10

Denubis legte den Federhalter nieder und rieb sich die Augen. Er saß im stillen Schreibzimmer und hoffte, daß eine kurze Pause ihm helfen werde. Aber das war nicht der Fall. Als er den Federhalter ergriff, um seine Arbeit wieder aufzunehmen, verschwammen die Wörter, die er zu übersetzen versuchte, wieder zu einem bedeutungslosen Durcheinander.

Streng rügte er sich und zwang sich zur Konzentration, und schließlich begannen die Wörter einen Sinn zu ergeben. Aber es ging ihm schwer von der Hand. Sein Kopf schmerzte. Er schmerzte nun schon seit Tagen, ein dumpfer, klopfender Schmerz, der selbst in seinen Träumen gegenwärtig war.

»Es liegt an dem seltsamen Wetter«, sagte er sich ständig. »Zu warm für die Zeit vor dem Heiligen Abend.«

Es war in der Tat zu warm, seltsam warm. Und die Luft war schwer von Feuchtigkeit. Hundert Meilen entfernt vor Kattai, so hatte er gehört, lag der Ozean ruhig unter der brennenden Sonne, so ruhig, daß die Schiffe nicht segeln konnten. Sie lagen im Hafen fest, und ihre Kapitäne fluchten, ihre Ladungen verrotteten.

Denubis wischte sich über die Stirn und versuchte, fleißig weiterzuarbeiten, die Scheiben der Mishakal ins Solamnische zu übersetzen. Aber sein Geist wandelte umher. Die Worte ließen ihn an eine Geschichte denken, über die einige solamnische Ritter in der letzten Nacht gesprochen hatten – eine greuliche Geschichte, die Denubis aus seinem Gedächtnis zu bannen versuchte.

Ein Ritter namens Soth hatte eine junge Elfenklerikerin verführt und sie als seine Braut in seine Burg Dargaard gebracht. Aber dieser Soth war bereits verheiratet, so sagten die Ritter, und es gab mehr als einen Grund anzunehmen, daß seiner ersten Gattin ein schlimmes Ende zuteil geworden war.

Die Ritter hatten eine Abordnung geschickt, die Soth gefangennehmen und vor ein Gericht bringen sollte, aber Soths treue Ritter verteidigten ihren Herrrn. Das Quälendste an dieser Geschichte war, daß die Elfe, die der Lord getäuscht hatte, bei ihm blieb, standhaft in ihrer Liebe und ihrer Treue gegenüber diesem Mann, obgleich seine Schuld erwiesen war.

Denubis erschauerte und versuchte, den Gedanken zu verbannen. Da! Er hatte einen Fehler gemacht. Es war hoffnungslos! Er wollte gerade die Feder beiseite legen, als er hörte, daß sich die Tür des Schreibzimmers öffnete. Hastig nahm er den Federhalter wieder auf und begann zu schreiben.

»Denubis«, sagte eine leise Stimme Der Kleriker sah auf. »Crysania, meine Liebe«, sagte er lächelnd.

»Störe ich dich bei deiner Arbeit? Ich kann später kommen...«

»Nein, nein«, versicherte ihr Denubis. »Ich bin erfreut, dich zu sehen. Sehr erfreut.« Das stimmte wirklich. Crysania hatte eine Art an sich, die ihm das Gefühl der Ruhe und Ausgeglichenheit gab. Selbst seine Kopfschmerzen schienen in ihrer Gegenwart nachzulassen. Er fand einen Stuhl für sie und für sich, setzte sich zu ihr und fragte sich insgeheim nach dem Grund ihres Kommens.

Als ob sie seine stumme Frage beantworten wollte, sah sich Crysania in dem friedlichen Raum um und lächelte. »Mir gefällt es hier«, erklärte sie. »Es ist so still und privat.« Ihr Lächeln erstarb. »Manchmal bin ich müde von den... den vielen Leuten«, sagte sie. Ihr Blick wanderte zur Tür, die zum Hauptbereich des Tempels führte.

»Ja, es ist ruhig hier«, stimmte Denubis zu. »Auf jeden Fall jetzt. Das war nicht immer so in den vergangenen Jahren. Als ich hierherkam, wimmelte es von Schreibern, die die Worte der Götter in andere Sprachen übersetzten, so daß sie jeder verstehen konnte. Aber der Königspriester fand das nicht notwendig, und sie gingen einer nach dem anderen, fanden wichtigere Aufgaben. Außer mir.« Er seufzte. »Vermutlich bin ich zu alt«, fügte er entschuldigend hinzu. »Ich wollte etwas Wichtiges tun, aber mir fiel nichts ein. So blieb ich also. Niemand schien es zu stören... jedenfalls nicht sehr.«

Er mußte leicht die Stirn runzeln bei der Erinnerung an jene langen Gespräche mit dem Verehrten Sohn Quarat, der ihn antrieb und auf ihn einredete, etwas aus sich zu machen. Schließlich hatte der höhere Kleriker aufgegeben und Denubis gesagt, daß er ein hoffnungsloser Fall sei. So war Denubis zu seiner Arbeit zurückgekehrt, saß Tag für Tag in friedlicher Einsamkeit da, übersetzte Schriftrollen und Bücher und sandte sie nach Solamnia, wo sie ungelesen in einer großen Bibliothek aufbewahrt wurden.

»Aber genug von mir«, fügte er hinzu, als er Crysanias blasses Gesicht sah. »Was ist los, meine Liebe? Geht es dir nicht gut? Verzeih mir, aber es ist mir in diesen wenigen Wochen nicht entgangen, daß du unglücklich zu sein scheinst.«

Crysania starrte schweigend auf ihre Hände, dann blickte sie zu dem Kleriker auf. »Denubis«, begann sie zögernd, »glaubst du, daß die Kirche so ist... wie sie sein sollte?«

Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte eher das Aussehen eines jungen Mädchens, das von seinem Liebhaber getäuscht wurde. »Nun, natürlich, meine Liebe«, antwortete Denubis in einer gewissen Verwirrung.

»Wirklich?« Sie hob den Blick und sah ihm aufmerksam in die Augen. »Du arbeitest jetzt schon so lange für die Kirche. Du kennst noch die alten Zeiten. Du hast die Veränderung erlebt. Ist es besser geworden?«

Denubis spürte den forschenden Blick Crysanias, der all die dunklen Ecken, in denen er seit Jahren bewußt Dinge verborgen hielt, beleuchtete. Er fühlte sich an Fistandantilus erinnert. »Ich... nun... natürlich... es ist nur...« Er stammelte, und errötend verstummte er, als er es bemerkte. Crysania nickte ernst, als hätte sie diese Antwort erwartet.

»Nein, es ist besser geworden«, sagte er standhaft. Er wollte ihren jungen Glauben nicht verletzen, ergriff ihre Hand und lehnte sich vor. »Ich bin ein alter Mann, meine Liebe. Und alte Männer mögen Veränderungen nicht. Das ist alles. Für uns war in den alten Zeiten alles besser.« Er kicherte. »Selbst das Wasser hat besser geschmeckt. Ich kann mich nicht an die modernen Methoden gewöhnen. Es ist schwer für mich, sie zu verstehen. Die Kirche unternimmt allerhand Gutes, meine Liebe. Sie bringt Ordnung in das Land und gibt der Gesellschaft einen festen Halt...«

»Ob die Gesellschaft will oder nicht«, murmelte Crysania, aber Denubis überhörte es.

»Und sie rottet das Böse aus«, fuhr er fort. Plötzlich fiel ihm wieder die Geschichte des Ritters Soth ein.

»Ist das der Fall?« fragte ihn Crysania. »Rottet sie das Böse aus? Oder sind wir nicht wie Kinder, die in der Nacht allein gelassen werden und eine Kerze nach der anderen anzünden, um die Dunkelheit fernzuhalten? Wir erkennen nicht, daß die Dunkelheit einen Zweck erfüllt, und in unserer Angst brennen wir schließlich das Haus nieder!«

Denubis blinzelte. Er verstand überhaupt nichts mehr.

Aber Crysania sprach weiter. Es war offensichtlich, stellte Denubis unbehaglich fest, daß sie diese Gedanken seit Wochen in ihrem Inneren eingeschlossen hatte.

»Wir versuchen nicht, jenen zu helfen, die ihren Weg verloren haben. Wir kehren ihnen den Rücken zu, bezeichnen sie als unwürdig oder entledigen uns ihrer. Weißt du, daß Quarat beschlossen hat, die Ogerrasse auf der ganzen Welt auszurotten?«

»Aber, meine Liebe, Oger sind immerhin ein mörderisches Pack...«, wagte Denubis einzuwenden.

»Von den Göttern erschaffen, so wie wir auch«, unterbrach ihn Crysania. »Haben wir das Recht, etwas zu vernichten, was die Götter erschaffen haben?«

»Auch Spinnen?« warf Denubis ein, ohne nachzudenken. Als er ihren verärgerten Ausdruck sah, lächelte er. »Mach dir nichts daraus. Das Geschwafel eines alten Mannes.«

»Ich bin mit der Überzeugung hierhergekommen, daß die Kirche gut und wahr ist, und jetzt...« Sie legte den Kopf in die Hände.

Denubis streckte die Hand aus und streichelte Crysanias glattes, blauschwarzes Haar; er tröstete sie, wie er die Tochter getröstet hätte, die er niemals hatte. »Schäm dich nicht deiner Fragen, Kind«, sagte er. »Geh, sprich mit dem Königspriester. Er wird deine Fragen und Zweifel beantworten. Er verfügt über mehr Weisheit als ich.«

Crysania sah hoffnungsvoll auf. »Glaubst du...«

»Gewiß.« Denubis lächelte. »Geh heute abend zu ihm, meine Liebe. Er hält Audienz. Sei nicht ängstlich. Solche Fragen verärgern ihn nicht.«

»Sehr gut«, sagte Crysania. Ihr Gesicht war von Entschlossenheit erfüllt. »Du hast recht. Es war dumm von mir, mich damit ohne Hilfe abzuquälen. Ich werde den Königspriester fragen. Sicherlich kann er diese Dunkelheit aufhellen.«

Denubis lächelte und erhob sich, als Crysania vom Stuhl aufstand. Sie küßte ihn leicht auf die Wange. »Ich danke dir, mein Freund«, sagte sie leise. »Ich lasse dich jetzt wieder arbeiten.«

Denubis verspürte plötzlich eine unerklärliche Trauer und dann eine sehr große Angst. Es war, als ob er sich an einem Ort strahlender Helligkeit befände und zusähe, wie sie in eine unermeßliche, entsetzliche Dunkelheit ging. Das Licht um ihn wurde heller und heller, während die Dunkelheit um sie immer entsetzlicher, immer dichter wurde.

Verwirrt legte Denubis eine Hand an die Augen. Das Licht war wirklich da! Es strahlte im Zimmer und tauchte ihn in seinen Glanz. Es durchdrang sein Gehirn, der Schmerz in seinem Kopf wurde unerträglich. Und dennoch dachte er verzweifelt, daß er Crysania warnen müsse...

Das Licht verschlang ihn, erfüllte seine Seele. Und dann plötzlich war es verschwunden. Er stand wieder in dem sonnendurchfluteten Raum. Aber er war nicht allein. Blinzelnd versuchte er, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, sah sich um und erblickte einen Elf, der bei ihm im Zimmer stand und ihn kühl musterte. Der Elf war alt und kahlköpfig und hatte einen langen weißen Bart. Er war in lange weiße Roben gekleidet, das Medaillon von Paladin hing um seinen Hals. Der Elf blickte traurig, so traurig, daß Denubis zu Tränen gerührt war, obgleich ihm der Grund unklar war.

»Es tut mir leid«, sagte Denubis mit heiserer Stimme. Er legte die Hand an den Kopf und erkannte plötzlich, daß er keine Schmerzen mehr hatte. »Ich... ich hatte dich nicht eintreten sehen. Kann ich etwas für dich tun? Suchst du jemanden?«

»Nein, ich habe den gefunden, nach dem ich gesucht habe«, antwortete der Elf ruhig, aber immer noch mit dem gleichen traurigen Gesichtsausdruck, »wenn du Denubis bist.«

»Ich bin Denubis«, erwiderte der Kleriker verwirrt. »Aber verzeih mir, ich kann mich nicht erinnern...«

»Mein Name ist Loralon«, erwiderte der Elf.

Denubis keuchte. Der größte aller Elfenkleriker, Loralon, hatte vor Jahren Quarats Aufstieg zur Macht bekämpft. Aber Quarat war zu stark gewesen. Mächtige Kräfte unterstützten ihn. Loralons Worte über Versöhnung und Frieden wurden nicht geschätzt. Voll Kummer war der alte Kleriker zu seinem Volk in dem sagenumwobenen Land Silvanesti zurückgekehrt und hatte geschworen, sich niemals wieder in Istar sehen zu lassen.

Was machte er hier?

»Du suchst sicherlich den Königspriester«, stammelte Denubis. »Ich werde...«

»Nein, es gibt im Tempel nur einen, den ich suche, und das bist du, Denubis«, sagte Loralon. »Komm. Wir haben eine lange Reise vor uns.«

»Reise?« wiederholte Denubis. »Das ist unmöglich. Ich habe Istar nicht mehr verlassen, seitdem ich vor dreißig Jahren gekommen bin...«

»Komm mit, Denubis«, sagte Loralon sanft.

»Wohin? Ich verstehe nicht...«, schrie Denubis. Er sah Loralon inmitten des sonnendurchfluteten friedlichen Zimmers stehen, ihn musternd, immer noch mit dem gleichen Ausdruck tiefer, unaussprechlicher Traurigkeit. Loralon griff zu dem Medaillon, das er um den Hals trug, und berührte es.

Und dann wußte Denubis alles. Paladin vermittelte seinem Kleriker Einsichten. Er sah die Zukunft. Vor Entsetzen erblassend, schüttelte er den Kopf. »Nein«, flüsterte er. »Das ist zu fürchterlich.«

»Es ist noch nicht alles entschieden. Diese Reise ist vielleicht nur eine vorübergehende, oder sie kann eine Zeit dauern, die jenseits aller Vorstellung liegt. Komm, Denubis, hier wirst du nicht länger benötigt.« Der große Elfenkleriker steckte die Hand aus.

Denubis fühlte sich mit Frieden und Verstehen gesegnet, was er selbst in der Gegenwart des Königspriesters niemals erlebt hatte. Er neigte den Kopf und ergriff Loralons Hand. Aber als er es tat, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten...

Crysania saß in einer Ecke der prächtigen Empfangshalle des Königspriesters, ihre Hände lagen ruhig gefaltet in ihrem Schoß, ihr Gesicht war blaß, aber gelassen. Der melodischen Stimme des Königspriesters lauschend, der mit seinen Ministern wichtige Staatsangelegenheiten besprach und dann von der Politik zur Lösung großer Geheimnisse des Universums wechselte, errötete Crysania bei dem Gedanken, mit ihren kleinlichen Fragen an ihn heranzutreten.

Worte von Elistan fielen ihr ein. »Gehe nicht zu anderen, um Antworten zu erhalten. Schau in dein Herz! Du wirst entweder darin die Antwort finden oder allmählich erkennen, daß die Antwort bei den Göttern liegt und nicht im Menschen.«

Und so saß Crysania da, mit ihren Gedanken beschäftigt und ihr Herz befragend. Unglücklicherweise entzog sich ihr der Friede, den sie suchte. Vielleicht gab es keine Antworten auf ihre Fragen, entschied sie. Dann spürte sie eine Hand an ihrem Arm. Erschreckt sah sie auf.

»Es gibt Antworten auf deine Fragen, Verehrte Tochter«, ertönte eine Stimme, die ein prickelndes Gefühl durch ihre Nerven jagte, »aber du weigerst dich, sie zu hören.«

Sie kannte die Stimme, aber als sie begierig in den Schatten der Kapuze sah, konnte sie das Gesicht nicht erkennen. Ihr Blick wanderte zu der Hand an ihrer Schulter, sie dachte, diese Hand zu kennen. Schwarze Roben fielen über sie, und ihr Herz machte einen Ruck. Aber an den Roben waren keine silbernen Runen, so wie er sie trug. Wieder starrte sie in das Gesicht. Sie konnte nur das Glitzern verborgener Augen und blasse Haut erkennen... Dann löste sich die Hand von ihrer Schulter, griff nach oben und zog die Kapuze zurück.

Zuerst verspürte Crysania bittere Enttäuschung. Die Augen des jungen Mannes waren nicht golden, nicht wie Stundengläser geformt, die sein Symbol gewesen waren. Die Haut war nicht golden gefärbt, das Gesicht nicht zerbrechlich und kränklich. Das Gesicht des Mannes war blaß, wie von unermüdlichem Studieren, aber es war gesund, sogar gutaussehend, wenn man den Ausdruck ständigen bitteren Zynismusses außer Acht ließ, den er trug. Die Augen waren braun, klar und kalt wie Glas, spiegelten alles, was sie sahen, enthüllten nichts. Der Körper des Mannes war schlank, aber muskulös. Die schwarzen unverzierten Roben, die er trug, zeigten starke Schultern, nicht die gebeugte Gestalt des Magiers. Und dann lächelte der Mann, seine dünnen Lippen teilten sich leicht.

»Du bist es!« keuchte Crysania und wollte sich aus ihrem Stuhl erheben.

Der Mann legte wieder seine Hand auf ihre Schulter, mit einem sanften Druck, der sie zurückzwang. »Bitte, bleib sitzen, Verehrte Tochter«, sagte er. »Ich werde mich zu dir setzen. Es ist ruhig hier, und wir können uns, ohne gestört zu werden, unterhalten.« Er drehte sich um, machte eine anmutige Handbewegung, und ein Stuhl, der am anderen Ende der Halle gestanden hatte, stand plötzlich neben ihm.

Crysania schrie leicht auf und sah sich im Saal um. Aber falls es jemand bemerkt hatte, war er eifrig bemüht, den Magier zu übersehen. Sie bemerkte, daß Raistlin sie amüsiert musterte, und sie spürte, wie ihre Haut warm wurde. »Raistlin«, sagte sie förmlich, um ihre Verwirrung zu verdecken, »ich freue mich, dich zu sehen.«

»Und ich freue mich, dich zu sehen, Verehrte Tochter«, antwortete er mit jener höhnischen Stimme, die an ihren Nerven zerrte. »Aber mein Name ist nicht Raistlin.«

Sie starrte ihn an und errötete noch stärker. »Verzeih mir«, sagte sie und sah aufmerksam sein Gesicht an, »aber du erinnerst mich stark an eine Person, die ich kenne – einst gekannt habe.«

»Vielleicht wird dies das Geheimnis aufklären«, sagte er leise. »Mein Name lautet hier Fistandantilus.«

Crysania erbebte, die Lichter im Raum schienen sich zu verdunkeln. »Nein«, sagte sie und schüttelte leicht den Kopf, »das kann nicht sein! Du bist doch zurückgekommen... um von ihm zu lernen!«

»Ich bin zurückgekommen, um er zu werden«, erwiderte Raistlin.

»Aber... ich habe Geschichten gehört. Er ist böse, niederträchtig...« Ihr Blick war entsetzt auf ihn gerichtet.

»Das Böse existiert nicht mehr«, entgegnete Raistlin. »Er ist tot.«

»Du?« Das Wort war nur ein Flüstern.

»Er hätte mich sonst getötet, Crysania«, erklärte Raistlin schlicht, »so wie er zahllose andere getötet hat. Es ging um mein oder sein Leben.«

»Wir haben nur ein Böses gegen ein anderes ausgetauscht«, antwortete Crysania traurig. Sie wandte sich um.

Ich verliere sie! erkannte Raistlin sofort. Schweigend betrachtete er sie. Sie hatte sich auf ihrem Stuhl von ihm abgewandt. Er konnte ihr Profil sehen, rein wie Solinaris Licht. Kühl musterte er sie, so wie er die kleinen Tiere gemustert hatte, die unter sein Messer kamen, als er nach den Geheimnissen des Lebens geforscht hatte.

Raistlin erinnerte sich, wie sie bei seiner Berührung zusammengezuckt war. Er beugte sich zu ihr vor und ergriff ihr Handgelenk. Sie schreckte auf und versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Aber der war fest.

»Glaubst du das wirklich von mir?« fragte Raistlin mit der Stimme eines Mannes, der lange gelitten hat und dann herausfindet, daß alles vergeblich war. Sie versuchte zu sprechen, aber Raistlin fuhr fort: »Fistandantilus plante, in unsere Zeit zurückzukehren, mich zu zerstören, meinen Körper zu nehmen und das zu beanspruchen, was die Königin der Finsternis zurückgelassen hatte. Er plante, die bösen Drachen unter seine Kontrolle zu bringen. Die Drachenfürsten, wie meine Schwester Kitiara, hätten sich unter seiner Fahne versammelt. Die Welt wäre wieder in Krieg gestürzt worden.« Raistlin hielt inne. »Diese Gefahr ist jetzt gebannt«, fügte er sanft hinzu.

Seine Augen hielten Crysania fest, so wie seine Hand ihr Gelenk festhielt. Als sie in sie hineinsah, erblickte sie sich selbst in den spiegelgleichen Pupillen, nicht als blasse, eifrige, strenge Klerikerin, wie sie sich mehr als einmal hatte nennen hören, sondern als schöne und liebenswürdige Frau. Dieser Mann war im Vertrauen zu ihr gekommen, und sie hatte ihn im Stich gelassen. Der Schmerz in seiner Stimme war unerträglich, und Crysania versuchte wieder zu sprechen.

Aber Raistlin zog sie noch näher an sich.

»Du kennst meine Ambitionen«, sagte er. »Dir habe ich mein Herz geöffnet. Ist es mein Plan, den Krieg wieder zu entfachen? Ist es mein Plan, die Welt zu erobern? Meine Schwester Kitiara kam zu mir und bat mich darum, suchte meine Hilfe. Ich weigerte mich, und ich fürchte, du hast die Folgen tragen müssen.« Raistlin seufzte und senkte die Augen. »Ich habe ihr von dir erzählt, Crysania, von deiner Güte und deiner Kraft. Sie war zornig und schickte dir ihren toten Ritter, um dich zu vernichten, überzeugt, sie könnte auf diese Weise deinen Einfluß auf mich zunichte machen.«

»Habe ich denn Einfluß auf dich?« fragte Crysania leise; sie versuchte nicht mehr, sich Raistlins Griff zu entziehen. Ihre Stimme zitterte vor Freude. »Darf ich zu hoffen wagen, daß du die Wege der Kirche erkannt hast und...«

»Die Wege dieser Kirche?« fragte Raistlin, und seine Stimme klang wieder bitter, höhnisch. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, richtete seine schwarzen Roben und musterte Crysania mit einem spöttischen Lächeln.

Verlegenheit, Zorn und Schuldgefühl färbten Crysanias Wangen rosarot, ihre grauen Augen verdunkelten sich zu einem Tiefblau. Die Farbe ihrer Wangen breitete sich auf ihre Lippen aus, und plötzlich war sie wunderschön, eine Tatsache, die Raistlin, ohne es zu wollen, auffiel. Der Gedanke ärgerte ihn über alle Maßen, denn er drohte seine Konzentration zu stören. Wütend schob er ihn beiseite.

»Ich kenne deine Zweifel, Crysania«, fuhr er plötzlich fort. »Ich weiß, was du gesehen hast. Du hast herausgefunden, daß die Kirche eher damit beschäftigt ist, die Welt in Gang zu halten als die Wege der Götter zu lehren. Du hast gesehen, daß ihre Kleriker betrügen, sich in Politik einmischen, Geld verschwenden, mit dem man die Armen ernähren könnte. Du dachtest daran, die Kirche in Schutz zu nehmen, als du hierher gekommen bist. Du versuchtest... vielleicht Zauberkundigen die Schuld zu geben.«

Crysanias Röte vertiefte sich, sie konnte ihn nicht ansehen und wandte das Gesicht ab, aber ihr Schmerz und ihre Erniedrigung waren offenkundig.

Raistlin fuhr gnadenlos fort: »Die Zeit der Umwälzung naht. Die wahren Kleriker haben bereits das Land verlassen... Wußtest du das nicht? Dein Freund Denubis ist auch verschwunden.

Du, Crysania, bist die einzig wahre Klerikerin hier im ganzen Land.«

Crysania starrte Raistlin schockiert an. »Das... ist unmöglich«, flüsterte sie. Ihre Augen wanderten durch die Halle. Und sie konnte zum ersten Mal die Gespräche der kleinen Gruppen hören, die sich weit weg vom Königspriester versammelt hatten. Sie hörte Gespräche über die Spiele, Streitereien über die Verteilung öffentlicher Gelder, Erörterungen der besten Methoden, ein aufrührerisches Land unter Kontrolle zu bringen – alles im Namen der Kirche.

Und dann, wie um die anderen, groben Stimmen zu übertönen, erklang die melodische Stimme des Königspriesters in ihrer Seele und beruhigte ihren verwirrten Geist. Der Königspriester war noch da. Sich von der Dunkelheit abwendend, sah sie zu seinem Licht hin und spürte ihren Glauben in ihrem Inneren stark und rein aufsteigen. Kühl sah sie wieder Raistlin an. »Es gibt immer noch Gutes auf der Welt«, sagte sie streng. Sie erhob sich und machte sich zum Gehen bereit. »Solange dieser heilige Mann herrscht, der von den Göttern gesegnet ist, kann ich nicht glauben, daß sie ihren Zorn an der Kirche auslassen.«

»Sieh dir diesen Mann an«, flüsterte Raistlin,»›gesegnet‹ von den Göttern.« Er ergriff Crysania mit seinen starken Armen und zwang sie, den Königspriester anzusehen.

Überwältigt von Schuldgefühlen, weil sie Zweifel gehegt hatte, und wütend auf sich, weil sie Raistlin erlaubt hatte, in ihr Inneres zu schauen, versuchte Crysania zornig, sich ihm zu entwinden, aber er hielt sie fest, seine Finger brannten auf ihrer Haut.

»Sieh!« wiederholte er. Er schüttelte sie leicht und brachte sie dazu, den Kopf zu heben, so daß sie in das Licht und den Glanz sehen konnte, von denen der Königspriester umgeben war.

Raistlin spürte, wie der Körper, den er hielt, zu beben begann, und er lächelte zufrieden. Sein mit der schwarzen Kapuze bedeckter Kopf näherte sich ihr, und er flüsterte ihr ins Ohr: »Was siehst du, Verehrte Tochter?«

Die einzige Antwort, die er erhielt, war ein Aufstöhnen.

Raistlins Lächeln vertiefte sich. »Sag es mir«, beharrte er.

»Einen Mann«, stammelte Crysania; ihr entsetzter Blick ruhte auf dem Königspriester. »Einen menschlichen Mann. Er sieht erschöpft aus und... verängstigt. Seine Haut ist grau, als ob er seit Tagen nicht mehr schliefe. Seine blauen Augen bewegen sich blitzschnell und voll Angst in alle Richtungen...« Plötzlich wurde ihr klar, was sie gesagt hatte. Sich der Nähe Raistlins bewußt, der Wärme des starken, muskulösen Körpers unter seinen weichen schwarzen Roben, befreite sich Crysania aus seinem Griff. »Welchen Zauber hast du auf mich geworfen?« herrschte sie ihn an.

»Keinen, Verehrte Tochter«, antwortete Raistlin ruhig. »Ich habe den Zauber gebrochen, den er in seiner Angst um sich gewoben hat. Es ist diese Angst, die sein Verderben herbeiführen und die Zerstörung dieser Welt verursachen wird.«

Crysania starrte Raistlin verstört an. Sie wünschte sich, daß er lüge. Aber dann erkannte sie, daß es bedeutungslos war. Sie konnte sich nicht länger selbst anlügen.

Verwirrt wandte sich Crysania ab und lief, von Tränen halbblind, aus der Empfangshalle.

Raistlin beobachtete sie, verspürte aber keine Befriedigung über seinen Sieg. Schließlich hatte er nichts anderes erwartet. Er setzte sich wieder ans Feuer, wählte eine Orange aus einer Fruchtschale aus, die auf einem Tisch stand, und schälte sie gelassen, während er nachdenklich in die Flammen starrte.

Noch eine andere Person hatte Crysanias Flucht aus der Empfangshalle verfolgt. Nun beobachtete sie Raistlin beim Essen der Orange.

Mit blassem Gesicht, dessen Ausdruck zwischen Wut und Angst wechselte, verließ Quarat die Empfangshalle und kehrte in sein Zimmer zurück, in dem er bis zum Morgengrauen aufund abschritt.

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