sein Bericht darüber, woher er kommt und was er hier in Istar macht, ist verwirrend. Wenn er bezüglich der Verletzungen des Mädchens unschuldig ist, dann hat er zweifellos andere Verbrechen auf dem Gewissen, die seine Seele quälen. So viel steht in seinem Gesicht geschrieben. Er hatte kein Geld bei sich. Er ist ein Landstreicher und wendet sich wahrscheinlich der Dieberei zu, wenn er auf sich gestellt ist. Wir tun ihm einen Gefallen, wenn wir ihn einem Herrn übergeben, der sich um ihn kümmert. Im Laufe der Zeit kann er seine Freiheit verdienen, und hoffentlich wird seine Seele von der Last ihrer Schuld gereinigt werden. Was den Kender betrifft...« Quarat winkte gleichgültig ab.

»Weiß der Königspriester davon?« Denubis faßte für diese Frage seinen ganzen Mut zusammen.

Quarat seufzte, und dieses Mal sah der Kleriker eine kleine Falte der Verärgerung an der glatten Augenbraue des Elfen erscheinen. »Der Königspriester hat viel dringlichere Dinge im Kopf, Verehrter Sohn Denubis«, sagte er kalt. »Er ist so gutherzig, daß der Schmerz über das Leiden dieses Mannes ihn tagelang aufregen würde. Er hat nicht ausdrücklich gesagt, daß der Mann freigelassen werden soll, so daß wir einfach die Last dieser Entscheidung aus seinen Gedanken entfernt haben.«

Als Quarat Denubis’ Gesicht von Zweifel erfüllt sah, setzte er sich auf und musterte seinen Kleriker stirnrunzelnd. »Na schön, Denubis, wenn du es wissen mußt – es gab einige sehr seltsame Umstände hinsichtlich der Entdeckung der jungen Frau. Und es ist nicht gerade unbedeutend, daß sie, wie wir unterrichtet wurden, von dem Schwarzen in die Wege geleitet wurde.«

Denubis schluckte und sank auf seinen Stuhl zurück. Das Zimmer war nicht mehr heiß. Er zitterte. »Es ist wahr«, sagte er und fuhr mit einer Hand über sein Gesicht. »Er traf mich...«

»Ich weiß!« sagte Quarat. »Er hat es mir gesagt. Die junge Frau wird bei uns bleiben. Sie ist eine Verehrte Tochter. Sie trägt das Medaillon Paladins. Sie ist auch etwas verwirrt, aber das war zu erwarten. Ich bin sicher, du siehst ein, daß wir... diesen jungen Mann nicht einfach davonwandern lassen können. Früher hätte man ihn in ein Verlies geworfen und keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. Wir sind inzwischen aufgeklärter. Wir werden ihm ein anständiges Zuhause zur Verfügung stellen und gleichzeitig in der Lage sein, über ihn zu wachen.«

Quarat ließ es wie eine barmherzige Tat erscheinen, einen Mann in die Sklaverei zu verkaufen, dachte Denubis verwirrt. Vielleicht trifft das zu. Vielleicht irre ich mich. Wie er sagt, bin ich ein einfacher Mann. Benommen erhob er sich von seinem Stuhl. Das schwere Essen lag wie ein Pflasterstein in seinem Magen. Eine Entschuldigung murmelnd, ging er zur Tür.

Quarat erhob sich ebenfalls, in seinem Gesicht lag ein versöhnliches Lächeln. »Besuch mich wieder, Verehrter Sohn«, sagte er, an der Tür stehend. »Und fürchte dich nicht, uns zu fragen. Daraus lernen wir doch.«

Denubis nickte betäubt, dann hielt er inne. »Ich... ich habe eine weitere Frage«, sagte er zögernd. »Du hast den Schwarzen erwähnt. Was weißt du über ihn? Ich meine, warum ist er hier? Er – er macht mir Angst.«

Quarats Gesicht wurde ernst, aber er schien über diese Frage nicht verstimmt. Vielleicht war er erleichtert, daß sich Denubis einem anderen Thema zugewandt hatte. »Wer weiß schon etwas über die Wege der Zauberkundigen«, antwortete er, »außer daß ihre Wege nicht die unseren sind noch die Wege der Götter. Aus diesem Grund fühlte sich der Königspriester gezwungen, sie auf Ansalon loszuwerden, so gut es möglich war. Nun sind sie im letzten Turm der Erzmagier im Wald von Wayreth eingesperrt. Aber auch dieser wird bald verschwinden, so wie sie selbst dahinschwinden, da wir ihre Schulen geschlossen haben. Hast du von dem Fluch über den Turm von Palanthas gehört?«

Denubis nickte stumm.

»Dieser schreckliche Vorfall!« Quarat runzelte die Stirn. »Er beweist einfach, wie die Götter diesen Zauberer verflucht und in den Wahnsinn getrieben haben, der sich an den Toren aufgespießt, den Zorn der Götter heraufbeschworen und den Turm für alle Ewigkeit verschlossen hat, wie wir vermuten. Aber worüber haben wir uns unterhalten?«

»Fistandantilus«, murmelte Denubis, dem es jetzt leid tat, das Thema aufgebracht zu haben. Er wollte nur noch in sein Zimmer zurück und sein Magenpulver einnehmen.

Quarat zog seine fedrigen Augenbrauen hoch. »Alles, was ich über ihn weiß, ist, daß er schon hier war, als ich vor einigen hundert Jahren kam. Er ist alt – älter sogar als viele Elfen, denn es gibt nur wenige unter den Ältesten meiner Rasse, die sich an eine Zeit erinnern können, als sein Name nicht geflüstert wurde. Aber er ist ein Mensch und muß folglich seine magischen Künste benutzen, um sein Leben zu verlängern. Wie er das macht, wage ich mir nicht vorzustellen.« Quarat sah Denubis aufmerksam an. »Jetzt verstehst du natürlich, warum der Königspriester ihn am Hof läßt?«

»Er fürchtet ihn?« fragte Denubis unschuldig.

Quarats Porzellanlächeln wurde zuerst starr, dann war es das Lächeln eines Vaters, der einem dummen Kind eine einfache Angelegenheit erklärt. »Nein, Verehrter Sohn«, sagte er geduldig. »Fistandantilus ist von großem Nutzen für uns. Wer kennt die Welt besser? Er hat sie kreuz und quer bereist. Er kennt die Sprachen, die Sitten, die Legenden jeder Rasse auf Krynn. Sein Wissen ist gewaltig. Er ist für den Königspriester von Nutzen, und darum erlauben wir ihm, hier zu bleiben, anstatt ihn nach Wayreth zu verbannen, so wie es seinen Kollegen geschehen ist.«

Denubis nickte, »Ich verstehe«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Und... und jetzt muß ich gehen. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, Verehrter Sohn, und für die Klärung meiner Zweifel. Ich fühle mich jetzt viel besser.«

»Ich freue mich, daß ich dir helfen konnte«, sagte Quarat. »Mögen dir die Götter einen friedlichen Schlaf gewähren.«

»Und dir auch«, murmelte Denubis, dann ging er und schloß mit Erleichterung die Tür hinter sich.

Er hastete an der Empfangshalle des Königspriesters vorbei. Licht kam unter der Tür hervor, der Klang der süßen melodischen Stimme berührte ihn, als er vorbeiging, aber er widerstand der Versuchung stehenzubleiben. Sich nach dem Frieden seines ruhigen Zimmers sehnend, ging er schnell durch den Tempel. Andere Kleriker gingen mit geflüsterten Abendgrüßen an ihm vorbei.

Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, erreichte Denubis sein kleines Zimmer und öffnete die Tür. Da hielt er inne. Aus den Augenwinkeln erhaschte er eine Bewegung, einen dunklen Schatten in einem noch dunkleren Schatten. Er starrte aufmerksam in den Korridor. Da war nichts. Er war leer.

Ich werde alt. Meine Augen spielen mir Streiche, sagte sich Denubis und schüttelte müde den Kopf. Er trat in das Zimmer, schloß die Tür hinter sich und griff nach seinem Magenpulver.

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