17

Nachdem Caramon einen Plan geschmiedet hatte, schlief er erschöpft ein. Er erwachte mit einem Schreck, als sich Raag über ihn beugte und seine Ketten aufbrach.

»Was ist damit?« fragte Caramon und hob seine gefesselten Handgelenke.

Raag schüttelte den Kopf. Obwohl Arak nicht wirklich glaubte, daß Caramon so dumm sein würde zu versuchen, den Oger unbewaffnet zu überwältigen, hatte der Zwerg in der Nacht zuvor in den Augen des Mannes genügend Wahnsinn gesehen, um kein Risiko einzugehen.

Caramon seufzte. Er hatte tatsächlich die Möglichkeit in Erwägung gezogen, so wie viele andere in der vergangenen Nacht, sie dann aber verworfen. Das Wichtigste war, am Leben zu bleiben – zumindest bis er sichergestellt hatte, daß Raistlin tot war. Danach spielte alles keine Rolle mehr...

Arme Tika... Sie würde warten und warten, bis sie eines Tages mit der Erkenntnis erwachen würde, daß er niemals nach Hause zurückkehrte.

»Beweg dich!« grunzte Raag.

Caramon erhob sich, folgte dem Oger die feuchten Treppen hinauf, die zu den Lagerräumen unter der Arena führten. Er schüttelte den Kopf und verdrängte alle Gedanken an Tika. Sie konnten seinen Entschluß schwächen, und das konnte er sich nicht leisten. Raistlin mußte sterben. Es war, als ob der Blitz in der vergangenen Nacht einen Teil in Caramons Gehirn erleuchtet hätte, der seit Jahren in Dunkelheit gelegen hatte. Endlich hatte Caramon das wahre Ausmaß von seines Bruders Ehrgeiz erkannt, seine Gier nach Macht. Endlich konnte Caramon aufhören, ihn zu entschuldigen. Es ärgerte ihn, aber er mußte zugeben, daß selbst der Dunkelelf Dalamar Raistlin weit besser kannte als er, sein Zwillingsbruder. Liebe hatte ihn geblendet, und sie hatte offensichtlich auch Crysania geblendet. Caramon fiel ein Spruch von Tanis ein: »Ich habe niemals erlebt, daß aus Liebe etwas Böses entsteht.« Er schnaufte verächtlich. Nun, für alles gab es das erste Mal – das war ein Lieblingsspruch von Flint gewesen. Ein erstes Mal... und ein letztes Mal.

Aber wie er seinen Bruder töten sollte, wußte Caramon nicht. Er machte sich keine Sorgen darüber. In seinem Inneren empfand er ein seltsames Gefühl des Friedens. Er dachte mit einer Klarheit, die ihn verblüffte. Er wußte, daß er die Tat ausführen konnte. Raistlin würde dieses Mal nicht in der Lage sein, ihn aufzuhalten. Der Zeitreisezauber würde die ganze Konzentration des Magiers in Anspruch nehmen. Das einzige, was Caramon möglicherweise aufhalten konnte, war der Tod selbst.

Und darum sagte sich Caramon grimmig: »Ich muß leben.«

Er stand ganz still da, ohne einen Muskel zu bewegen oder ein Wort zu sprechen, als Arak und Raag sich abmühten, ihm seine Rüstung anzulegen.

»Mir gefällt das nicht«, brummte der Zwerg mehr als einmal, während sie Caramon ankleideten. Der ruhige Ausdruck des großen Mannes beunruhigte den Zwerg mehr, als wenn er sich wie ein rasender Bulle aufgeführt hätte. Das einzige Mal nahm Arak ein Aufflackern von Leben in Caramons gleichmütigem Gesicht wahr, als er das Kurzschwert an seinen Gürtel schnallte. Der große Mann warf einen Blick darauf. Arak sah ihn bitter lächeln.

»Behalte ihn im Auge«, befahl Arak, und Raag nickte. »Und halte ihn von den anderen fern, bis er in die Arena geht.«

Raag nickte wieder, dann führte er Caramon mit gefesselten Händen zu dem Korridor unter der Arena, wo die anderen warteten. Kiiri und Pheragas sahen kurz zu Caramon hin, als er eintrat. Kiiris Lippen kräuselten sich, und sie wandte sich kühl ab. Caramon begegnete Pheragas’ Blick unerschütterlich, seine Augen bettelten nicht. Damit hatte Pheragas offensichtlich nicht gerechnet. Zuerst schien der schwarze Mann verwirrt zu sein, dann, nach einigen geflüsterten Worten von Kiiri, wandte auch er sich ab. Aber Caramon sah, wie er den Kopf schüttelte.

Aus der Menge erscholl ein Aufbrüllen, und Caramon hob den Blick zu den Tribünen. Es war fast Mittag, die Spiele begannen pünktlich um Mittwacht. Die Sonne strahlte am Himmel, die Menge war zahlreich und guter Laune. Einige einleitende Kämpfe sollten ihren Appetit anheizen und die Spannung erhöhen. Aber die eigentliche Attraktion war der Endkampf, aus dem der Sieger hervorgehen würde: der Sklave, der seine Freiheit gewinnen würde, oder der Rote Minotaurus, der genug Reichtum erlangen würde, um Jahre davon leben zu können.

Arak machte die ersten Kämpfe leicht, sogar komisch. Für diese hatte er einige Gossenzwerge importiert. Er gab ihnen echte Waffen, von denen sie natürlich keine Ahnung hatten, wie sie zu verwenden waren, und schickte sie in die Arena. Die Zuschauer jubelten vor Entzücken, lachten, bis ihnen beim Anblick der Gossenzwerge die Tränen kamen. Die Zwerge stolperten über ihre Schwerter oder drehten sich um und liefen kreischend aus der Arena.

Die Menge spendete Beifall, aber bald begannen viele ungeduldig mit den Füßen zu stampfen und verlangten nach der nächsten Attraktion. Bald schaukelten die Tribünen hin und her, als die Menge klatschte und stampfte und sang.

Und darum spürte niemand in der Menge das erste Beben.

Caramon spürte es, und sein Magen schlingerte, als der Boden unter seinen Füßen zitterte. Ihm war eiskalt vor Angst – nicht vor Angst zu sterben, sondern daß er sterben könnte, ohne seine Aufgabe erledigt zu haben. Er sah beunruhigt zum Himmel hoch, versuchte sich an jede Legende zu erinnern, die er über die Umwälzung gehört hatte. Sie war am frühen Nachmittag erfolgt, glaubte er sich zu erinnern. Aber es hatte Erdbeben, Vulkanausbrüche, entsetzliche Naturkatastrophen jeder Art auf ganz Krynn gegeben, noch bevor das feurige Gebirge die Stadt Istar so tief in den Erdboden schmetterte, daß das Meer sie überfluten und in sich aufnehmen konnte.

Lebhaft sah Caramon die Trümmer dieser verdammten Stadt vor sich, wie er sie gesehen hatte, nachdem ihr Schiff vom Mahlstrom verschluckt worden war, der nun als das Blutmeer von Istar bekannt war. Die Meerelfen hatten sie damals gerettet, aber für diese Leute würde es keine Rettung geben. Seine Seele schauderte vor Entsetzen, und ihm wurde klar, daß er diesen fürchterlichen Anblick die ganze Zeit über verdrängt hatte.

Er hatte niemals wirklich geglaubt, daß das eintreten würde, und er zitterte vor Angst, als der Boden erbebte. Mir bleiben nur noch Stunden, vielleicht nicht einmal so viel, dachte er. Ich muß hier heraus! Ich muß Raistlin erreichen!

Dann beruhigte er sich. Raistlin erwartete ihn. Raistlin brauchte ihn, oder zumindest brauchte er einen geübten Kämpfer. Raistlin würde sicherstellen, daß ihm genügend Zeit blieb – Zeit, um zu gewinnen und zu ihm zu gelangen. Oder Zeit, um zu verlieren und ersetzt zu werden.

Aber er empfand große Erleichterung, als das Beben aufhörte. Dann erhob sich Araks Stimme, die mitten aus der Arena ertönte und den Endkampf ankündigte.

»Einst kämpften sie als Mannschaft, und wie ihr wißt, war es die beste, die wir seit vielen Jahren erlebt haben. Viele Male habt ihr gesehen, wie die Mitglieder ihr Leben riskierten, um ein anderes zu retten. Sie waren wie Brüder« – Caramon zuckte dabei zusammen —, »aber jetzt sind sie erbitterte Feinde. Denn wenn es um Freiheit, um Reichtum geht und darum, dieses größte aller Spiele zu gewinnen, da muß die Liebe in der hintersten Reihe sitzen. Sie geben ihr Bestes, dessen könnt ihr sicher sein. Dies ist ein Kampf um Leben und Tod zwischen Kiiri, der Sirene, Pheragas aus Ergod, Caramon, dem Sieger, und dem Roten Minotaurus. Sie werden diese Arena nicht verlassen, es sei denn, mit ihren Füßen zuerst!«

Die Menge jubelte. Obgleich sie wußte, daß es sich nur um eine Imitation handelte, bildete sie sich gern ein, daß es echt war. Der Jubel wurde lauter, als der Rote Minotaurus auftrat, sein Tiergesicht wie immer geringschätzig. Kiiri und Pheragas warfen ihm einen Blick zu, der dann zu seinem Dreizack wanderte, dann sahen sie sich an. Kiiris Hand schloß sich fest um ihren Dolch.

Caramon spürte wieder den Boden erbeben. Dann rief Arak seinen Namen auf. Es war Zeit – das Spiel begann.

Tolpan spürte die ersten Erschütterungen und dachte, es wäre nur seine Einbildung, eine Reaktion auf den schrecklichen Zorn, der über sie rollte. Aber die Vorhänge bewegten sich, und er erkannte, daß es keine Einbildung war...

»Aktiviere das Gerät!« ertönte eine Stimme in Tolpans Gehirn. Seine Hände zitterten, er sah auf den Anhänger und wiederholte die Anweisung.

»›Deine Zeit gehört dir allein‹, mal sehen. Ich richte die Vorderseite auf mich. Genau. ›Auch wenn du quer durch sie reist.‹ Ich bewege diese Platte von rechts nach links. ›Ihre Maße siehst du‹ – die hintere Platte geht nach unten und bildet zwei Scheiben, die mit Stangen verbunden sind... Es funktioniert!« In höchster Aufregung fuhr Tolpan fort: »›Durch die Ewigkeit wirbeln‹, drehe an der auf mich gerichteten Spitze von unten gegen den Uhrzeigersinn. ›Hemme nicht ihren Verlaufs überzeuge dich, daß die Kette des Anhängers frei hängt. Ja, das ist richtig. Und jetzt: ›Ergreife fest das Ende und den Anfang.‹ Halte die Scheiben an beiden Enden fest. ›Drehe sie um sich selbst‹, nämlich so, und ›alles, was verloren ist, wird in Sicherheit sein‹. Die Kette wird sich selbst in das Gerät wickeln! Ist das nicht wunderbar! Sie macht es wirklich! Nun, ›das Schicksal wird über deinem Kopf sein‹. Ich halte es über meinen Kopf und – oh, etwas stimmt nicht! Ich glaube nicht, daß so etwas geschehen sollte...«

Ein winziges juwelenbesetztes Stück fiel vom Gerät und traf Tolpan an der Nase. Dann fiel noch ein Stück und noch eins, bis der verwirrte Kender in einem regelrechten Regen aus kleinen juwelenbesetzten Stücken stand.

Tolpan erschrak über das Gerät, das er immer noch über dem Kopf hielt. Hektisch drehte er wieder an den Enden. Diesmal wurde aus dem Juwelenregen ein richtiger Schauer, der mit hellen glockenähnlichen Klängen auf den Boden aufschlug.

Tolpan war sich nicht sicher, aber er glaubte nicht, daß es so sein sollte. Trotzdem konnte man es nicht wissen, insbesondere wenn es sich um Spielzeuge von Zauberern handelte. Er beobachtete es, hielt den Atem an und wartete auf das Licht...

Der Boden sprang plötzlich unter seinen Füßen hoch und schleuderte ihn durch die Vorhänge, und er blieb vor den Füßen des Königspriesters ausgestreckt liegen. Aber der Mann bemerkte den im Gesicht aschgrauen Kender nicht. Der Königspriester starrte in erhabener Unbesorgtheit über ihn hinweg, beobachtete mit distanzierter Neugierde, wie sich die Vorhänge wie Wellen kräuselten und sich plötzlich winzige Risse durch den Marmoraltar zogen. Sich selbst überzeugt zulächelnd, daß die Götter ihre Einwilligung auf diese Weise kundtaten, wandte sich der Königspriester von dem zerbröckelnden Altar ab und schritt zurück zum mittleren Gang, an den bebenden Bänken vorbei und in den Hauptbereich des Tempels.

»Nein!« stöhnte Tolpan und klapperte mit dem Gerät. In diesem Moment lösten sich die Stangen, die beide Enden des Zepters verbanden, und lagen in seinen Händen. Die Kette glitt durch seine Finger. Langsam und fast genauso zitternd wie der Boden, auf dem er lag, rappelte sich Tolpan hoch. In der Hand hielt er die zerbrochenen Teile des magischen Geräts.

»Was habe ich getan?« plärrte Tolpan. »Ich habe Raistlins Anweisungen genau befolgt. Dessen bin ich mir sicher! Ich...«

Und plötzlich wußte der Kender Bescheid. Die glitzernden, zerbrochenen Teile verschwammen vor seinen tränennassen Augen. »Er war so nett zu mir«, murmelte Tolpan. »Er ließ mich die Anweisungen dauernd wiederholen – ›um sicherzustellen, daß du sie behältst‹, hat er gesagt.« Tolpan schloß die Augen und hoffte, daß alles nur ein böser Traum sei.

Aber dem war nicht so, als er sie wieder öffnete.

»Ich habe es richtig gemacht. Er wollte, daß ich es zerstöre!« wimmerte Tolpan. »Warum? Damit wir hier alle in der Vergangenheit stranden? Damit wir hier alle sterben? Nein! Er will Crysania, so sagten sie, die Magier im Turm. Das ist es!« Tolpan wirbelte herum. »Crysania!«

Aber die Klerikerin hörte und sah ihn nicht. Geradeaus starrend, reglos, obwohl der Boden unter ihren Knien erbebte, glühten Crysanias graue Augen in einem unheimlichen inneren Licht. Ihre Hände, immer noch wie im Gebet gefaltet, waren so fest ineinander verklammert, daß die Finger dunkelrot und die Knöchel weiß angelaufen waren. Ihre Lippen bewegten sich. Betete sie?

Tolpan kroch hinter die Vorhänge, sammelte schnell die winzigen, juwelenbesetzten Teile des Gerätes auf, ergriff die Kette, die beinahe durch einen Spalt im Boden verschwunden wäre, stopfte alles in einen Beutel und verschloß ihn. Er warf einen letzten Blick auf den Boden, dann kroch er in die Geweihte Kammer zurück.

»Crysania«, flüsterte er. Es war ihm äußerst unangenehm, ihr Gebet zu stören, aber die Angelegenheit war zu dringlich.

»Crysania«, wiederholte er, ging zu ihr und stellte sich vor sie hin, da sie offensichtlich nicht einmal seine Existenz wahrnahm. Er beobachtete sie und las ihre ungesprochenen Äußerungen von ihren Lippen ab.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich kenne seinen Fehler! Vielleicht werden die Götter mir gewähren, was sie ihm versagt haben!« Sie holte tief Luft, dann neigte sie den Kopf. »Paladin, ich danke dir! Ich danke dir!« Tolpan hörte sie inbrünstig sprechen. Dann erhob sie sich schnell. Sie sah mit Verblüffung auf die Gegenstände im Raum, die sich in einem tödlichen Tanz bewegten; ihr Blick flackerte über den Kender hinweg, ohne ihn zu sehen.

»Crysania!« rief Tolpan, und dieses Mal klammerte er sich an ihre weißen Roben. »Crysania, ich habe es zerstört! Unseren einzigen Weg zurück! Ich habe einmal eine Kugel der Drachen zerstört! Aber das geschah mit Absicht! Dieses Gerät hier wollte ich wirklich nicht zerstören! Aber Caramon! Du mußt mir helfen! Komm mit mir, sprich mit Raistlin, er soll es reparieren!«

Die Klerikerin starrte erstaunt auf Tolpan hinab, als wäre er ein Fremder auf der Straße, der sie angesprochen hatte. »Raistlin!« murmelte sie und nahm sanft, aber bestimmt die Hände des Kenders von ihren Roben. »Natürlich! Er hat versucht, es mir zu sagen, aber ich wollte nicht zuhören! Und jetzt verstehe ich, jetzt weiß ich die Wahrheit!«

Crysania schob Tolpan von sich weg, raffte ihre fließenden weißen Roben, eilte durch die Bänke und lief den mittleren Gang entlang, ohne einen Blick zurückzuwerfen, während der Tempel in seinen Grundfesten erbebte.

Erst als Caramon die Stufen betrat, die hinaus zur Arena führten, entfernte Raag endlich die Fesseln von den Handgelenken des Gladiators. Eine Grimasse ziehend und seine Finger spreizend, folgte Caramon Kiiri, Pheragas und dem Roten Minotaurus in die Mitte der Arena. Die Zuschauer jubelten. Caramon nahm seinen Platz zwischen Kiiri und Pheragas ein und sah nervös zum Himmel. Es war Mittwacht, die Sonne begann ihren langsamen Abstieg.

Istar würde den Sonnenuntergang nicht mehr erleben.

Daran dachte Caramon und auch, daß er selbst niemals wieder die roten Sonnenstrahlen im Meer erlöschen oder in den Kronen der Vallenholzbäume leuchten sehen würde, und er spürte Tränen in den Augen brennen. Er weinte nicht so sehr um sich, sondern um die beiden, die neben ihm standen und an diesem Tag sterben würden, und um all die Unschuldigen, die umkommen würden, ohne den Grund zu verstehen.

Er weinte auch um seinen Bruder, den er geliebt hatte, aber seine Tränen für Raistlin galten einer Person, die vor langer Zeit gestorben war.

»Kiiri, Pheragas«, sagte Caramon mit leiser Stimme, als der Minotaurus nach vorne stolzierte, um sich zu verbeugen, »ich weiß nicht, was der Magier euch erzählt hat, aber ich habe euch niemals verraten.«

Kiiri weigerte sich, ihn anzusehen. Er sah ihre Lippen sich kräuseln. Pheragas blickte aus einem Augenwinkel zu ihm her, sah das tränenverschmierte Gesicht Caramons, zögerte, runzelte die Stirn und wandte sich dann ebenfalls ab.

»Es spielt wirklich keine Rolle«, fuhr Caramon fort, »ob ihr mir glaubt oder nicht. Ihr könnt einander wegen des Schlüssels umbringen, wenn ihr wollt, denn ich finde meine Freiheit auf meine Weise.«

Jetzt sah Kiiri ihn an, und ihre Augen weiteten sich zweifelnd. Die Menge hatte sich erhoben und jubelte dem Minotaurus zu, der durch die Arena schritt, seinen Dreizack über dem Kopf schwingend.

»Du bist verrückt!« flüsterte Kiiri, so laut sie konnte. Ihr Blick glitt bedeutungsvoll zu Raag. Wie immer versperrte der Oger mit seinem riesigen gelblichen Körper den einzigen Ausgang.

Caramon folgte ihrem Blick, sein Gesicht änderte nicht seinen Ausdruck.

»Unsere Waffen sind echt, mein Freund«, warf Pheragas barsch ein. »Deine nicht!«

Caramon nickte, schwieg aber.

»Tu es nicht!« Kiiri trat zu ihm. »Wir helfen dir hier in der Arena, die Sache vorzutäuschen. Ich... ich denke, wir beide haben dem Schwarzgekleideten nicht geglaubt. Du mußt zugeben, daß es komisch war, als du versuchtest, uns zu überreden, wir sollten die Stadt verlassen! Wir dachten, daß du den Preis für dich allein haben willst. Hör zu, täusche frühzeitig vor, richtig verletzt zu sein. Schlepp dich davon. Heute nacht werden wir dir helfen zu entkommen...«

»Es wird keine Nacht mehr geben«, unterbrach Caramon sie leise. »Nicht für mich, nicht für einen von uns. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich kann es nicht erklären. Ich bitte nur darum – versucht nicht, mich aufzuhalten.«

Pheragas holte Luft, aber die Worte erstarben auf seinen Lippen, als ein weiteres, heftigeres Beben den Boden erschütterte.

Jetzt bemerkte es jeder. Die Arena schwankte auf ihren Pfeilern, die Brücken über den Totengruben knirschten, der Boden hob und senkte sich, warf den Roten Minotaurus fast um. Kiiri bekam Caramon zu fassen. Pheragas versteifte seine Beine wie ein Matrose an Bord eines stampfenden Schiffes. Die Zuschauer in den Tribünen verstummten plötzlich, während ihre Sitze unter ihnen schwankten. Einige schrien, als sie das Holz krachen hörten. Andere erhoben sich sogar. Aber das Beben hörte genauso schnell auf, wie es begonnen hatte.

Alles war nun ruhig, zu ruhig. Caramon spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten und seine Haut prickelte. Kein Vogel sang, nicht einmal ein Hund bellte. Die Menge schwieg, wartete ängstlich. Ich muß hier heraus, dachte Caramon. Seine Freunde spielten keine Rolle mehr, nichts spielte eine Rolle. Er hatte nur ein festes Ziel – er mußte Raistlin aufhalten.

Und er mußte unverzüglich handeln, bevor das nächste Beben einsetzte. Caramon sah sich schnell um. Raag stand am Ausgang, das gelbe fleckige Gesicht des Ogers wirkte verwirrt, sein langsames Gehirn versuchte zu verstehen, was vor sich ging. Arak erschien plötzlich an seiner Seite und sah sich um, wahrscheinlich in der Hoffnung, nicht gezwungen zu sein, den Zuschauern ihr Geld zurückzugeben. Diese begannen sich wieder zu beruhigen, obwohl viele sich unbehaglich umschauten.

Caramon holte tief Luft, dann nahm er Kiiri in seine Arme, hob sie mit seiner ganzen Kraft hoch und schleuderte die erschreckte Frau auf Pheragas, so daß beide zu Boden stürzten.

Als er sie stürzen sah, wirbelte Caramon herum, warf sich auf den Oger und trieb seine Schulter in Raags Magen mit der ganzen Kraft, die er in monatelangem Training gesammelt hatte. Für einen Mensch wäre dieser Schlag tödlich gewesen, aber er riß den Oger nur um.

Verzweifelt versuchte Raag, nach Luft zu schnappen, während Caramon die Keule des Ogers packte. Aber als er sie gerade Raags Griff entrissen hatte, erholte sich der Oger. Vor Wut aufheulend, schlug er seine Füße auf Caramons Kinn mit einer Kraft, die den großen Krieger zurück in die Arena fliegen ließ.

Caramon prallte hart auf dem Boden auf. Von dem Schlag benommen, gewannen seine Kriegerinstinkte jedoch die Oberhand. Er nahm zu seiner Linken eine Bewegung wahr und warf sich zur Seite, gerade als der Dreizack des Minotaurus an der Stelle heruntersauste, wo sein Schwertarm gelegen hatte. Er konnte den Minotaurus in bestialischer Wut knurren und schnaufen hören.

Caramon stand mühsam auf und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen, wußte aber, daß keine Hoffnung bestand, dem zweiten Streich des Minotaurus zu entkommen. Aber plötzlich tauchte ein schwarzer Körper zwischen ihm und dem Roten Minotaurus auf. Stahl blitzte auf, als Pheragas’ Schwert den Stoß des Dreizacks aufhielt, der Caramon ein Ende bereitet hätte. Taumelnd trat Caramon zurück, um Atem zu holen, und spürte Kiiris kühle Hände, die ihn stützten.

»Bist du in Ordnung?« murmelte sie.

»Eine Waffe!« rief Caramon; sein Kopf dröhnte noch vom Schlag des Ogers.

»Nimm meine«, antwortete Kiiri und gab ihm ihr Kurzschwert. »Ruh dich aus. Ich kümmere mich um Raag.«

Der Oger, vor Wut kochend und im Kampfrausch, raste auf sie zu.

»Nein! Du brauchst sie...«, widersprach Caramon, aber Kiiri grinste ihn nur an.

»Paß auf!« sagte sie gleichmütig, dann sprach sie seltsame Worte, die Caramon an die Sprache der Magie erinnerten.

Und plötzlich war Kiiri verschwunden. An ihrer Stelle stand eine riesige Bärin. Caramon stöhnte auf, einen Augenblick unfähig zu begreifen, was geschehen war. Dann erinnerte er sich – Kiiri war eine Sirene, mit der Gabe gesegnet, ihre Gestalt zu verändern!

Sich auf den Hinterbeinen aufrichtend, ragte die Bärin über den Oger. Raag blieb stehen, seine Augen weiteten sich beunruhigt. Kiiri brüllte vor Zorn, ihre scharfen Zähne blitzten auf. Das Sonnenlicht spiegelte sich in ihren Klauen, als eine ihrer Riesenpranken zuschlug und über Raags fleckiges Gesicht fuhr. Der Oger heulte vor Schmerz auf, gelbliches Blut sickerte aus den Klauenspuren. Die Bärin sprang den Oger an.

Die Menge, die zu Beginn vor Entzücken gegrölt hatte, wurde sich plötzlich bewußt, daß dieser Kampf keine Imitation war. Dies hier war echt. Leute sollten sterben. Kurz herrschte schockiertes Schweigen, dann jubelte hier und dort jemand auf. Bald war der Beifall ohrenbetäubend.

Caramon jedoch vergaß schnell die Zuschauer auf den Tribünen. Er sah seine Chance. Jetzt blockierte nur noch der Zwerg den Ausgang, und Araks Gesicht war vor Zorn und Angst verzerrt. Caramon konnte mühelos an ihm vorbeikommen...

Doch da hörte er den Minotaurus grunzen. Caramon drehte sich um und sah, daß Pheragas vor Schmerzen in sich zusammensackte, das untere Ende des Dreizacks stak in seiner Magengrube. Der Minotaurus zog den Dreizack heraus und hob ihn zum Töten, aber Caramon schrie laut auf und hielt den Minotaurus so von dem Hieb ab.

Der Minotaurus wandte sich der neuen Herausforderung zu; ein Grinsen lag auf seinem rotem Fellgesicht. Als er Caramon nur mit einem Kurzschwert bewaffnet sah, wurde das Grinsen des Minotaurus noch breiter. Er sprang auf Caramon zu, wollte den Kampf schnell beenden. Aber Caramon trat geschickt zur Seite. Er hob einen Fuß, stieß zu und schlug gegen die Kniescheibe des Minotaurus. Es war ein lähmender Schlag, der den Minotaurus zu Boden stürzen ließ.

Da sein Feind zumindest einige Augenblicke außer Gefecht gesetzt war, eilte Caramon zu Pheragas. Der schwarze Mann krümmte sich auf dem Boden und hielt seinen Bauch umklammert.

»Hallo«, brummte Caramon und legte den Arm um ihn. »Ich habe gesehen, daß du einen Schlag abbekommen hast. Wie geht es dir?«

Aber es kam keine Antwort. Der Körper des Mannes zuckte krampfhaft, und die glänzende schwarze Haut war schweißnaß. Dann sah Caramon drei blutende Wunden, die der Dreizack geschlagen hatte...

Pheragas sah zu seinem Freund hoch. An Caramons entsetztem Blick erkannte er, daß er verstand. Von dem Gift zuckend, das durch seine Adern jagte, lag Pheragas da. »Nimm... nimm mein Schwert.« Pheragas würgte. »Schnell, du Narr!« Caramon zögerte nur eine Sekunde, dann nahm er das lange Schwert aus Pheragas’ zitternder Hand. Pheragas wand sich vor Schmerzen.

Das Schwert umklammernd, von Tränen blind, erhob sich Caramon, wirbelte herum und parierte den überraschenden Hieb des Minotaurus. Obwohl er auf einem Bein hinkte, war die Kraft des Minotaurus so gewaltig, daß er die schmerzhafte Verletzung mühelos ausgleichen konnte. Außerdem wußte er, daß er seinem Opfer nur einen Kratzer zufügen mußte, damit es starb. Und Caramon mußte in Reichweite des Dreizacks kommen, um sein Schwert überhaupt benutzen zu können.

Langsam pirschten die zwei aufeinander zu, umkreisten sich immer wieder. Caramon hörte nicht länger das wilde Stampfen, Pfeifen und Jubeln der erregten Menge angesichts des echten Blutes. Er dachte nicht mehr an Flucht, er hatte nicht einmal eine Ahnung, wo er sich befand. Seine Kriegerinstinkte hatten die Herrschaft übernommen. Er wußte nur eins. Er mußte töten.

Und so wartete er. Pheragas hatte ihn gelehrt, daß Minotaurier einem großen Irrtum unterlagen. Da sie sich allen anderen Rassen überlegen fühlten, unterschätzten sie im allgemeinen ihren Gegner. Und wenn man abwartete, machten sie Fehler. Der Minotaurus bildete keine Ausnahme. Seine Gedanken wanren Caramon klar ersichtlich – Schmerz und Wut, Zorn über die Beleidigung und die Gier, das Leben dieses dummen erbärmlichen Menschen zu beenden.

Die zwei kamen immer näher zu der Stelle, wo Kiiri in eine wilde Schlacht mit Raag verwickelt war, wie Caramon dem Knurren und Kreischen des Ogers entnehmen konnte. Plötzlich rutschte Caramon in einer Pfütze gelben schleimigen Blutes aus. Der Minotaurus heulte vor Freude auf und sprang vor, um Caramon mit dem Dreizack aufzuspießen.

Aber das Ausrutschen war nur gespielt gewesen. Caramons Schwert blitzte im Sonnenlicht auf. Der Minotaurus erkannte, daß er genarrt worden war. Aber er hatte sein verletztes Knie vergessen. Es konnte sein Gewicht nicht tragen, und er stürzte zu Boden. Caramons Schwert schnitt in den Tierkopf.

Als Caramon sein Schwert herausriß, hörte er ein entsetzliches Knurren hinter sich, drehte sich rechtzeitig um und sah, wie sich der riesige Kiefer der Bärin in Raags breiten Nacken grub. Kiiri biß tief in die Drosselvene. Der Mund des Ogers öffnete sich weit zu einem Schrei, den er niemals ausstoßen sollte.

Caramon hastete auf sie zu, als er zu seiner Rechten eine Bewegung wahrnahm. Er drehte sich schnell um, und Arak schoß an ihm vorbei. Das Gesicht des Zwergs war eine häßliche Maske der Trauer und der Wut. Caramon sah den Dolch in der Hand des Zwergs aufblitzen und eilte nach vorn, aber es war zu spät. Er konnte die Klinge nicht mehr aufhalten, die in die Brust der Bärin stieß. Rotes, warmes Blut spritzte über die Hand des Zwergs. Die riesige Bärin brüllte vor Schmerz und Zorn auf. Mit ihrer letzten zuckenden Kraft ergriff sie den Zwerg, hob ihn hoch und schleuderte ihn über die Arena. Der Körper des Zwergs prallte gegen den Freiheitsturm, an dem der Goldene Schlüssel hing, und wurde an einem der verzierten Vorsprünge aufgespießt. Der Zwerg gab ein furchterregendes Kreischen von sich, dann stürzte er in die flammenden Gruben.

Kiiri fiel zu Boden, Blut strömte aus der klaffenden Wunde in ihrer Brust. Die Menge schrie Caramons Namen. Der große Mann hörte es nicht. Er beugte sich hinunter und nahm Kiiri in seine Arme. Der Zauber löste sich auf. Die Bärin war verschwunden, und er hielt Kiiri an seiner Brust.

»Du hast gewonnen, Kiiri«, flüsterte Caramon. »Du bist frei.«

Kiiri sah zu ihm auf und lächelte. Dann weiteten sich ihre Augen, das Leben verschwand aus ihnen. Ihr Blick blieb zum Himmel gerichtet, fast erwartungsvoll, als ob sie wüßte, was nun geschehen würde.

Behutsam legte er ihren Körper auf den blutdurchtränkten Boden und erhob sich. Er sah Pheragas’ Körper in qualvollen Todeskrämpfen erstarren. »Dafür wirst du büßen, mein Bruder«, flüsterte er.

Hinter seinem Rücken hörte er ein vielstimmiges Murmeln. Grimmig drehte sich Caramon um, bereit, dem nächsten Feind gegenüberzutreten. Aber es war kein Feind, es waren die anderen Gladiatoren. Beim Anblick von Caramons blutbeflecktem Gesicht traten sie nacheinander zur Seite, um ihm den Weg freizumachen.

Als Caramon sie musterte, begriff er, daß er endlich frei war. Frei, seinen Bruder zu finden, frei, diesem Bösen für immer ein Ende zu bereiten. Seine Seele schwang sich empor. Der Tod machte ihm keine Angst mehr.

Nach Rache lechzend, lief Caramon zum Rand der Arena, bereit, die Stufen hinabzugehen, die zu dem unterirdischen Korridor führten, als das erste der Erdbeben die dem Untergang geweihte Stadt Istar erschütterte.

Загрузка...