15

Es erforderte Caramons ganze Kraft und die der zwei Tempelwachen, um die großen Tore des Tempels zu öffnen und ihn in den Sturm hinauszulassen. Der Wind peitschte mit voller Gewalt auf ihn ein, trieb den großen Mann zurück gegen die Steinmauer, hielt ihn dort fest, als wäre er nicht kräftiger als Tolpan. Als die Kraft des Sturmes nachgab, konnte er die Stufen hinuntergehen.

Die Bewohner Istars kauerten in ihren Häusern, die Götter abwechselnd verfluchend oder anrufend. Der gelegentliche Passant, dem er begegnete, klebte an der Wand eines Gebäudes oder stand in einer Türöffnung.

Aber Caramon schleppte sich mühsam weiter, eifrig bedacht, in die Arena zurückzukehren. Sein Herz war von Hoffnung erfüllt, seine Stimmung trotz des Sturmes gut. Jetzt endlich würden Kiiri und Pheragas zuhören, anstatt ihm kalte Blicke zuzuwerfen wie vor kurzem, als er sie zu überreden versuchte, aus Istar zu fliehen.

»Ich kann euch nicht sagen, wieso ich es weiß, ich weiß es einfach!« hatte er gerufen. »Ein großes Unglück wird kommen. Ich kann es förmlich riechen!«

»Willst du den letzten Kampf verpassen?« fragte Kiiri kühl.

»Sie werden ihn bei diesem Wetter nicht abhalten!« Caramon winkte ab.

»So ein heftiger Sturm hält sich nicht lange!« warf Pheragas ein. »Er wird sich schon austoben, und dann haben wir einen wunderschönen Tag. Außerdem« – seine Augen verengten sich – »was willst du ohne uns in der Arena machen?«

»Nun, allein kämpfen, wenn es sein muß«, sagte Caramon. Er plante, dann schon längst verschwunden zu sein – er und Tolpan, Crysania und vielleicht...

»Wenn es sein muß...«, wiederholte Kiiri in einem seltsamen Ton und tauschte mit Pheragas Blicke. »Danke, daß du an uns denkst, Freund«, sagte sie mit einem vernichtenden Blick auf Caramons Eisenband, das Band, das auch sie trug, »oder keinen Dank. Unser Leben wäre verwirkt – entflohene Sklaven! Wie lange, glaubst du wohl, würden wir das überleben?«

»Es spielt keine Rolle, nicht nach... nach...« Caramon seufzte und schüttelte den Kopf. Was konnte er ihnen sagen? Wie konnte er sie dazu bringen, ihn zu verstehen? Aber sie hatten ihm keine Gelegenheit gegeben. Sie waren, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hinausgegangen und hatten ihn allein im Speisesaal zurückgelassen.

Aber jetzt würden sie bestimmt zuhören! Sie würden begreifen, daß es kein gewöhnlicher Sturm war. Würden sie genügend Zeit haben, um sicher zu entkommen? Caramon runzelte die Stirn und wünschte sich zum ersten Mal, daß er den Büchern mehr Beachtung geschenkt hätte. Er hatte keine Ahnung, welche Ausmaße die verheerende Wirkung des stürzenden feurigen Gebirges erreichen würde. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht war es bereits zu spät.

Nun, er hatte es immerhin versucht, sagte er sich, während er durch das Wasser stapfte. Um die Notlage seiner Freunde zu vergessen, zwang er sich zu erfreulicheren Gedanken. Bald würde er von diesem schrecklichen Ort verschwunden sein. Bald würde das alles nur wie ein böser Traum sein.

Er würde wieder zu Hause bei Tika sein. Vielleicht mit Raistlin. »Ich werde unser neues Haus fertigstellen«, sagte er. Ein Bild kam ihm. Er konnte sich in ihrem neuen Haus am Feuer sitzen sehen. Tikas Kopf ruhte in seinem Schoß. Er erzählte ihr die Abenteuer, die sie erlebt hatten. Raistlin würde sich an den Abenden zu ihnen gesellen: lesend, studierend, in weiße Roben gekleidet... »Tika wird kein Wort glauben«, sagte sich Caramon. »Aber es spielt keine Rolle. Sie wird wieder den Mann haben, in den sie sich damals verliebt hat. Und dieses Mal werde ich sie nicht verlassen, für nichts auf der Welt!« Er seufzte, spürte ihre krausen roten Locken an seinen Fingern, sah sie im Feuerschein glänzen.

Diese Gedanken trugen Caramon durch den Sturm zur Arena. Er zog den Klotz in der Mauer hervor, der von allen Gladiatoren für ihre nächtlichen Streifzüge benutzt wurde. Natürlich war niemand in der Arena. Alle Übungsstunden waren gestrichen worden. Alle verfluchten das schlechte Wetter und schlossen Wetten ab, ob sie am nächsten Tag kämpfen würden oder nicht.

Arak war in einer Laune, die fast genauso übel war wie das Wetter. Er zählte immer wieder die Goldstücke nach, die aus seinen Fingern gleiten würden, wenn er den Endkampf rückgängig machen mußte – das Sportereignis des Jahres in Istar. Er versuchte sich mit dem Gedanken aufzumuntern, daß er ihm gutes Wetter versprochen hatte.

Von seinem Aussichtspunkt, einem Fenster im Turm der Arena, sah er Caramon durch die Steinmauer kriechen. »Raag!« Er machte eine Handbewegung. Raag sah hinunter, nickte verstehend, ergriff die riesige Keule und wartete auf den Zwerg, der seine Rechnungsbücher zur Seite legte.

Caramon eilte zu der Zelle, die er mit dem Kender teilte, begierig, ihm von Crysania und Raistlin zu berichten. Aber er fand den kleinen Raum leer vor.

»Tolpan?« fragte er und sah sich um, um sicherzugehen, daß er ihn nicht im Schatten übersehen hatte. Ein Blitz beleuchtete den Raum heller als das Tageslicht. Es gab kein Zeichen von dem Kender.

»Tolpan, komm hervor! Wir haben keine Zeit für Spiele!« befahl Caramon streng. Tolpan hatte ihn einmal zu Tode erschreckt, indem er sich unter dem Bett versteckt hatte und dann hervorgesprungen war, als Caramon sich umgedreht hatte. Der große Mann zündete eine Fackel an, legte sich brummend auf den Boden und leuchtete mit der Fackel unter das Bett. Kein Tolpan.

»Ich hoffe, daß dieser kleine Narr nicht versucht hat, bei diesem Sturm hinauszugehen!« murmelte Caramon. Seine Verärgerung verwandelte sich in plötzliche Sorge. »Er könnte zurück nach Solace geweht werden. Aber vielleicht ist er im Speisesaal und wartet auf mich. Vielleicht ist er bei Kiiri und Pheragas. Das ist es! Ich nehme einfach das Gerät und geselle mich zu ihnen...«

Im Selbstgespräch ging Caramon zu der kleinen Holzkommode, in der er seine Rüstung aufbewahrte. Er öffnete sie und nahm sein verziertes goldenes Kostüm heraus. Er betrachtete es verächtlich, dann warf er es auf den Boden. »Zumindest brauche ich dieses Zeug nicht mehr zu tragen«, sagte er dankbar. »Obwohl – es wäre lustig, Tikas Reaktion zu sehen, wenn ich es anziehe! Würde sie nicht lachen?« Fröhlich pfeifend nahm er alles aus der Kommode und stemmte mit der Spitze eines zusammenklappbaren Dolches den falschen Boden hoch, den er eingebaut hatte. Das Pfeifen erstarb auf seinen Lippen. Die Kommode war leer.

Hektisch suchte Caramon überall in der Kommode nach, obgleich es unwahrscheinlich war, daß ein Anhänger – größer war das magische Gerät nicht – durch eine Ritze fallen könnte. Sein Herz schlug heftig vor Angst, als er sich aufrappelte, mit der Fackel in jede Ecke leuchtete und mehr als einmal unter die Betten sah. Er riß sogar seine Matratze auf und wollte sich gerade an der Tolpans zu schaffen machen, als ihm etwas auffiel.

Nicht nur der Kender war verschwunden, sondern auch seine Beutel, seine gesamten geliebten Besitztümer. Und auch sein Umhang. Und dann war ihm alles klar. Tolpan hatte das Gerät genommen.

Aber warum?

Tolpan hatte Raistlin gesehen – das hatte er Caramon mitgeteilt. Aber was hatte Tolpan dort gemacht? Warum hatte er Raistlin aufgesucht? Caramon erkannte plötzlich, daß der Kender in der Unterhaltung geschickt von diesem Punkt abgelenkt hatte.

Er stöhnte auf. Der neugierige Kender hatte ihn natürlich über das Gerät ausgefragt, aber Tolpan schien immer mit Caramons Antworten zufrieden gewesen zu sein. Caramon hatte gelegentlich nachgeprüft, ob es noch da war – so wie man es gewohnheitsgemäß tat, wenn man mit einem Kender zusammenlebte.

Aber vielleicht hatte Raistlin Tolpan dazu gebracht, es ihm zu bringen! Wenn das Gerät erst einmal in seinem Besitz war, konnte Raistlin sie zwingen, mit ihm zu gehen. War das die ganze Zeit sein Plan gewesen? Hatte er Tolpan überlistet und Crysania getäuscht? Caramons Gedanken stolperten verwirrt in seinem Kopf herum.

»Ich muß Tolpan finden! Ich muß ihn aufhalten!« sagte er laut.

Fieberhaft ergriff der große Mann seinen durchnäßten Umhang. Er wollte gerade aus der Tür, als ein riesiger dunkler Schatten ihm den Weg versperrte.

»Geh mir aus den Weg, Raag«, knurrte Caramon, in seiner Aufregung völlig vergessend, wo er sich befand.

Raag erinnerte ihn sofort daran; seine Riesenpranke schloß sich um Caramons breite Schulter. »Wohin, Sklave?«

Caramon versuchte, den Griff des Ogers abzuschütteln, aber Raags Hand verstärkte einfach den Druck. Etwas knirschte, und Caramon schrie vor Schmerz auf.

»Verletz ihn nicht, Raag«, ertönte eine Stimme. »Er muß morgen kämpfen. Und was wichtiger ist, er muß gewinnen!«

Raag schob Caramon genauso mühelos wie ein Erwachsener, der ein Kind spielerisch schubst, in die Zelle zurück. Der große Krieger taumelte und fiel hart auf den Steinboden.

»Du bist heute sicherlich beschäftigt«, sagte Arak im Unterhaltungston, betrat die Zelle und ließ sich auf das Bett plumpsen.

Caramon richtete sich auf und rieb seine verletzte Schulter. Er warf Raag schnell einen Blick zu, der immer noch in der Tür stand und sie blockierte.

Arak sprach weiter. »Du warst bereits bei diesem schlechten Wetter draußen, und jetzt willst du wieder gehen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das kann ich nicht zulassen. Du könntest dich erkälten...«

»He«, sagte Caramon, grinste schwach und leckte seine trockenen Lippen, »ich wollte nur in den Speisesaal gehen, um nach Tolpan zu sehen...« Er zuckte unfreiwillig zusammen, als draußen ein Blitz explodierte. Es krachte, und dann roch es plötzlich nach brennendem Holz.

»Vergiß es. Der Kender ist gegangen«, sagte Arak schulterzuckend, »und mir scheint, für immer – er hat sein ganzes Zeug gepackt.«

Caramon schluckte. »Laß mich dann auch gehen, ich muß ihn finden...«, begann er.

Araks Grinsen verzerrte sich bösartig. »Dieser kleine Bastard interessiert mich überhaupt nicht! Ich habe das Geld, das ich für ihn ausgegeben habe, durch die Sachen, die er für mich gestohlen hat, zurückerhalten. Aber du – in dich habe ich investiert. Dein Fluchtplan ist gescheitert, Sklave.«

»Flucht?« Caramon lachte auf. »Du verstehst nicht...«

»Ich verstehe nicht?« knurrte Arak. »Ich verstehe nicht, daß du versuchst, meine zwei besten Kämpfer zum Gehen zu bewegen? Daß du versuchst, mich zu ruinieren?« Die Stimme des Zwergs steigerte sich zu einem schrillen Kreischen, das lauter als der heulende Wind war. »Wer hat dich dazu angestiftet? Dein Herr war es nicht, also lüg mich nicht an. Er hat mich hier besucht.«

»Raist – äh – Fist...Fistandantil...«, stammelte Caramon.

Der Zwerg lächelte selbstgefällig. »Ja. Fistandantilus wies mich darauf hin, daß du so etwas versuchen würdest. Sagte, ich solle sorgfältig auf dich aufpassen. Er hat sogar die angemessene Bestrafung für dich vorgeschlagen. Der letzte Kampf morgen wird nicht zwischen deiner Mannschaft und dem Roten Minotaurus stattfinden. Du wirst gegen Kiiri und Pheragas und den Minotaurus kämpfen!« Er lehnte sich vor und grinste Caramon höhnisch an. »Und ihre Waffen werden echt sein!«

Caramon starrte Arak verständnislos an. »Warum?« murmelte er düster. »Warum will er mich töten?«

»Dich töten?« Der Zwerg kicherte. »Er will dich nicht töten! Er ist überzeugt, daß du gewinnen wirst! ›Es ist eine Prüfung‹, hat er zu mir gesagt. ›Ich will keinen Sklaven, der nicht der Beste ist! Und dieser Kampf wird es beweisen. Caramon hat gezeigt, wie er gegen den Barbaren vorgegangen ist. Das war seine erste Prüfung. Laß uns diese Prüfung noch schwerer machen‹, sagte er. Oh, du hast schon einen außergewöhnlichen Herrn!«

Der Zwerg kicherte, schlug sich bei diesem Gedanken auf die Knie, und selbst Raag gab ein Grunzen von sich, das wohl ein Zeichen seines Vergnügens darstellte.

»Ich werde nicht kämpfen«, sagte Caramon. Sein Gesicht verhärtete sich. »Töte mich! Ich werde nicht gegen meine Freunde kämpfen. Und sie werden nicht gegen mich kämpfen!«

»Er hat gesagt, daß du so reagieren würdest!« Der Zwerg grölte. »Stimmt das nicht, Raag? Die gleichen Worte. Beim Elch, er kennt dich! Man könnte denken, ihr seid Zwillinge! ›Also‹, sagte er zu mir, ›wenn er sich zu kämpfen weigert, und das wird er, dann sag ihm, daß seine Freunde an seiner Stelle kämpfen werden, und es wird der Minotaurus sein, der die echten Waffen trägt.‹«

Caramon erinnerte sich lebhaft an den jungen Mann, der sich im Todeskampf auf dem Steinboden gekrümmt hatte, als das Gift vom Dreizack des Minotaurus durch seinen Körper geströmt war.

»Was deine Freunde betrifft, die gegen dich kämpfen«, höhnte der Zwerg, »um die hat sich Fistandantilus auch gekümmert. Nachdem er mit ihnen geredet hat, denke ich, sind sie richtig erpicht, in der Arena gegen dich aufzutreten!«

Caramon ließ den Kopf sinken. Er begann zu zittern. Die ungeheuerliche Bösartigkeit seines Bruders überwältigte ihn, Verzweiflung erfüllte sein Bewußtsein.

Raistlin hatte alle getäuscht, Crysania, Tolpan, ihn selbst! Es war Raistlin, der ihn den Barbaren töten ließ! Er hatte ihn angelogen! Und er hatte auch Crysania angelogen. Er war unfähig, sie zu lieben. Er benutzte sie! Und Tolpan? Caramon schloß die Augen. Er erinnerte sich an Raistlins Worte: »Kender können den Verlauf der Zeit verändern...« Tolpan stellte eine Gefahr dar, eine Bedrohung! Er hatte nun keinen Zweifel mehr, wohin Tolpan gegangen war...

Der Wind heulte, aber nicht so laut wie der Schmerz und die Qual in Caramons Seele. Dem großen Krieger wurde übel. Er sah nicht Araks Geste, noch fühlte er Raags riesige Hände, die ihn ergriffen. Er spürte nicht einmal die Stricke an seinen Handgelenken ...

Erst später, als das Gefühl der Übelkeit verschwand, nahm er seine Umgebung wieder wahr. Er befand sich in einer winzigen, fensterlosen, unterirdischen Zelle, wahrscheinlich unter der Arena. Raag hatte eine Kette an das Eisenband um seinen Hals gebunden und diese Kette an einem Ring in der Steinmauer befestigt. Dann überprüfte der Oger die Lederschnüre, mit denen Caramons Handgelenke gefesselt waren.

»Nicht zu fest«, hörte Caramon die warnende Stimme des Zwergs, »er muß morgen kämpfen...«

Aus der Höhe ertönte ein Donnergrollen. Bei diesem Geräusch sah Caramon hoffnungsvoll auf. Wir können bei diesem Wetter nicht kämpfen...

Der Zwerg grinste, als er Raag zur Tür folgte. Da bemerkte er Caramons Blick. »Oh, nebenbei bemerkt, Fistandantilus hat gesagt, daß morgen ein wunderschöner Tag sein wird. Ein Tag, an den sich jeder auf Krynn lange erinnern wird...«

Die Tür wurde zugeschlagen und verschlossen.

Caramon saß allein in der feuchten Dunkelheit. Niemand war da, den er um Rat fragen konnte, niemand war da, um für ihn Entscheidungen zu treffen. Und dann erkannte er, daß er niemanden brauchte. Nicht für diese Entscheidung.

Jetzt verstand er den Grund, warum die Magier ihn zurückgeschickt hatten. Sie kannten die Wahrheit und wollten, daß er sie selbst erkannte. Sein Zwillingsbruder war verloren, konnte niemals bekehrt werden.

Raistlin mußte sterben.

Загрузка...